Irrenhaus in Hinterwald - Teil 2

Der Waldschrat

Und wieder hatte es sich begeben, und wie schon zuvor auch diesmal in irgendeinem Ort, in einem vielleicht nicht ganz so unbedeutenden wie bereits beschrieben, aber trotzdem letztlich irgendwo, vor nicht allzu langer Zeit, in einem altehrwürdigen, mit Ritterburg und so, jedoch aufstrebenden und ehrgeizigen Ort, wie eben alle Orte im Zeitalter des Wirtschaftswunders. Ein Gymnasium, wo nie zuvor eines gewesen war, spontan ins Leben gerufen, ohne genügend qualifizierte Lehrkräfte dafür zur Verfügung zu haben. Den wenigen, denen man es zutraute, das erforderliche Bildungsprogramm umzusetzen, fehlt zum Teil die entsprechende Ausbildung und manche darunter sind bloß Volks- oder Hauptschullehrer.
Sonst scheint alles wie überall. Und doch ist alles nicht wie überall. Nein, wohl einzigartig. Dreiundzwanzig Knaben, in irgendeinem Klassenzimmer. Man schreibt das Jahr 1969. Mathematikunterricht. Kreidestaub und der Geruch pubertierender Knaben liegen in der Luft. Ein hölzernes Dreieck und ein Tafelzirkel am Katheder.
Der Waldschrat steht hinter einem Schüler. Eine Textaufgabe, wie kann es anders sein? Der Schüler ist ratlos. Warum kannst du das nicht, du Idot?, empört sich der Waldschrat. Zu seinem eigenen Leidwesen und zum Gaudium der Schüler kann er kein „i“ in Kombination mit anderen Vokalen sprechen. Der Bursche zuckt mit den Schultern. Ja, ich weiß eh, weil du noch viel blöder und depperter bist wie (sic!) deine Schwester, schreit er. Waldschrat haben die Kriegsmatura schon und das Studium nicht beendet. Scho, nuschelt er, scho, das ist eine Art Verlegenheitswort, soll schlicht und einfach ja heißen, welches in jeden seiner Sätze einfließt: scho, jetzt haltet‘s einmal die Papp‘n und hört‘s zu.
Und er erzählt. Einen Film. Er erzählt den Film Rififi, denn es ist kurz vor Weihnachten. Da erzählt er in allen Klassen immer den Film Rififi, die Geschichte des eben entlassenen Strafgefangenen Tony, der zusammen mit der Bande eines alten Freundes einen gemeinsamen Geldschrankraub durchführt. Das Unternehmen gelingt, wobei alle Beteiligten in einer Auseinandersetzung mit einer konkurrierenden Bande ums Leben kommen. Man ist daran gewöhnt, wie er die Übeltaten der Verbrecher wie jene des saunftn Tony (der sanfte Anton) des rodn Edi (der rote Eduard) und von Schau (Jean) schildert. In der Klasse ist es totenstill. Die einen schlafen, die anderen amüsieren sich an seiner schrulligen Aussprache.
Die Schule ist in einem Zubau an einer anderen Schule untergebracht. An der Treppe zum ersten Stock fehlt noch das Treppengeländer. Die Gymnasiasten toben durch das Stiegenhaus. Waldschrat hat Gangaufsicht und ruft den Schülern nach, sie mögen doch langsamer gehen, sonst fällt noch einer hinunter und bricht sich das Genick, hinterher war’s dann wieder keiner, setzt er hinzu.
Nun, nicht bloß Mathematik, nein, auch Chemie ist sein Fach. Und wenn es die Zeit und seine Laune erlauben, zeigt er hin und wieder den einen oder anderen Versuch in der Klasse. Da es keinen eigenen Chemiesaal gibt, wird improvisiert. Immerhin verfügt der Klassenraum über ein funktionierendes Waschbecken. Der Waldschrat hantiert mit Kaliumpermanganat, oder wie er es nennt, Kalumpermaganat (sic!), Glycerin und Wasser. Die Klasse wartet gespannt auf die versprochene chemische Reaktion im Waschbecken.
Nichts tut sich. Da hält es einer der Schüler nicht mehr aus. Aus der letzten Reihe läuft er nach vorne, um, über das Becken gebeugt, Nachschau zu halten. Da geht es los. Zischend spritzt ihm die ätzende Flüssigkeit direkt ins Gesicht. Was für eine Aufregung! Der Waldschrat brüllt, du Idot, hab ich gesagt, du sollst dich da drüber beugen? Der Schüler schreit, ist im Gesicht verätzt und muss sofort zum Schularzt. Diese Geschichte gehört seit Jahren zum Standard seiner Erzählungen und sie klingt so: Scho, ich mach da neulich einen Versuch mit Kalumpermaganat (sic!) verstehst, und bevor das ganze Zeugs da in die Luft geht, lauft mir ein Idot aus der letzten Reihe nach vor und steckt seine Nasn da hinein, das Kaibl (dummes Kalb) das blede. Aus der letzten Reihe!

 

El Commandante

Turnstunde im nach Geschlechtern geteilten Turnsaal. Auf der einen Seite die Burschen, auf der anderen die Mädchen. Es ist immer noch neunzehnhundertneunundsechzig. Während die Mädchen ein kleines Volleyballfeld abgesteckt haben, marschieren die Burschen in Viererreihen im Gleichschritt, oh du schöööhener Westerwald anstimmend durch den Saal. Dicht gefolgt vom Commandante dahinter, mit einem Metallpfeifchen an einer Schnur. Tritt jemand nicht im Schritt, gibt’s eins auf den Hintern mit dem ständig im Kreis geschwungenen Trillerding. El Commandante kommandiert nach Herzenslust, das sieht man ihm an. Braungebrannter Endfünfziger mit starkem roten Einschlag im Gesicht und zahllosen kleinen rot-violetten Äderchen im Nasenbereich, Weltkriegsteilnehmer, Parteigenosse.
Da erscheint eine Kollegin. Weißt du nicht, dass das verboten ist, ruft sie für alle hörbar. Daraufhin lässt er Marsch und Lied abbrechen. Alle ans Reck. Man übt den Felgauf- und -abschwung. Schmerzende Kniekehlen gelten nicht als Ausrede. Stahlharte Burschen will er sehen, der Commandante, sogenannte Burschen aus Stahl, fügt er hinzu, und schlägt einem mit dem Handrücken hart auf die Brust. Die Mädchen schauen herüber, sehen die Knaben in ihren schwarzen schlotternden Turnhosen und lachen. Ruhe!
Irgendwann ist Schikurs. Die Jungs zünden sich am Schlepplift genüsslich eine Zigarette an und singen „Pulverschnee und Pistenwind“. Hier, in diesem Abschnitt des Waldes, kann sie unmöglich jemand dabei beobachten. Der Alte sollte oben bei seiner Gruppe sein oder mit ihr auf irgendeiner Piste abfahren. Doch El Commandante ist mittendrin ausgestiegen und wartet mit seinem Notizblock hinter einer mächtigen Fichte.
Es kommt, wie es kommen muss. Die Strafe lautet, zu Fuß, also ohne Lift, hochsteigen. Eineinhalb Stunden stapfen die Burschen die Lifttrasse entlang hinauf, bis sie, lange Zeit atemlos, von dort aus wieder mit den anderen abfahren dürfen. Ihr Pippen ihr, man sollte euch ungespitzt in die Erde schlagen, tobt El Commandante, einer seiner Leitsprüche, die man schon immer kennt.
In der Nacht wird auf den Zimmern Karten gespielt. Draußen, auf den Fensterbrettern, stehen Bierflaschen zwecks Kühlhaltung. Wer trinkt schon gerne warmes Bier? Gegen zweiundzwanzig Uhr ist Nachtruhe. El Commandante kommt persönlich gute Nacht sagen. Im Zimmer riecht es stark nach Zigarettenrauch. Alles auf den Gang. Liegestütz die ganze Bande. Ermattet steigt man ins Bett.
Am nächsten Tag, Halbzeit, also der dritte Tag. Man hat Ausgang am Nachmittag. Kein Schifahren, wegen der erhöhten Unfallgefahr. Die Jungs kommen in Damenbegleitung gegen achtzehn Uhr aus dem Gasthaus. Nachtmahlzeit. Durch den Hintereingang. Der ist sicherer. Doch autsch, da steht El Commandante. Atemkontrolle! Du, du und du, ihr meldet euch nachher bei mir. Einer hat längere Haare. Unser Mädchen, ätzt El Commandante. Der Junge verdreht die Augen. Langsam sollten sich die Alten dran gewöhnt haben. Schließlich ist das Flower-Power-Zeitalter angebrochen. Unter den Heimkehrern befinden sich auch einige Schülerinnen aus der Parallelklasse. El Commandante holt eine zu sich her, klopft ihr mit der rechten Hand auf die Brust und tätschelt daran herum. Dann sagt er, so so, da sieht man, dass sie langsam eine Frau wird.
El Commandante unterrichtet auch Geschichte. Wenn er die Klasse betritt, in Rollkragenpulli unter dem Sakko, lässt er die Klasse aufstehen und inspiziert sie ausgiebig. Setzen. Dann schlägt er das Klassenbuch auf und fragt einen, wo sind wir stehengeblieben? Keine Ahnung. Ein anderer meldet sich, bei den Römern. Der Commandante nimmt die Brille ab und sagt kryptisch, die Römer? Stille. Die Römer? Was war mit denen? Er sieht einen der Knaben an. Der zuckt die Achseln. Was soll schon mit den Römern gewesen sein?
In der Turnstunde wird schwimmen gegangen. Wer hat keine Schwimmsachen mit? Unser Mädchen, natürlich. Du zahlst fünf Schilling in die Kasse. In welche Kasse? In die Kasse für – El Commandante reißt sich die Brille von der Nase, frag nicht so blöd! schreit er, aber er weiß wohl selbst nicht genau, für welche.
In den Pausen steht man zu dritt in der engen Herrentoilette zusammen und raucht. Rauchschwaden steigen über die Köpfe der qualmenden Schüler. Man hat das leise Öffnen der WC-Türe nicht gehört, die Stimmung ist gut hier drinnen, trotz Androhung einer Schularbeit in der nächsten Stunde, das Lachen zu laut. Da erschallt El Commandantes Stimme: Ich gehe davon aus, dass hier niemand schwul ist, also nehme ich an, es wird geraucht. Alles heraus. Immer die Gleichen, sagt der Commandante.
Das bedeutet zwei Stunden Karzer. Danach kriegt man gerade noch den Abendbus nach Hause. Die Eltern werden sich schon Sorgen machen. Am kommenden Vormittag eilt die Sekretärin mit einem Schreiben durch die Gänge und verkündet in jedem Klassenzimmer lauthals die Botschaft: Die Raucher fühlen sich wieder sicher! Es wird darauf hingewiesen, dass jeder, der beim Rauchen erwischt wird, mit Karzer und einer Disziplinarstrafe zu rechnen hat.

 

Pater Quardian

Ein schmächtiger Mann in brauner Kutte. Schütteres helles, beinahe weißes Haar. Krankenkassenbrille. Sandalen ohne Socken, sogenannte Herrgottspatschen. Seine Taille umgürtet ein geflochtener heller Strick. Ein Meister seines Faches wie auch der lateinischen Spwache, pardon, Sprache. Der Glaube ist ein Geheimnis, sagt er immer. Twummer, zuw Pwüfung, sagt er salbungsvoll. Er kann aber kein „r“ sagen, der Knabe heißt Trummer. Was weißt du übew die Iswaeliten? Nichts. Der Bursche schweigt. Setzen, Nichtgenügend, haucht der Padre. Ein andewew. Er deutet auf einen Schüler in der letzten Reihe, einen mit langen Haaren und einem Milchbart. Ich lasse mich nicht prüfen.
Pater Quardian wird stutzig. Wieso nicht? Weil ich das nicht glaube. Wieso soll der Glaube ein Geheimnis sein? Wenn er nicht für alle da ist, ist es ein Unsinn, sagt er. Der Pater steht unmittelbar vorm Herzinfarkt. Er springt entsetzt auf und stottert, awawawa – dadada – ich – ich – ich hoffe, alle ham’s gehöwt?, und trägt ein Nichtgenügend in den Klassenkatalog ein. Jeder bekommt eine zweite Chance. Versuche, den aufmüpfigen Schüler erneut zu prüfen, beginnen meist bloß mit den Worten: Zahlt sich’s aus! Der Schüler schüttelt den Kopf. Fünf. Das gibt eine Mahnung am Semesterschluss.
Dann gibt es einmal eine Schülermesse in der Klosterkirche. Pater Quardian hat, wenn auch nicht sofort, seine Zusage zu diesem Spektakel gegeben, soll doch eine Rockband, bestehend aus Schülern des hiesigen Gymnasiums, zur Heiligen Messe aufspielen. Schon beim Soundcheck stürzt der Pater voll Entsetzen herbei.
Nein, unmöglich, unbedingt leiser drehen. Das Türchen des Tabernakels vibriert scheppernd vom E-Bass. Zur Kommunion spielt die Band Joshua fought the Battle of Jericho. Der Schlagzeuger landet einen besonders harten Schlag auf dem Becken, wobei es durch die Schwingungen aus der Verankerung gehoben wird. Laut scheppernd fällt es auf den Steinboden. Den Pater trifft beinah der Schlag. Er wird blass und blässer und scheint beinah in seiner goldenen Kutte versinken zu wollen.
Die Schüler lachen, und das in seiner Kirche!
Viele viele Jahre später schreibt der langhaarige Nichtsnutz ein Entschuldigungsschreiben an den bereits greisen Pater ins Altenheim, dass er alles, was er ihm je im Unterricht angetan hat, zutiefst bereut. Pater Quardian hat ihm gerührt verziehen, er könne sich aber leider gar nicht mehr daran erinnern. Auch schade.

 

Old McDonald

Englisch. Tatsächlich, ein Schotte. Gegen diesen Professor ist nichts zu sagen, nichts zu sagen! Gnadenlos gegenüber Ignoranten, ja, das ist er. Schularbeitshefte werden quer durch die Klasse fliegend zurückgegeben mit kurzen, aber prägnanten Worten, wie Nichtgenügend, oder: very short and primitive! Man ist in der siebten Klasse. Manche unter den Schülern sind starke Raucher. Einer hustet auffällig oft. Mac Donald fordert ihn mit einfühlsamen Worten auf wie: Hey, Mister Dingsda on the back seat, die at home and not in my lesson! Sein Weihnachtsprogramm läuft wie folgt ab: Er betritt die Klasse mit einer doppelläufigen, nein, doppelhalsigen Laute, Kontralaute oder so. Dann schwingt er sich auf den Katheder. Von dort oben weiß er gekonnt und mit äußerst eindrucksvoller Stimme schottisches Liedgut authentisch wiederzugeben. Ausnahmslos hören die Schüler dem Barden gebannt zu. So vergeht die Stunde, gottlob ohne unangenehme Fragereien nach der Hausübung, die man ohnehin nicht gemacht hat.

 

Der Dux

Latein. Eine zurechtgestutzte, schon leicht ergraute Fliege ziert das narbige Gesicht unter seiner Nase. Aufgrund widerborstigen Haarwuchses lässt sich kein Scheitel damit machen, schon gar keiner nach rechts. Es bleibt die Igelfrisur. Die Figur, eher zart, klein von Wuchs. Er ist schlank. Anzug stets in Grau. Und er riecht stark nach Tabak. Er zeigt ein Päckchen Smart her. Was steht da drauf? Einer liest umständlich. Semper et ubique. Was heißt das? Sie da vorne? Ratlosigkeit. Immer und überall, schreit der Dux und grinst selbstgefällig. Sein Bärtchen dehnt sich dabei etwas und zittert.
Amare, sagt er. Sie dort hinten. Konjugieren S‘, und stehn S‘ gefälligst auf, wenn S‘ mit mir reden, kommandiert er. Nehmen S‘ die Hände aus den Hosentaschen und lassen S‘ die Hände runterhängen, befiehlt er schroff. Der Schüler stammelt. Nehmen S‘ Haltung an. Hände an die Hosennaht. Wo kommt er her?, fragt er den Schüler in der dritten Person. Aus – der Schüler stammelt einen Ortsnamen. Das ist doch dort, wo sich Fuchs und Has’ gute Nacht sagen, richtig?
Der Schüler räuspert sich. Er will nicht widersprechen. Ja, sagt er kratzig, ohne sich geräuspert zu haben. Das Futurum will nicht so recht gelingen. Das Präsens erst recht nicht. A-a-amo, aaa-mas, stottert er, a-a-a- amariat! Ein gebräuchliches Schimpfwort im Süden dieses Bundeslandes. Möglicherweise ein Fluch, wer weiß. Was redet er denn für einen Schwachsinn?, fragt der Dux grantig und hilft ihm schließlich bei der Ableitung. So geht das. Hat er vielleicht schon einmal gehört von?, deutscht er. Bitte? Der Schüler ist verwirrt. Sollte das eine Frage gewesen sein? Setzen, befiehlt der Dux kopfschüttelnd.
Es ist Schularbeit. Darf ich mich schnäuzen, fragt einer vorsichtig. Nein, kommt nicht in Frage, reagiert der Dux unwirsch, lassen Sie’s runterrinnen. Womöglich haben Sie Ihr Taschentuch mit Vokabeln gespickt, fügt er an. Mit den Händen am Rücken zieht er seine Kreise durch die Bankreihen und lässt seine Blicke immer und immer wieder über jeden einzelnen Schüler gleiten. Im Übrigen, ich warne Sie, sehen Sie nicht zum Fenster hinaus, es könnte ein Hubschrauber draußen fliegen, der Ihnen die richtige Antwort sendet. Ihre Blicke sind ausschließlich auf Ihr Heft gerichtet, verstanden?
Man darf auch nicht auf die Toilette, dort könnte ein Freund versteckt sein, den man zuvor bestochen hat, der einem die richtige Übersetzung liefert. Also, geben Sie auf, niemand kann Ihnen helfen, erklärt er den Schülern ihre ausweglose Lage. Lediglich der Primus grinst selbstzufrieden vor sich hin und schreibt, als kriege er dafür bezahlt.

 

Der Net Woa

Ein alternder Volksschullehrer wird mit dem Biologieunterricht betraut. Hochgewachsen. Das schüttere Haar, auf der einen Seite lang gehalten und kunstvoll zum Scheitel formiert, will, über das gesamte Haupt gekämmt, auf den kahlen Stellen des weisen Hauptes partout nicht halten und fällt immer wieder zur Seite herab. Dort schreit es förmlich nach Bändigung. Und flugs wird ein Kamm gezogen, einem Pistolero gleich, und schon ist es wieder dort, wo es vorgesehen ist, um für kurze Zeit an Ort und Stelle zu verweilen.
Die lateinischen Namen haben es ihm angetan. Schließlich unterrichtet man jetzt im Gymnasium, und die Schüler sind nicht irgendwelche Lümmel, nein, sondern Studenten, zu denen man Sie sagen muss. Ganz anders, als in der Volksschule.
Da wären also einmal die Selachier, net woa, Selachii, sogn die Lateina, und er lacht hoch, hihihi. Die Queeermäuler. Dabei strapaziert er besonders das lange e. Einer der Schüler steckt seine Zeigefinger in den Mund und zieht ihn auseinander. Damit zeigt er sich den hinteren Bankreihen. Gelächter. Die sogenannten Plagiostomen, wiederum Plagiostomi, net woa? Die meisten gähnen. Einer hat ein Pornoheft. Im Nu sitzen acht Burschen um den herum. Was ist dort hinten los, net woa?, sondiert der Oberlehrer. Nur ein Biologiebuch, sagt einer. Ah so, aber seid‘s leise, net woa, bittet er sich aus. Die gehören in die Ordnung der Knorpelfische, net woa? Charakterisiert durch ein knorpeliges Skelett, net woa, den auf der Unterseite des Kopfes angebrachten Mund in Form einer weiten Querspalte – Lachen. Chinesinnen, schreit einer. Gebrüll. Vorne hat einer das Wort aufgefischt.
Die Klasse will sich nicht mehr beruhigen. Ich kann auch zum Direktor gehen, net woa, versucht der Net Woa Druck zu machen. Langsam wird es ruhiger. Die drübere Seite der Klasse blättert heftig im Pornoheft. Jetzt wart doch, du Trottel, blätter zurück, nicht so schnell. Bist du deppert, raunen zwei. Der Net Woa, neugierig geworden durch die Ansammlung in der letzten Reihe, ist aufgestanden und zieht mit beiden Ellenbogen seine Hose hoch, die der alte ausgeleierte Gürtel ohnehin nur recht und schlecht zu halten vermag.
Langsam geht er nach hinten. Weg weg, raunt einer. Das Heft verschwindet in der Bank. Alsdann, was hamma da, net woa? Wir sind schon fertig, Herr Professor, sagt einer. Wird auch gut sein, net woa, sagt der und geht wieder zum Katheder. Weiter. Durch sackförmige Kiemen, net woa, und noch viele minder hervortretende anatomische Merkmale, net woa – Mehr hat es nicht gebraucht. Die Klasse tobt. Jeder gibt sich seiner eigenen Fantasie über die sackförmigen Kiemen hin und versucht in schaustellerischer Manier das Objekt, so gut es geht, für die anderen in Mimik und Gestik darzustellen. Es muss auch a bissl ruhig sein, net woa, mahnt der Oberlehrer nun etwas lauter als vorhin, und will fortfahren. Ihre Haut, liest er aus dem Lehrbuch, net woa, ist mit kleinen Knochenkörnern – weiter kommt er nicht. Die Klasse ist außer Rand und Band. Der Oberlehrer steht auf. Holt die rutschende Hose wieder herauf in ihre vernünftige Position und kämmt die langen Strähne von der einen Seite auf die andere. Es hat den Anschein, als sei er auf einmal nicht mehr so ganz sicher, ob es nicht doch bloß Lümmel sind, und keine Studenten, net woa, und er droht erneut mit dem Direktor.

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno |Inventarnummer: 15133