Die Krise 4 - Der Reiz des Geldes

Es ging um einen Arbeiter in Escortins Kieswerk. Man fand heraus, dass jener keine Aufenthaltsbewilligung hatte. Peinlich für Escortin. In Fällen illegaler Beschäftigung wurde hart gestraft. Escortin nahm es gelassen. Man werde sich darum kümmern, versicherte er dem Beamten, dass jener einen Antrag für seinen Aufenthalt hier stellte, dann wäre vorläufig einmal wieder alles im Reinen. Das wäre immer das Gleiche mit den Ausländern, ätzte seine Gattin Anica völlig aufgebracht und blitzte giftig aus ihren Sehschlitzen heraus. Erst geben sie sich als jemand anderer aus, sind im Krankenstand einmal der Mehmed X, vor der Behörde dann wieder der Ali B. Und wer hätte das Nachsehen und die Probleme? Wir!, gab sie sich selbst die Antwort. Die tanzten einem ja doch bloß auf der Nase rum!
Man kriege keine anderen, brummte Escortin grantig und sah von seiner Zeitung kaum dabei auf. Und wenn es schon ein Einheimischer sein müsse, dann wäre der schließlich um einiges teurer als ein Dahergelaufener. Bei den Baggerfahrern sei er ohnehin Patriot. Aber Hilfsarbeiter brauchten nicht so teuer zu sein. Schließlich wolle man selbst auch noch was von dem Kuchen haben. Und einen Unterschied wird´s ja wohl noch geben dürfen, net woa? Wo käme man denn schließlich da noch hin, wenn´s keinen Unterschied mehr gäbe?

Damit schien die Debatte zwischen Anica Escortin und ihrem Gatten erledigt. Sie ging ins Badezimmer, wo sie sich eine Zeit lang aufhielt, um sich zu schminken. Er brütete über seiner Zeitung. Aber Escortin war zu unkonzentriert, um zu lesen. Er musste vielmehr an seine Geschäfte denken. Vor allem aber auch an den Erwerb des neuen Gemeindegrundstückes und die damit verbundene Parteispende, über deren Höhe er sich im Nachhinein dann doch noch geärgert hatte. Unverschämt, dieser Mirando! Und er ärgerte sich über Rembert Mirando, jenen Polit-Parvenü, der noch nie etwas Herzeigbares geleistet hatte und dessen Mundwerk größer war als seine Taten. Und solche Leut´ würden hier bei uns Politik machen, murmelte er vor sich hin.
Natürlich, da war auch noch der Bürgermeister. Bei der Jagd waren Escortin und er die besten Freunde. Aber wenn es um Grund und Boden ging, konnte es zwischen den beiden Männern schon einmal ungemütlich knistern. Mit dem Bürgermeister konnte man über beinahe alles reden, nur nicht über Grunderwerb. Und schon gar nicht, wenn es um die Ausweitung der escortin’schen Schotterpfründe ging. Die meisten Grundstücke waren Bauernland, und die Bauern legten sich schon aus Prinzip quer, wenn der Bürgermeister von ihnen ein Stück Grund brauchte, um da und dort ein Wasserreservoir oder sonst was zu errichten, oder, wie schon so oft, Escortins Schottergruben vergrößern zu helfen.
Doch eine Hand wusch die andere, und diese Maxime war ihnen im Laufe der Jahre zum Prinzip geworden. Aufgrund dieser Tatsache war der Bürgermeister nichts anderes als ein Handlanger Escortins geworden. Und Escortin wollte mehr. Vor allem aber war es seine Gattin, die immer mehr wollte.

Anica Escortin fuhr in ihrem Wagen zum Shoppen. Was hätte sie an so einem langweiligen Tag auch Besseres tun sollen? In der Nähe des Ortes gab es ein großflächiges Outlet, in dem man sich stunden-, ja tagelang aufhalten konnte. Und im Shoppen war sie eine Meisterin. Fünfzig Paar High-Heels, und ebenso viele Taschen. Das sollte ihr einmal jemand nachmachen! Wenn sie einmal die Einsamkeit plagte, setzte sie sich in eine Konditorei oder ein Kaffeehaus, um dort irgendwelche Leute anzuschwatzen und sie davon zu überzeugen, wie sympathisch sie doch eigentlich sei, trotz ihrer schlitzäugigen Visage.
Das tat sie immer, wenn ihr das Selbstbewusstsein auszugehen drohte oder sie ihre Periode hatte, während der sie oft häufig unter heftigen Gefühlsschwankungen litt. Im Verlauf solcher Gespräche wurde sie natürlich gefragt, wer sie sei und woher sie käme. Und Anica Escortin war eine Frau, die gerne konkrete Antworten gab. Sehr konkrete. Dabei ließ sie kaum ein Fettnäpfchen aus, in das sie treten konnte. Wenn man nicht ständig über sich spreche, meinte sie, würden einem eben auch keine Fehler passieren, und dann lachte sie meckernd. Aber es machte ihr nichts aus, wenn man sie hier und dort nicht ganz ernst nahm, sie hatte schließlich nichts zu verlieren.
Auf der Suche nach einem passenden Schal für ihr neues rosa Kostüm waren ihre Gedanken auf Rembert Mirando gekommen. Sie griff nach ihrem Handy und wählte seine Nummer. Rembert Mirando! Was für ein Zufall, dass sie mit einem so gutaussehenden jungen Mann wie ihm ein Verhältnis haben konnte. Dabei kniff sie ihre Sehscharten kühn zusammen.

Mirando, der eben zu diesem Zeitpunkt in einer außerordentlichen Gemeinderatssitzung völlig unbewusst an seinen ureigensten Charaktereigenschaften arbeitete, nämlich andere vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was man von ihm so allgemein hielt. Kraft seiner neuen Funktion nahm er für sich in Anspruch, nun einer jener Menschen sein zu dürfen, die sich im Besitz ausgeprägter Tugenden wie auch moralischer Überzeugungen wähnten. Schließlich wurde das von einem erwartet. Und doch blieb es Faktum, sodass man unschwer über ihn hätte sagen dürfen, sein Privatleben, seine Handlungen, Meinungen oder Aussagen widersprächen seinen öffentlichen Äußerungen zutiefst.
Mirando griff zum Handy, als es nun doch schon etwas zu lange geläutet hatte. Früher hätte er es während einer Sitzung abgeschaltet. Aber jetzt, wo er mit einem Male so wichtig geworden war, führte er es mit jener gelangweilten Genugtuung ans Ohr, die signalisieren sollte, wie störend dieser Anruf eigentlich sei, aber man einfach nichts dagegen machen konnte. Ob er für heute Nachmittag frei wäre, flötete Anica Escortin mit Jubelstimme.
Mirando tat vorerst auf „man wüsste nicht, was heute noch auf ihn zukommen würde“. Schließlich war seine Mission erfüllt. Die Gemeinde hatte das Geld. Wozu also brauchte er die Escortin mit ihren Säulenbeinen eigentlich noch, wo es doch wesentlich attraktivere Frauen in seiner nächsten Umgebung gab, ohne Zellulitis und der rieselig bleichen Oberfläche eines kalt gewordenen Grießkochs, die er alle haben konnte, wenn er es nur gewollt hätte. Jedoch auf ihr Drängen gab er sich schließlich doch einen Ruck und stimmte einem kurzen Treffen in der Scheer-Bar zu.
Was hatte er dabei zu verlieren? Anica Escortin war entzückt über die plötzliche Fügung des Schicksals und versah ihn mit Handyküssen. Rembert Mirando hielt die Hand auf den Lautsprecher, um Anica Escortins Schmatzen zu dämpfen. Gleichzeitig fielen seine Blicke auf die Tageszeitung vor ihm auf dem Konferenztisch, da die Sitzung ohnehin schon ins Private entglitten war.
Eine Handvoll vermummter, offensichtlich schwachsinniger Jung-Neos (keine Ähnlichkeiten mit einer bestimmten politischen Partei) hatten ausländische Besucher einer Gedenkstätte mit rüpelhaften Rufen attackiert. Man sollte die Jungen doch lassen, hatte einer der Gemeindegranden vorhin gesagt, sie hätten ein natürliches Gefühl für Gerechtigkeit. Und irgendwer müsste so eine Dreckarbeit wohl auch machen, damit die Erinnerung daran, wer denn nun eigentlich die Guten und wer die Bösen waren, nicht zu sehr verblasste.
Mirando schob seine Lippen nach vorne, um ihm den Blick auf den an seinem Sakko befestigten Button mit dem Landeswappen zu erleichtern, auf den er sehr stolz war. Man hatte es, quasi auf dem Postweg, allen Gemeindebediensteten verliehen, mit einem Begleitschreiben, in dem es hieß, wer stolz auf sein Land und seine Position in der Verwaltung wäre, sollte diesen Button aus Solidarität mit der Regierung an der Kleidung anbringen. Mirando hob wieder den Kopf und brachte seine Lippen in geordnete Normalstellung. Der Bürgermeister war bereits aufgestanden, die Sitzung beendet. Hände wurden geschüttelt.

Mirando eilte die Treppen des Rathauses hinunter, riss die schwere, gusseiserne Eingangstür auf und eilte über den Platz in die Café-Bar Scheer, auf der gegenüberliegenden Seite des Rathauses. Anica Escortin war noch nicht hier. Mirando warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr, dann sah er aus dem Fenster auf die große Rathausuhr. Er überlegte fieberhaft. Nur wenige Schritte trennten ihn von Stefanie Raymundos Geschenkboutique. Sollte er ihr einen kurzen Besuch abstatten, bevor die Escortin hier hereinkam? Rasch kehrte er der Scheer-Bar den Rücken, als er auch schon im Geschäft Raymundos stand.

Die Türglocke war nicht zu überhören gewesen, jedoch niemand außer ihm war hier. Er rief einmal laut ihren Namen. Nichts rührte sich, als die Eingangstüre eben heftig aufgestoßen wurde und sie in der Türe stand, Stefanie, in voller Schönheit und Elegance. Sofort machte ihr Mirando ein paar übertriebene Komplimente, die sie aufs Heftigste zurückwies. Auch, wie sehr ihre engen Jeans die Figur betonen würden, und zu welchen Vorstellungen der gewagte Ausschnitt ihrer Bluse seine Fantasie beflügelte. Stefanie lachte bloß und warf den Kopf in den Nacken. Aber so gleichgültig war ihr gar nicht, was Mirando da vor sich herlaberte. Sie sah ihn von der Seite an.
Mirando schlenderte zwischen den Regalen herum und betrachtete indes scheinbar interessiert die unnötigen Nippes-Sachen, die dort überall auf den Regalen herumstanden. Stefanie ging zur Eingangstür. Sie war sich ziemlich sicher, dass Mirando nichts kaufen wollte und lehnte sich an diese, schloss mit der rechten Hand hinter ihrem Rücken von innen ab und eilte auf ihn zu. Mirando hatte zu schlucken begonnen, seine Kehle war ausgetrocknet wie eine Zisterne in der Wüste Gobi.
Sie umarmte ihn stürmisch. Er erwiderte ihre Umarmung und fasste sie unmittelbar darauf mit beiden Händen an ihrem ziemlich harten Hintern. Mit starkem Druck presste er ihr Becken an seines, an dem sich bereits eine ziemliche Beule abzuzeichnen begonnen hatte. Stefanie stöhnte leise in Erwartung, was denn nun kommen würde. Mirando schob sie vor sich her hinter das Verkaufspult und von dort hinter den Vorhang einer Umkleidekabine, die sich hier befand, obwohl es keine Kleidung zu kaufen gab. Seine Hand tastete nach dem Vorhang, hinter dem sie Schutz für ihr Treiben suchend verschwunden waren, und zog ihn völlig zu.

Inzwischen war Anica Escortin in der Scheer-Bar eingetroffen und kontrollierte ebenso nervös wie Rembert Mirando vorhin die Zeit auf ihrer goldenen Armbanduhr. Barkeeper Ferry deutete wortlos mit dem Kopf in Richtung Raymundos Boutique. Er sei eh schon da gewesen, aber jetzt sei er da drüben. Anica Escortin bestellte einen kleinen Braunen. Ihre kurzen, fetten, weißen Finger trommelten ohne Unterlass auf die Glasplatte des kleinen runden Tischchens vor ihr. Ihr hohler Blick, nach draußen auf den leeren Platz gerichtet, verriet, dass sie sich ärgerte.
Nach einer Viertelstunde betrat Mirando atemlos das Lokal und gab sich übertrieben überrascht, Anica Escortin jetzt schon vorzufinden. Das konnte er wirklich überzeugend. Sie feuerte giftige Blitze aus engen Sehöffnungen gegen ihn. Ob er nicht wüsste, wie spät es wäre? Doch, schon, aber … Sie schnitt ihm das Wort ab und begann zuckersüß zu lächeln. Rembert war verunsichert. Ob sie was ahnte? Was denn nun mit dem Hausbau sei?, fragte er rasch, um abzulenken. Das habe Zeit, meinte die Escortin gähnend, schließlich sei man ja nicht obdachlos. Und sie lachte scheppernd. Ob er nicht kurz Zeit habe für sie?
Rembert Mirando litt noch von vorhin an einem starken Brennen zwischen seinen Beinen und konnte sich alles vorstellen, alles, nur das jetzt nicht! Er habe noch einen dringenden Weg, flüchtete er sich in eine Ausrede. Sie sagte, er solle sich genau überlegen, ob es nicht besser sei, anders zu disponieren, man wisse schließlich nicht, ob man sich nicht noch gegenseitig brauchen werde. Dieser Satz machte ihn nachdenklich und er überlegte die Möglichkeit, wenn er eine gehörige Portion Vaseline auftrüge, ihrem Drängen besser nachzukommen, denn wer wüsste wirklich schon, wozu es gut sein würde? Mirando, der noch immer eine trockene Kehle hatte, hatte noch nichts bestellt, als Anica Escortin ihren Kaffee bezahlte und aufstand, um zu gehen.

Gegenüber aber, in der kleinen Boutique von Stefanie Raymundo, wurde heftig diskutiert. Es wurde gesagt, eine Person, die vorgab, über diverse Tugenden, fundierte moralische oder religiöse Überzeugungen sowie unumstößliche Grundsätze zu verfügen, Eigenschaften also, die sie in Wirklichkeit nicht besaß, seien bloß eine Maske, um vorzutäuschen, sie selbst sei so eine Person also, deren Handlungen ihrer Überzeugung jedoch widersprächen. Und eine solche Person wäre ganz einfach ein Hypokrit, ein Heuchler.
Mit dieser Erklärung versuchte Eva Vanin verzweifelt, ihrer intimsten Freundin Stefanie Raymundo klarzumachen, was für einer dieser Rembert Mirando wäre. Und Stefanie stand da, in ihrer Wohnküche in ihrem kleinen Laden, mit gesenktem Kopf, und rauchte eine Zigarette nach der anderen, während Eva langsam und umständlich den obersten Knopf ihrer Jeans aus seinem Knopfloch zu lösen begonnen hatte.
Im Gegensatz zu Mirando wäre sogar ein Paul Pedasoli zu ertragen, den sie, wenn auch ungern, hin und wieder an der Seite Stefanies gerade noch duldete.
Inzwischen hatte Rembert Mirando, seit dem erfolgreichen Coup mit Escortin und dem Grundstücksdeal sowie der Parteispende an die führende Partei der Gemeinde, seinen Karriere-Claim ein wenig weiter abgesteckt. Als er herausgefunden hatte, dass das Geld einmal erst auf einem Privatkonto zwischengelagert werden sollte, hatte er sich großzügig dafür zur Verfügung gestellt, auch auf die Gefahr hin, dass diese plötzliche und noch dazu so ungewöhnlich hohe Summe auf seinem eigenen Konto zu einer außerordentlichen Prüfung durch die Finanzbehörde führen könnte. Mirando wähnte sich in Sicherheit. Vor allem aber dachte er an die anfallenden Zinsen, die er, ohne mit der Wimper zu zucken, für sich in Anspruch zu nehmen gedachte, als kleine Entschädigung für seine Dienstleistung quasi. Und schließlich, würde er ja auch noch Mandatar, wäre er politisch immun und geschützt vor ungerechtfertigten Schnüffeleien seitens der Behörden, wie er sich zusammenreimte. Vielleicht könnte er es schaffen, das Geld ein Jahr lang auf seinem Konto zu belassen, erst dann würde man weitersehen. Je länger, desto mehr würde er davon profitieren. Und die Wahl lag noch in weiter Ferne, wie auch die Begleichung der Rechnungen für Plakate, Werbung und was sonst noch alles dazugehörte, wohl noch länger. Schließlich müsste man auch nicht sofort bezahlen. Also könnte er gar noch über ein zweites Jahr an dieser Summe partizipieren, bis zur Umbuchung eben.
Von dem Zeitpunkt an, an dem Mirando Escortins Parteispende auf seinem Konto wusste, ging er täglich zur Bank, um den unglaublichen Kontostand am Bankomaten abzulesen. Oftmals stand er sogar des Nachts zu diesem Zweck auf, und schlich unbemerkt in die Bankfiliale, um sich zu vergewissern, dass er nicht geträumt hatte. Dieses Geld war gewissermaßen sein Baby, und er wachte darüber, ob es auch ordentlich schlief. Seine Frau hingegen wusste von alldem nichts. Alles geschah heimlich. Dadurch ungemein beruhigt, manifestierte sich in ihm die Vorstellung, sich von diesem Geld unter keinen Umständen mehr trennen zu wollen. Ja, er hatte es richtig zu lieben begonnen, und überlegte fieberhaft, wie er es durch komplizierte Transaktionen auch in Zukunft würde behalten können.

Dieser Tage hatte er sich wenig um Anica Escortin gekümmert und war auch nicht bei Stefanie Raymundo gewesen, so sehr vereinnahmte ihn seine neue Aufgabe, sich seinem unerwarteten Reichtum zu widmen. Geld, dachte er, wäre ihm noch wichtiger als Frauen. Und er schloss leise die Tür zum Sekretariat wegen der permanenten Ablenkung, Fräulein Mileva nicht ständig unter den Rock schauen zu müssen, wenn sie mit leicht geöffneten Beinen hinter ihrem Schreibtisch saß.
Jeden anderen hätte das Gewissen geplagt. Aber nicht einen Rembert Mirando! Man hätte ihn allein wegen seiner Absichten schon als Wirtschaftskriminellen abtun können, etwa wegen Verdachts der Geldwäsche oder der Bestechung. Man würde sagen, er hätte Millionen bekommen und unterschlagen, aus Schmiergeldern oder Parteienfinanzierung oder untitulierten Zahlungen an Dritte. Man hätte ihm vorwerfen können, er, der Verdächtige, habe gefälschte Belege vorgelegt, was zur Festnahme geführt habe, vielleicht wegen Verdunkelungsgefahr und wegen weiterer Tatbegehungsgefahr? Das Geld sollte möglicherweise in höchst dubiose Geschäfte geflossen sein, die mit der ursprünglichen Bestimmung gar nichts zu tun gehabt hätten?
Man musste schon ein ausgekochter Bursche sein, um sich nicht von einem mehr als lästigen Gewissen dreinpfuschen zu lassen. Und Mirando ließ sich nicht dreinpfuschen. Mehr noch. Er betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er einer sei, der nicht gleich den Schwanz einziehen, sondern Stehvermögen beweisen würde, wenn einmal etwas schiefging. Er wäre keiner, der gleich zurücktreten würde. Schließlich hatte man ihn hereingeholt, um sein Können unter Beweis zu stellen. Er könne seine Förderer und Gönner schließlich doch nicht mit einem Rücktritt vor den Kopf stoßen?

In dieser Situation empfand er es als ungeheuren Vorteil, sich in einem geschützten Bereich verbergen zu können. Einem Bereich, der ihn vor den Blicken der Neider und Intriganten bewahrte. Seine nunmehrige Stellung erlaubte ihm die nötige Deckung, hinter der man ungestört agieren konnte. Man musste bloß unauffällig genug sein, nur nicht auffallen war seine Devise. Die Öffentlichkeit täuschen, uninformiert zu lassen, sie nur mit Worthülsen bedienen, ihr gerade das Notwendigste mitteilen, so wie es alle immer schon gemacht hatten. Und Rembert Mirando kostete diese Situation genussvoll aus.
Einer Beschwerde über einen Mitarbeiter aus den unteren eigenen Reihen begegnete er derart, dass er diesen zu sich rufen ließ, ihn eine halbe Stunde vor seinem Büro warten ließ, um vorerst ein privates Telefonat zu erledigen, um ihn dann vor dem Personalchef nach allen Regeln der Kunst zur Sau zu machen. Was er denn schon sei. Arbeitnehmer. Und also solcher ohnehin bloß Bittsteller. Ferner sprach er eine Verwarnung aus, dessen Dienstvertrag bei nächster Gelegenheit kürzen zu lassen, eine Bedrohung, die angesichts der prekären Wirtschaftslage und Arbeitsmarktsituation mehr als eine gefährliche Drohung war.
Das sprach sich rasch herum in der Gemeinde und die Leute hatten Angst vor Mirando, Angst vor seinem Einfluss, und auch vor dem Bisschen Macht, das er repräsentierte. Im Laufe der Wochen und Monate wurden Mirandos Anzüge immer schwärzer, straffer, strenger. Sein Gang immer steifer, der Klang seiner mit Metall beschlagenen Absätze beim Gehen immer lauter. Ansuchen, die über sein Büro liefen, blieben immer länger liegen oder wurden negativ beschieden.
Einmal bat eine Mitarbeiterin um einen Gehaltsvorschuss. Schließlich war die Krise bis in alle sozialen Schichten vorgedrungen und viele hatten bereits nicht mehr das notwendige Geld für die Dinge des täglichen Gebrauchs. Was sie sich einbilde!, entgegnete ihr Mirando forsch. In Zeiten wie diesen gäbe es für niemanden einen Gehaltsvorschuss!, donnerte er. Sie sollte sich doch umhören. Selbst die Banken würden die Kreditklemme nur schwer lösen wollen. Man wusste schließlich nicht, was kommen würde. Und überdies müsse sie es hinnehmen wie andere auch, dass die Gemeinde kein Kreditinstitut sei. Sie erwiderte, das Verhalten ihrer Hausbank habe sich ihr gegenüber seit der Krise zum Schlechteren gewandt.
Da lachte Mirando nur und meinte, dann müsse sie eben den Gürtel enger schnallen. Sie alle, auch er, müssten das. Und das sei nichts Außergewöhnliches, fügte er hinzu und wies sie an, die Türe seines Büros von außen zu schließen.

Der Glaube der Bürger an das tatsächliche Vermögen einer funktionierenden Kommunalpolitik schien unerschütterlich, wenngleich man sich in Zwicklingsau bewusst war, oder Hintertupfing, richtig, was sich gleich blieb, dass die großen Dinge dieser Welt ohnehin nur global oder EU-weit erfüllt werden konnten. Umso mehr setzte man auf die Hoffnung lokalpolitischer Potenz, mit der in gewissen Bereichen noch dies und das erreicht werden könnte, was im großen Rahmen der Zulässigkeiten sonst nicht möglich gewesen wäre.
Nach einer eingehenden Analyse der kleinbürgerlichen Seele dieses Ortes konnte man aber feststellen, dass sich allgemein sehr starke Gegenreaktionen gegen den Fortschritt abzeichneten. Dies zeigte sich in der Permanenz der Ablehnung um die Neugestaltung des Hauptplatzes ebenso wie im trotzigen Beharren gegenüber jeder Art von innerer Veränderung und manifestierte sich in pathologischen Ängsten vor dem Neuen, dem Unbekannten, dem Fremden. Immer dann aber, wenn vom langsamen aber sicher abbröckelnden Glanz längst vergangener Ehren die Rede war, setzte sich auf den unhörbaren Einsatz hin ein hervorragend eingeübter Chor kollektiver Verdrängung in Gang, einem Sangeswettbewerb gleich, als ob es darum ginge, die glücklosen Taten irritierter Väter und Väterväter vor einem unsichtbaren Tribunal immer wieder aufs Neue bejubeln zu müssen.
Die Rede ist von jenen Ehren, von denen man besser schweigen sollte, weil sie, von Blut besudelt und durch Diebstahl erworben, nicht mit denen in fairen Wettbewerben erkämpften zu vergleichen sind. Am meisten aber fürchtete man den das Leben so unflätig verachtenden Tod, der Tag und Nacht dazu imstande war, die schrecklichsten Bilder in den Köpfen der vorwiegend daseinsorientierten Zwicklingsauer (oder Hintertupfinger) entstehen zu lassen. Die unumstößliche Tatsache, nichts davon mitnehmen zu können, was man zu Lebzeiten mühsam erworben hatte und vor den neidvollen Blicken anderer zu verbergen suchte. Der Tod hatte daher, ganz abgesehen von seiner Endgültigkeit, auch etwas Entmündigendes und Enteignendes an sich.
Umso mehr ließen sich die Zwicklingsauer (wie auch die Hintertupfinger) nicht davon abhalten, wenigstens im Diesseits dynamisch, ehrgeizig und konsequent zu sein, wie es auch zum guten Ton gehörte, unbequeme Entscheidungen treffen zu müssen, natürlich für andere, versteht sich. Man durfte kein Intrigant sein, zumindest nicht nach außen, und musste wissen, woran man mit jemandem war, um sich dort, wo es die Notwendigkeit verlangte, mit den Lorbeeren anderer zu schmücken.

Eines Tages luden der Bürgermeister und die Honoratioren der Stadt zu einem Fest im Garten des Bürgermeisters. Jeder im Ort war eingeladen. Aber nur wenige kamen, weil sie wussten, dass sie unerwünscht gewesen wären. Also blieb man unter sich. Rembert Mirando hatte sich mit einigen Kanzleileitern und Wichtigen aus dem Finanzressort an einem von der Gattin des Bürgermeisters liebevoll dekorierten Gartentisch verbarrikadiert.
Hin und wieder verirrten sich ein paar verschreckte Gäste dorthin in der Meinung, sich an diesem Tisch zuallererst vorstellen zu müssen, und traten, völlig verstört, unverzüglich den Rückzug an, nachdem sie feststellen mussten, dass niemand hier ihre artig entgegengereichten Hände schütteln wollte, und jene, die eben erst Angekommenen, nicht nur keines Blickes würdigten, sondern sich in ihren Gesprächen durch lästiges Begrüßen auch nicht stören lassen wollten.
Zumindest aber Mirando holte eine ausstehende Begrüßung erst viel später durch ein „Ach, Sie wären auch da“ nach, aber auch nur, weil es sich dabei um einen kleinen Angestellten mit seiner äußerst attraktiven Gattin im Schlepptau handelte, die ihn irgendwann einmal im Amt besonders nett und ehrfürchtig gegrüßt hatte. Den übrigen Tischgesellen war der Pöbel egal. Sie nahmen ganz einfach keine Notiz von den kleinen Leuten, die sie nicht kannten, und die sich rund ums Buffet wie die Schmeißfliegen tummelten, um noch rasch ein Häppchen von dem feudalen Hummeraufstrich, der Fasanenpastete, den Garnelen in Marinade, dem Avokadoaufstrich sowie Unmengen süßer Melonen, Mehlspeisen und Torten aller Art zu ergattern. Denn wo sonst, wenn nicht hier, hätten sie noch die seltene Gelegenheit, sich gratis den Bauch mit so köstlichen Dingen vollzuschlagen?

Unter der illustren Tischrunde, der Rembert Mirando angehörte, befand sich ein gleichermaßen aalglatter geschniegelter Finanzbarrakuda, der in ausschweifender Form von mysteriösen Beteiligungen an einer Ostfirma faselte und allen, die über die Höhe der Investitionen und die zu erwartenden Renditen staunten und ihre Münder darüber nicht mehr schließen konnten, den Mund wässrig machte, sich in dieser Sache einzukaufen. In Mirando arbeitete es fieberhaft. Wenn er das Geld, das man ihm kurzfristig anvertraut hatte, hier investierte, könnte er ein Vielfaches dessen lukrieren, was ihm ohne dieses Kapital in seinem Leben allein durch Sparsamkeit nicht gelänge, und was ihm überdies gestatten würde, den geliehenen Betrag mit Leichtigkeit wieder an den eigentlichen Besitzer, die Partei, zurückzuzahlen.
Er brauchte also nur einen günstigen Moment abzuwarten, in dem er mit diesem Mann allein sein konnte, um ihm sein Interesse an der Sache darzulegen. Alles andere würde sich finden. Schließlich herrschte die Krise. Und wenn man es jetzt zu nichts brachte, wie sollte es hernach weitergehen? Und wenn es schiefginge? Wenn schon! Die Frage danach, ob man ein guter Verlierer wäre, konnte in Zeiten wie diesen an Zynismus kaum noch überboten werden und nur wenige waren in der glücklichen Lage, darauf zu antworten, dass sie dank ihres Humors sogar noch dann zu lachen pflegten, wenn sich das Blatt einmal gegen sie gewendet hatte. Und Mirando wollte nur zu gerne einer von dieser Sorte sein.
Es gab ja schließlich genügend Vorbilder, da draußen. Solchen Menschen, die es nicht nötig hatten, ums Überleben zu kämpfen, war doch bloß am Wettbewerb gelegen, am Reiz der Herausforderung und an der Lust, die sie dabei empfanden. Derartige Menschen konnten schließlich aber auch nicht immer nur gewinnen. Daher konnten jene, die stets gewannen, es sich mitnichten leisten, menschliche Größe zu demonstrieren, indem sie einem überlegenen Konkurrenten lächelnd zum Sieg gratulierten.
Der Finanzmensch trank. Er trank viel, und zwar nur Sekt, und das war gut so, dachte Mirando. Denn auch ein Finanzmensch hat nun einmal eine menschliche Blase, und die würde sehr bald zum Überlaufen voll sein, wenn er so weitertrank. Dann müsste man ihm an jenen Ort hin folgen, wo für Erleichterung gesorgt wurde. Überdies musste man ja nicht gleich die kompletten Hundertfünfzigtausend riskieren. Ein geringerer Betrag, vielleicht fünfzigtausend, würde vielleicht für den Anfang schon reichen? Wer konnte es wissen? Nur reden müsste man mit dem Menschen können. Man müsste an ihn rankommen, ihm nähere Informationen entlocken, sie ihm aus der Nase ziehen wie die Amsel den fetten Regenwurm aus dem taufeuchten Boden.

Stefanie Raymundo hatte ihren Paul mitgebracht. Mirando beobachtete die beiden schon seit Längerem. Sie naschte einmal da dann dort vom üppigen Buffet, hüpfte um ihren Lover zickig herum und zog ihn am Ärmel mal hierhin und dorthin. Eva Vanin war nicht zu sehen. Sie hatte wohl heute Stefanie-frei. Pedasoli begnügte sich mit Zigaretten und einem Glas Wein in der Hand, unberührt von der Aufgekratztheit Stefanies.
Paul Pedasoli ließ seine von den Butterseiten des Lebens verwöhnten Blicke über die Anwesenden streifen. Sie fielen auf den Bürgermeister, dessen Gattin, auf die Tischgesellschaft, der Mirando angehörte, und sie blieben schließlich an der unübersehbaren Person des auffällig mit den Armen fuchtelnden Finanzmenschen hängen. Sein untrüglicher Sinn für leicht zu erbeutendes Kapital durfte ihn nicht täuschen. Er löste sich langsam, in immer länger werdenden Intervallen von Stefanie, die inzwischen vergnügt mit Frau Bürgermeister plauderte, und näherte sich scheinbar absichtslos und sehr unauffällig dem Tisch der aufrechten Wichtigen.
Mirando behielt Pedasoli vorsichtshalber im Augenwinkel, allein schon deshalb, weil er sich ein Bild von dem Kerl machen wollte, der Stefanie Raymundo bumsen konnte, ohne offensichtlich irgendeine Gegenleistung erbringen zu müssen, und einer Frau wie Stefanie dürfte bloßes Porsche-Fahren ja doch ziemlich egal sein. Er musste irgendetwas an sich haben, sagte sich Mirando, was sie so sehr an dessen Stange hielt, und während er dies dachte, hob er langsam sein Weinglas, führte es bedächtig zum Munde, so, als täte er einen längeren Schluck daraus nehmen, während seine Augen jede Bewegung Pedasolis verfolgten.

Da plötzlich, es musste in einem von Rembert Mirando unbemerkten Augenblick geschehen sein, stand Pedasoli bereits abseits der laut diskutierenden Tischgenossen neben dem geldigen Ostinvestor. Beide machten sehr auf „am anderen interessiert“. Jetzt nahm Pedasoli den Kerl an der Schulter und schob ihn behutsam hinüber zu einer kleinen Baumgruppe einiger mit Früchten überladener Marillenbäume.
Rembert Mirando wurde unruhig, sehr unruhig und er stand auf, um seine Chancen nicht noch mehr zu verschlechtern. Man musste handeln, jetzt, sonst würde es zu spät sein! Er sei hier ganz zufällig auf Pedasoli und den Kapitalhai gestoßen, entschuldigte er sich rasch dafür, die beiden im Dickicht der Obstbäume plötzlich überrascht zu haben. Aus dieser einmaligen Situation heraus ergab es sich, dass Mirando dem Investor seine Absichten mitteilte, etwas Kapital in die vorhin von ihm erwähnte Gesellschaft zu investieren. Und wie er es anstellen sollte?, fragte er naiv. Pedasoli und der Finanzmensch schienen erheitert.
Mirando fühlte, dass er einen roten Kopf bekommen hatte. Aber der Ostinvestor überging die Sache diplomatisch und fragte Mirando nach der Summe, die er anlegen wollte. Als dieser eher fragend antwortete, so an die fünzigtausend, wurde der Kapitalmensch plötzlich ernst. Paul Pedasoli pfiff leise durch die Zähne.
Wann und wo man sich treffen könnte, fragte dieser und Mirando erfasste ein Gefühl, welches sich nur Siegern zu bemächtigen beliebte, oder solchen, die mit einem Male aus nichts etwas geschaffen hatten. Was er davon hielte, wenn er, Pedasoli, gleichfalls mit einer solchen Summe einstiege?, fragte jener den Finanzmenschen. Der Ostinvestor war sofort in seinem Element. Die drei mochten eine gute Stunde im Schutz der Marillenbäume gestanden haben, als sie mit zufriedenen Gesichtern wieder an den Tisch der wichtigen noch Aufrechten, denn der Sekt floss in Strömen, zurückgekehrt waren.
Ob sie sich gut unterhalten hätten, stürmte der Bürgermeister sogleich auf sie ein und warf Rembert Mirando einen fragenden Blick zu, dem dieser mit erhobenem Haupt standhielt. Er war sich seiner Sache ziemlich sicher, und überhaupt hatte Rembert Mirando schon sehr früh herausgefunden, dass dieses Leben nicht fair war und dass einem absolut nichts geschenkt wurde. Umso mehr schien es ihm legitim, aus seiner Situation das Beste zu machen. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte er seit Längerem für sich die Methode gezielten Selektierens nützlicher Freunde, investierte da und dort ein wenig in seinen mäßigen Ehrgeiz, um damit den für die Öffentlichkeit notwendigen und glaubwürdigen Willen zum beruflichen Aufstieg zu untermauern.
Darüber hinaus beanspruchte er für sich die gängige Meinung, welche über Leute aus dem Arbeitermilieu besagte, dass sie durchaus die Fähigkeit zur Entwicklung von Qualitäten besäßen, die einem auf dem Weg nach oben unbedingt dienlich wären. Und jetzt böte sich ihm eine günstige Gelegenheit dorthin. Alles, was man dazu brachte, waren günstige Karten, Stress- und Konfliktresistenz, Selbstständigkeit und ein gesundes Selbstbewusstsein. Wer über diese Eigenschaften verfügte, besaß erfahrungsgemäß die notwendigen Grundlagen eines bestimmten Anforderungsprofiles, spezifische Machtpositionen einnehmen zu können.

Nach und nach erhoben sich die Wichtigen nicht mehr ganz so Aufrechten vom großen Gartentisch, unter ihnen auch Mirando, um vereint noch einmal über das Buffet herzufallen, welches mittlerweile neu bestückt worden war, weil es der Pöbel bereits leergefressen hatte. Ein neues Fass Bier wurde angeschlagen, neue Sektflaschen eindrucksvoll, einem Flakgewitter gleich, knallend entkorkt. Ströme schäumenden Perlweines ergossen sich schwungvoll in bereitgestellte Gläser. Das gemeine Volk wagte sich nun nicht mehr näher heran und verharrte mit teilweise leeren Bechern unter fruchtschwangeren Marillenbäumen, bis wieder Entwarnung gegeben werden konnte. Dahinter leuchtete die Sonne schon tief am Horizont, unsichtbar beinah, durch die grünblättrigen Mauern dicht belaubter Obstbäume.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15076