Worte fallen mir in die Hand

Wieder einmal habe ich darauf vergessen, die Frucht rechtzeitig vom Baum zu pflücken. Nun fällt sie mir in die Hand, und während ich sie so betrachte, fleht sie mich an, ich möge sie zu Papier bringen. Um ein Haar wäre sie auf den Boden gefallen und verwest, allerlei Tierchen hätten sich daran gütlich getan und vielleicht wäre eines Tages aus ihrem ins Erdreich gelangten Erbgut ein neues Pflänzchen gewachsen, das ebenfalls irgendwann Früchte trägt. Dies geschieht aber nur mit einheimischen Früchten, die den regionalen Witterungsbedingungen angepasst sind. Meine Frucht scheint mir hingegen etwas exotisch zu sein. Ich glaube nicht, dass sie unter freiem Himmel gedeihen könnte, geschweige denn sich fortpflanzen. So halte ich sie bergend in der Hand wie in einer Obstschale und betrachte sie, als wäre sie mein Kind, das zur Unzeit gekommen ist. Fordernd schaut es mich an und drängelt. Es wetzt hin und her und wird mir lästig. „Ich habe mich in deine Hand begeben und nun weißt du nichts mit mir anzufangen? Aus dir stamme ich, aus den Windungen deines Gehirns, und ich will, dass du mich zu Papier bringst. Ich will Gestalt annehmen, verstehst du das nicht? Ich will mich zu Worten geformt vom weißen unschuldigen Blatt abheben. Das verlange ich von dir. Das bist du mir schuldig. Ich will Gestalt werden.“ Und plötzlich weiß ich, dass all die Gedanken auch gern Materie geworden wären, um über den Asphalt zu stöckeln und den Regen auf den Wangen zu spüren oder den Sonnenschein mit den offenen Haaren zu fangen. Aber das ist ihnen nicht zuteil geworden. Vieles kann hier nicht erscheinen. Das meiste schlummert im Verborgenen und dennoch ist es da. Zu reich ist die Schöpfung, zu viele Möglichkeiten stehen bereit.

Mir sind nun eben diese Worte in die Hand gefallen und ich schreibe sie auf.

Worte sind Geschöpfe, was sonst. Durch meine Beschäftigung mit den Worten habe ich begriffen, dass es neben der uns umgebenden Flora und Fauna, aus der wir Menschen all die sichtbaren Güter gestalten und bisweilen verunstalten, auch noch die Schöpfung in den Worten gibt. Sie offenbaren uns, sofern wir in der Lage sind, sie anzunehmen und in uns wirken zu lassen, wie sehr wir geliebt werden. Derjenige, der die Worte in unseren Schädel hineingelegt hat, kann nicht von uns lassen und wird nicht müde, uns auf unserem Weg zu geleiten.

Nun sind in meinem Kopf viele Worte, von Zeit zu Zeit wird es ihnen dort zu eng und sie drängen und schubsen und machen mir das Leben schwer, weil sie unbedingt heraus wollen und dann habe ich diesen kunterbunten Haufen vor mir und weiß nicht, wie beginnen, wie ordnen. Manchmal ist es sehr schwer, angespannte Ruhe in die unbekümmerten und unbedarften Wesen zu bringen. Sie sprudeln über vor Lebensgier, und es ist harte Arbeit, sie, nachdem sie sich ausgetobt und mir den Sinn verwirrt haben, zunächst in ihre Schranken zu weisen. Ich habe nun ihre zügellose Energie kennengelernt und will sie leiten, damit sie sich in der rechten Weise verbinden, zu Sätzen gruppieren und nicht allzu ungestüm und durcheinander ihre Geschichte erzählen. Ich muss immer erst einen Anfang finden. Das ist mitunter das Schwerste, weil natürlich alles miteinander verbunden ist. Das Geschick von jedem Einzelnen hängt mit dem anderer zusammen, oft reichen ferne Zeiten und Orte herein und erst wenn man sich recht in ein Schicksal vertieft hat, gehen einem gewissermaßen die Augen auf und man erkennt: Aha, so ist das also! Da gab es einmal einen Onkel, der vor vielen Jahrzehnten nach Amerika ausgewandert ist. Bei Nacht und Nebel musste er abhauen, weil er Dreck am Stecken hatte. Man hat sich seiner geschämt und nicht darüber gesprochen. Oder da gab es ein kleines Mädchen, das sich so sehr Rollschuhe gewünscht hatte und über diesem Wunsch fast verrückt geworden ist. Geweint und gebockt hat es, und auch ein paar Tage nichts gegessen, aber geholfen hat das alles nichts. Die Eltern haben es für richtig befunden, ihr zu lehren, mit Enttäuschungen umzugehen. Und so hat sie mit diesem ersten großen Schmerz durchs Leben gehen müssen. Später hat man sich über ihr Geflenne lustig gemacht und sie hat manchmal selber mitgelacht, obwohl ihr nicht danach war. Es ließe sich noch eine Unmenge derartiger Begebenheiten aufzählen. Etwas fängt an und nimmt ein jähes Ende, es kann aus den unterschiedlichsten Gründen nicht ausgelebt werden. Aber immer bleibt etwas zurück. Man erzählt es sich oder man erfährt auf rätselhafte Weise davon, und irgendwie ergibt sich plötzlich ein Zusammenhang zu einer anderen Begebenheit, und so entsteht ein Geflecht, das sich in seinen Beziehungen erhellt und eine Geschichte entsteht.

Kein Mensch existiert isoliert. Jeder hat seine Erbanlagen, ist eingebunden in eine Familiengeschichte, die er oft nicht einmal kennt, weil sie ihm bewusst oder unbewusst verschwiegen wird. Trotzdem spürt jeder, dass da etwas ist, das auf ihn einwirkt, und er wird sich auf die Suche nach diesem Etwas begeben. Findet er eine Spur, so macht ihn das glücklich oder es verschafft ihm zumindest Erleichterung. Bleibt sein Bemühen ergebnislos, so führt das zu Enttäuschung und Rastlosigkeit. Man weiß um das Fehlen und sehnt sich nach dem Ganzwerden.

Ich habe von klein auf alles, was erzählt worden ist, wie ein Schwamm aufgesogen. Es gab immer irgendein Detail, das mich gerührt hat, sei es nun freudiger oder tragischer Natur. So hat die alte Tante mit dem schönen gepflegten Gesicht davon gesprochen, ihr Buckel und ihre untersetzte Gestalt rührten daher, dass ihre unglückliche Mutter sie abzutreiben versucht hat. Hochbetagt und kinderlos ist die Tante mit diesem Wissen gestorben. Die Wohnung, in der sie gut fünfzig Jahre zur Miete lebte, hatte sie, laut ihrer nicht ohne Stolz vorgebrachten Aussage, nur dem Umstand zu verdanken, dass sich die Vormieter das Leben genommen hatten. Den Gasherd haben sie aufgedreht, während sie am Tisch sitzend Schweinebraten mit Knödel und Sauerbraten verzehrten. So ist der Tod zu den beiden gekommen. Meine Tante war dabei, als man später die Tür aufbrach, und da aufgrund dieser Begebenheit niemand einziehen hat wollen, ist sie günstig an eine schöne Wohnung gekommen.

Was mache ich nun mit all diesen Geschichten? Täglich kommen neue dazu. Ich sammle sie in meinem Kopf und in Notizbüchern. Immer deutlicher erkenne ich, dass all das auch mit mir zu tun hat, ob es mir nun passt oder nicht.

Warum sonst hätte mir vor Jahren einer meiner Lehrer erzählt, er habe beim Fußballspielen immer im Tor gestanden. Die Mannschaft sei nicht die stärkste gewesen, Theologiestudenten halt, so habe er immer eine  Zigarette geraucht und das Spiel konzentriert beobachtet. Kam es zum Angriff, legte er die Zigarette über sich auf den Querbalken und nahm die Abwehrposition ein. Einmal traf der Ball mit Wucht die Latte. Durch die Erschütterung rutschte die glühende Zigarette ab, fiel auf den erstarrt dastehenden Tormann und fand ihren Weg geräuschlos durch den Halsausschnitt unters Trikot.

Rufe ich mir diese Situation wieder ins Gedächtnis, so muss ich schmunzeln.

Manchmal geht es mir auch so, dass ich mir wünsche, das was andere mir erzählen, gern selbst erlebt zu haben. Ich denke, das Schicksal verwöhnt manch einen und lässt ihm solch großartige Erlebnisse zuteilwerden, und nahezu gleichzeitig fühle ich mit jemand anderem, der besonders Schlimmes mitgemacht hat. All das gelangt zu mir. Ich höre davon, beobachte es, erlebe es selbst und so entsteht daraus etwas Neues. Knoten und Perlen wechseln sich auf dem seidenen Faden ab, und die kostbare Kette wird aufgefädelt. Sie ist das Leben, das in seltsamen Windungen verläuft, einem Schneckenhaus nicht unähnlich, und wenn die Schnecke es verlassen hat, dann bleibt es immer noch, und wer das Leben kennt, der hat seine Freude daran, dem allen nachzuspüren, weil er sich selber darin findet.

Claudia Kellnhofer
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