Zahnfee reloaded

Man sieht mich auf dem Sozius einer Harley sitzen. Ich bin eine kleine Person von zierlicher Statur und das ist auch auf dem großformatigen Bild zu sehen. In meinem weißen Kittel, mit aufgestecktem Haar und ohne Helm sitze ich dort. Und wer genau hinsieht, der erkennt, ich habe meine Lupenbrille auf und ein sehr sanftes Lächeln im Gesicht. Meine Hände liegen entspannt auf den Schultern des schwarzgekleideten Fahrers. Dieser trägt einen dunklen Helm mit offenem Visier und lächelt dem Bildbetrachter mit strahlend weißen Zähnen extrabreit entgegen. Das alles ist fein und naturalistisch gemalt, genauer gesagt aufgesprüht. Ein Sonnenuntergang in kräftigen Lila-Orange-Tönen, die zu den Rändern pastellig auslaufen, bildet die Kulisse für diese surreale Szene.
Meine gesammelten Schätze hängen im Eingangs- und Wartebereich: Bilder zeitgenössischer Künstler, im Laufe von Jahrzehnten erworben, präsentiere ich hier gerne meinen Patienten. So entsteht mancher Kunstdiskurs und es trägt außerdem zur Entspannung bei. Aber manches wird auch missbilligt. Es sind exzentrische und unkonventionelle Werke darunter, die Anstoß erregen oder man behauptet, das auf ihnen Dargestellte sei schlicht abstrus.
Keines meiner Bilder wird jedoch neuerdings so kontrovers kommentiert wie ebenjenes eine, surreale, das seit etwa zwei Monaten an der Wand gleich links neben der Rezeption hängt. Das Gesprayte ist in Airbrush-Technik auf ein rechteckiges Stück Blech aufgebracht.
Ich werde auf dem Motorrad erkannt und oft darauf angesprochen.

Abwechselnd in zwei nebeneinanderliegenden Praxisräumen behandle ich meine Patienten. Bei dem einen erfolgt die Anamnese und meist folgt eine Anästhesie, die einwirken muss, bevor ich mit der Therapie beginnen kann. Währenddessen wechsle ich ins Nebenzimmer zum nächsten Patienten, der die Zahnsteinentfernung, durchgeführt von meiner Assistentin Bea, dann meist schon hinter sich hat.
An einem Vormittag im Frühsommer trat Bea mit hochrotem Gesicht und ziemlich aufgebracht zu mir in die Praxis: „Stellen Sie sich vor, der Typ da drinnen hat mich einfach weggeschubst, als ich mit dem Zahnsteinentfernen beginnen wollte. Das will er nicht und braucht er nicht, hat er gemeint.“
So vorgewarnt von meiner Assistentin, betrat ich den Behandlungsraum. Mein Herz begann beim Anblick des Mannes schneller zu klopfen: ein großgewachsener korpulenter, bärtiger, etwa 40-jähriger Mann in Motorradmontur, der mit hängenden Schultern, mit seinem Helm in Händen auf dem Behandlungsstuhl saß. Allerdings schräg und nicht in der zur Untersuchung vorgesehenen Position, sondern derart, als ob er unter allen Umständen unverzüglich wieder weggehen wollte. Er sah dabei einigermaßen kläglich aus, weil seine Beine wegen der ungewohnten Sitzhöhe unbeholfen umherbaumelten, das rührte mich.
Ich stellte mich ihm vor und es war mir dabei ein wenig bang. „Guten Tag, wir beide kennen uns noch nicht, am besten ich schaue mir Ihr Problem einmal in aller Ruhe an. Legen Sie doch Ihre Jacke dort auf dem Sessel ab, es ist warm hier. Zeigen Sie mir, wo es Ihnen wehtut?“

Er erhob sich und zog schwerfällig seine Lederjacke aus, wodurch die muskulösen, dicht tätowierten Arme sichtbar wurden. „Meine Zähne sind eigentlich immer in Ordnung“, brummte und quengelte der Mann unleidlich vor sich hin und legte sich schließlich doch auf den Stuhl. „Ich bin schmerzempfindlich“, das kam griesgrämig und kaum hörbar. Ich kritzelte mit rotem Farbstift ein A für Angstpatient auf seine Patientenkartei. Dann besah ich mir das bereitgelegte Röntgenbild; allerdings nur kurz, weil ich es vermeintlich für das eines anderen Patienten hielt und einen Irrtum meiner Sprechstundenhilfe vermutete.
„So, ich werde vorerst nur hineinschauen, bitte öffnen Sie den Mund weit.“
Das was sich mir offenbarte, waren zwei gesunde, tadellos gepflegte Zahnbögen. Ich war überrascht. Bis auf den einen schmerzenden Backenzahn links unten waren seine Zähne in einwandfreiem Zustand. „Das sieht ja fast perfekt aus!“, rief ich erfreut aus. „Lediglich hier in diesem einen Zwischenraum hat sich Karies gebildet. Wo waren Sie denn bisher in Behandlung?“
„Vor Ihnen gab’s nur die Zahnfee und das ist Jahrzehnte her“, gab er mit leicht angespanntem Grinsen von sich. Mir fielen seine dunklen Augen auf.
„Ich werde Ihnen eine Spritze geben, die tut schon ein bisschen weh, ein kurzes gemeines Pieksen, aber das ist auszuhalten. Danach werde ich bohren, da spüren Sie dann nur, wie der Bohrer die Karies rotierend abträgt, aber garantiert ohne Schmerz! Und natürlich ist da noch das unangenehme Bohrgeräusch, aber da gebe ich Ihnen einen Kopfhörer mit Musik. Mozart wird Sie entspannen. Danach bekommen Sie eine Kompositfüllung, das ist weißer Kunststoff und hinterher nicht zu sehen. Keine Angst, das Ganze ist nur kurz unangenehm und rasch vorüber.“
Als vertrauensbildende Maßnahme berühre ich meine Angstpatienten immer kurz an der Schulter. Das tat ich diesmal sogar etwas länger, denn ich sah, dass sich kleine Schweißtröpfchen auf seiner Stirn gebildet hatten und er seine tätowierten Hände fest ineinander verkrampft hielt.
Erwartungsgemäß ging alles gut und der verängstigte Biker brachte zum Abschied sogar ein (anästhesiebedingt schiefes) Lächeln als Dank zustande.

Zwei Wochen später stand eines Morgens vor der Praxistür ein in Packpapier gehülltes Paket als Geschenk, das ein Gemälde beinhaltete, begleitet von einem Visitenkärtchen mit einem schlichten „Danke“. Mein damaliger Patient betreibt ein Airbrush-Atelier für Motorräder und Helme und hatte sich netterweise mit dem Bild für meine fürsorgliche Behandlung revanchiert und damit einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Die Auswahl der Kunstwerke in meiner Praxis wechsle ich zwei Mal jährlich. Wenn ich umhänge, dann folgt meist eine kleine Vernissage unter Arztkolleginnen und –kollegen. Dem gut gelaunten und situierten Publikum blieb der auffällige Neuzugang nicht verborgen. Die großformatige, fotorealistische Hochglanzabbildung meiner Person fiel ins Auge und wurde entsprechend kommentiert: dekorativ, postironisch, theatralisch, explizite Popart, angenehm unpolitisch, herrlich naiv, unverkopft kitschig, ist nur eine Auswahl des Gesagten.
„Meinen“ Airbrush-Designer hatte ich auch eingeladen und inszenierte ihn als aufstrebenden Künstler. Er dankte es mit einem makellosen Siegerlächeln.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15055