Zwiespältig, sein Lächeln

Ein Tisch, irgendwo in Italien.

„Zu welch Unsinnigkeiten man sich doch hinreißen lässt, aus Gründen der Einsamkeit –!“

Was meinen Sitznachbar zu einem Lächeln veranlasst, Alessandro an seinem italienischen Stammtisch. Fahr fort, deutet still seine Handbewegung.

„– sogar deine Sprache versuche ich mühsam zu erlernen.“

Amüsiert hebt er nun die Augenbraue, dieser Alessandro, im Schweigen lässt er mich sterben.

„Du hast wohl nie das Bedürfnis verspürt, eine andere Sprache zu erlernen, Alessandro, nicht wahr?“

Zuviel Lärm und Aufruhr beherrscht mittlerweile unseren Tisch, als dass ich eine Antwort seinerseits verstehen könnte, eine Geste begleitet von seinem Lächeln beantwortet mir die Frage, seine Geste über den Tisch weisend, an dem ein einziges Kommen und Gehen herrscht, sei es eine verflossene Freundin oder eine Schwester dritten Grades, sei es der taube Opa aus Sizilien oder die Mailänder Tante mit dem unvermeidlichen Pinscher, immer Neues gilt es zu besprechen und zu beschwätzen, hier an diesem überlauten Tisch.

„Hätte ich dich doch nie erfunden, Alessandro“, murmle ich mich geschlagen gebend, den Kopf gesenkt vor mich hin: nicht dich, nicht diesen Tisch, nicht all diese Leute, zu wohlgelaunt, so nahe um mich. Und als hätte er meine Worte hören können, fasst Alessandro mich an der Schulter.

„Nicht doch, du hast mich nicht erfunden“, beschwichtigt mich sein Zuraunen in mein Ohr, „du hast nur etwas zu viel getrunken.“

„Vielleicht haben wir alle etwas zu viel getrunken“, entrinnt mir, als wollte ich diesem Abend zu vieler Willkür noch etwas Versöhnliches abringen.

Aber nun ist es entschwunden, das Lächeln aus Alessandros Gesicht, ernst und kalt seine zuvor noch so belustigten Augen. Entgangen ist mir die Bewegung im Augenwinkel, vielleicht ein angedeutetes Schnippen mit seinen Fingerspitzen, das den zuvor noch so bewegten Tisch schlagartig innehalten lässt. Still ist es mit einem Mal um uns, eingefroren die Gestalten zu Schemen, die Gesichter zu offenen Mündern erstarrt.

„Sieh dich um, Fremder“, durchschneidet Alessandros Stimme die gemäldehafte Stille, „sieh ihn dir an, diesen Kreis der ewig wiederkehrenden Leute, diesen Kreis der ewig kreisenden gleichen Worte, heute hat jemand geheiratet, und heute ist jemand gestorben, morgen jemand schwanger und morgen eine andere geschieden.“

Zurückgekehrt sein Lächeln, aber es hat nicht mehr die sanfte Subtilität von zuvor, süffisant gekräuselt sind seine Lippen jetzt.

„Und aus diesem Grund bist du der Erfundene, Fremder aus dem Norden. Als Gegengewicht zu all dem Inzest, der mich hier umgibt.“

Wach werde ich an dieser Stelle, nicht zu Missbrauch aus so nichtigen Beweggründen bereit. Zu sehr aus Fleisch und Blut fühle ich mich, als dass ich mich zu einem bloßen Gedankenspiel eines Alessandro erniedrigen zu lassen bereit wäre.

„Unmöglich!“ schreit es aus mir aus Protest, „Nur zu gut, in aller Deutlichkeit kann ich mich an die mühselige Fahrt über die Alpen hierher erinnern, an all die Hitze und den Schweiß. Unmöglich, dass du, Alessandro, der nie einen Schritt vor deine Stadt setzt, dies alles in mich hineinerfinden hättest können.“

Jetzt ruht seine Hand nicht mehr auf meiner Schulter, angewachsen an ihr scheint sie zu sein, so schwer lastet sie auf mir.

„Wo du doch mit allem Nachdruck von dir behauptest, nicht erfunden zu sein, wer bist du dann, Fremder mit dem unaussprechlichen Namen?“

Und so ziehe ich das mir selbst auf den Leib geschneiderte Manifest aus dem Gedächtnis, Wort für Wort, so wie ich es mir jenseits der Alpen steif vorübersetzt habe:

„Im wirklichen Leben arbeite ich als Softwareentwickler, beschäftige mich also mit virtuellen Sprachen, programmiert zwischen Mensch und Maschine. Im privaten, intimen, also virtuellen Leben widme ich mich der Literatur, also wirklichen Sprachen, gesprochen von Mensch zu Mensch.“

Und nun ist es spöttisch geworden, Alessandros Lächeln, widerlich spöttisch.

„Schön gesprochen, Fremder. Aber auf mich wirkst du, als wolltest du die beiden tauschen, dein reales Leben gegen dein virtuelles. Also doch nur alles erfunden?“

Und als hätte er alldem nichts mehr hinzuzufügen, setzt mit einem Mal der Trubel an diesem Tisch wieder ein, das lärmende Rauschen mit all seinem Geschnatter und Geschwafel, Gelächter und Prostest, hier ein anklagender Zeigefinger, dort eine entschuldigende Geste, rechts von mir der Griff nach der Weinflasche, links wird Brot gebrochen.

Verdammt fühle ich mich, einerseits dazu verdammt, jedes noch so sinnentleerte Wort an diesem Tisch verstehen zu wollen, und andererseits dazu verdammt, den Stummen abgeben zu müssen, nicht mächtig mit meinem hilfsbedürftigen Italienisch, in diesem reißenden Strom viel- und schnellgesprochener Worte mithalten zu können.

„E tu? Chi sei tu? Che fai tu?“

Und, wer willst du schon sein, Alessandro? Wie eine Anklage, wie eine Bedrohung fauche ich ihm dieses „fai“ verächtlich entgegen. Aber mittlerweile ist sie schon gekippt, die Sprache an diesem Tisch, Furlan vermag ich aus ihr herauszuhören, diesen mysteriösen rätoromanischen Dialekt, den niemand versteht, der nicht in ihm geboren ist, und der mich nun erst recht stumm und taub zurücklässt, mich erst recht dazu verdammt, den Fluss der Worte verständnislos an mir vorüberziehen zu lassen.

Zur vollen Stunde schlägt der Glockenturm nebenan, und es ist mir, als sei eine Schar Fledermäuse aus ihm hochgestoben, bereit zur nächtlichen Jagd, aber als ich meinen Blick zu Erden senke, ist der Spuk um mich vorbei, leergefegt der Tisch, an dem ich sitze, wie überhaupt alle Tische rund um mich.

Nur Paolo, der Schankwirt, steht im Türrahmen, und wahrscheinlich hat er mich schon seit geraumer Zeit im Blick, denn nun ist es an ihm, ein subtiles Lächeln auf den Lippen zu tragen.

„Piano, piano.“

Nur ruhig Blut, mein Freund, Paolos Worte, mit denen er auf mich zukommt und mir die Hand beruhigend auf die Schulter legt. Und dann reicht er mir die Rechnung – hoch ist sie, als hätte ich eine ganze Sippe zum Abendmahl geladen.

Harald Schoder
derewigreisende.net

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