Stams in Tirol, 12. August 1643

Georg Matthäus Vischer wurde vom frühen Läuten der Kirchenglocke aus dem Schlaf gerissen und richtete sich ächzend auf. Ein weiterer Tag in brütender Sonne und mit harter Feldarbeit lag vor ihm. Nicht zu vergessen das erste Morgengebet, zu dem er pünktlich zu erscheinen hatte. Er fühlte sich wie gerädert, ein Sonnenbrand auf dem Rücken hatte ihn zum Schlafen in ungewohnter Bauchlage gezwungen, was er jetzt schmerzhaft in seiner Nackenmuskulatur zu spüren bekam. Von den Muskelschmerzen in den Waden und im gesamten Rücken ganz zu schweigen. So hatte er sich das Leben im Kloster wahrlich nicht vorgestellt!

Seine Mutter hatte ihm dazu geraten, so lange wie möglich im Kloster zu bleiben. Der Abt war stets erpicht, Novizen anzuwerben. Bis er das richtige Alter dazu hatte, war er daher gern geduldet, obwohl seine Mutter schon längst kein Kostgeld mehr für ihn zahlte und seine Schuljahre bereits vorbei waren. Der Abt wusste ihn jedoch weiter ans Kloster zu binden, gab ihm eine eigene Kammer, kleine Gelegenheitsarbeiten, ja er ließ ihn im Winter sogar in der Bibliothek mithelfen. Georg nutzte diese Gunst meist aus, um zu lesen und sein Interesse für Geografie zu stillen. Er war mehr Leser als Bibliotheksgehilfe, was der stiftseigene Bibliothekar meist mit gönnerhaftem Kopfschütteln zur Kenntnis nahm. Zu Georgs Glück war dieser keiner von der Sorte, die andere beim Abt schlecht machten.

Heute war aber an Lesen nicht zu denken, denn Georg war den Mönchen als Erntehelfer zugeteilt. Die weitläufigen Kornfelder rund um das Klosterareal zogen sich an den goldgelben, leicht ansteigenden Hängen bis zum Fuß des niedrigen, dicht bewaldeten Vorgebirges hin.
Erst dahinter ragten die großen Berge auf, denen er mit gehörigem Respekt gegenüberstand, seit er einmal auf einem seiner Vermessungsgänge in ein Gewitter geraten war und unter einem Felsvorsprung übernachten hatte müssen. Nie würde er die schaurigen Blitze vergessen und wie der Donner in den Bergen widerhallte, immer und immer wieder.

Zu fünft nebeneinander stehend, mussten sie sich gegenseitig genügend Raum geben, um den Schwung der Sense ausreichend weit setzen zu können und so möglichst viel Korn zu erwischen. Am Anfang machte Georg den Fehler, zu tief ins Feld hinein zu mähen, mit dem Ergebnis, dass die Sense immer wieder stecken blieb und er neuerlich Schwung holen musste. Heute – am dritten Erntetag in Folge – hantierte er bereits mit großer Routine. Die abgeschnittenen Getreidehalme wurden sofort in einer möglichst geraden Linie aufgelegt und von anderen, meist älteren Mönchen zu Garben zusammengefasst. Mehrere davon wurden dann stehend zum Trocknen gegeneinander gelehnt und oben grob zusammengebunden.

Georg schwitzte und ächzte unter der einseitigen Bewegung des Mähens, und als nach zwei Stunden die beiden Mädchen mit den Körben und Krügen kamen, war endlich eine Pause in Sicht. Sie hatten sich die Röcke etwas nach oben gerafft, um die Hitze besser zu ertragen, obwohl das im Beisein von Männern als besonders unziemlich galt. Im Schatten der Bäume genossen die erschöpften Erntehelfer Most und Brot. Jeder erhielt ein ordentliches Stück geselchtes Fleisch. Georg saß an einen Baum gelehnt und gab sich noch einem anderen Genuss hin – er betrachtete ziemlich ungeniert die braungebrannten Waden der Mädchen, die plaudernd und lachend damit beschäftigt waren, Brot und Getränke zu verteilen. Als sich eine der beiden tief zu ihm herunterbeugte, konnte er genau in ihren offenen Ausschnitt sehen. Nach einem langen Moment sah er erschrocken zu Boden. Sich Frauen zu nähern, war ihm streng verboten. Sie bemerkte wohl sein Unbehagen, denn sie zwinkerte neckisch und flüsterte ihm zu: »Na, na, höchste Zeit, dass du einmal eine Frau aus der Nähe siehst. Sonst weißt du ja nicht, was dir entgeht.«

Gerade als Georg endlich etwas eingefallen war, was er hätte erwidern können, kam in einer riesigen Staubwolke eine kleine Gruppe Soldaten des Weges. Fünf waren es, und sie blieben stehen. Das Interesse der Mädchen verlagerte sich augenblicklich zu ihnen. Sie gaben ihnen zu trinken und schäkerten eine Zeit lang, bevor die Männer weiterritten. Einer rief noch laut in Georgs Richtung: »Das Militär sucht noch Männer, die reiten und kämpfen können.«

Georg ärgerte sich darüber, dass die Mädchen dann in Gegenwart der Mönche über die Soldaten redeten, als wären sie unter sich. Die schmucken Uniformen hatten es ihnen angetan, die Säbel und weiß Gott was noch, alles an diesen Soldaten schien spannend und aufregend. Und sie sprachen und kicherten noch eine ganze Weile darüber, während sie sich daran machten, Fallobst in einem Korb zu sammeln. Georg war richtig froh, wieder an die Arbeit gehen zu können und noch mehr über die rasch heranziehenden grauen Wolken, die Regen und folglich einen kurzen Arbeitstag verhießen.

Wenn das sein Vater wüsste, der bis zu seinem Tod die Verwaltung des klostereigenen Getreidespeichers übergehabt hatte. Wenn er wüsste, dass Georg jetzt dafür sorgte, dass das Korn in den Speicher kam. Was würde er wohl dazu sagen? Würde er verstehen, dass sein Sohn nicht zufrieden mit der jetzigen Situation war, dass er gern etwas von der Welt sehen und etwas Neues lernen wollte? So wie die Soldaten, ja, genau so. Das war es! Das Auftauchen der Berittenen war ein Fingerzeig des Schicksals, Soldat wollte er werden! Uniform und Waffen würden ihm gut zu Gesicht stehen. Und beim Militär gab es immer etwas zu messen und zu berechnen. Dass ihm das nicht schon viel früher eingefallen war?!

»Georg, so pass doch auf, deine Sense gerät ja schon fast an meine Knöchel! Wo bist du nur mit deinen Gedanken?« Der neben ihm arbeitende Klosterbruder wies ihn mit einem zornigen Aufschrei zurecht. Bei einem Unfall mit der Sense konnten immerhin schlimme Verletzungen entstehen. Doch es gelang Georg nur schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, so sehr kreisten seine Gedanken um diese Idee, die im Lauf des Nachmittags immer mehr zu einem festen Vorhaben heranreifte.

Später, nach der Schlussandacht, würde der fünfzehnjährige Georg Matthäus Vischer das Kloster Stams heimlich verlassen, um sich den Soldaten anzuschließen und in den Krieg zu ziehen.

Michaela Swoboda

 Auszug aus dem Roman: Vischers Vermessenheit, Salzburg, Pustet, 2013

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