Das Bild

Ich warte darauf, dass das Bild mir von sich erzählt. Aber noch ist es nicht so weit. Noch schweigt es. Es ist weit gereist, von Wien in die Steiermark, immerhin. Ob es mitbekommen hat, dass es nicht mehr in der Mappe seines Schöpfers liegt? Dass es ein neues Zuhause hat? Wo ist sein neues Zuhause? In meiner linken Hand, während die rechte schreibt? Ich werde es auf rotes Papier legen und dann rahmen. In meinem Wohnzimmer wird es ein würdiges Plätzchen finden.

Kohle auf dickem, weißem Zeichenpapier. Ganz laienhaft ausgedrückt. Ich verstehe nicht viel von der bildenden Kunst, kann kein Motiv in ein Bild umwandeln. So werde ich das meine beschreiben. Format A4. Ein Clowngesicht im Profil. Schwarz-grau-weiß. Verwischte Kohle. Haare, Augenbraue, Nase, Mund, Ohr. Er hält etwas nahe dem Gesicht, vielleicht ist es eine kleine Trommel. Oder ein Korb. Das Bild ist signiert und gewidmet. Roter Filzstift: Für eine Seelenverwandte. Ich habe mir diese Widmung ausgesucht. Das Bild hat mich berührt und als ich eines von den vielen wählen durfte, fiel mir dies nicht schwer. Ich sah es und wusste, was der Künstler beim Malen empfunden hat.

Der Zirkus. Sammelsurium von Menschen, die ihr täglich Brot dort verdienen, wo mit offenem Mund und voller Ehrfurcht gestaunt wird. Wo Erwachsene sich ihrer Kindheit erinnern und eine leise Ahnung von ihr finden. Einen Hauch kindlicher Seligkeit. Strahlende Augen folgen jeder Bewegung des Künstlers. Des tollpatschigen Clowns. Des waghalsigen Artisten. Beherrschung des Körpers und des Geistes. Perfekte Arbeit. Hartes Training. Kein Raum für Zirkusromantik. Draußen in der Manege urteilt das Publikum. Über Gedeih oder Verderb. Über Rampenlicht oder Verschwinden in der Versenkung. Und ständig soll die Nummer ein Magnet sein. Noch waghalsiger, mutiger, selbstloser. Und Monaco heißt der Traum, der einem wie eine Seifenblase auf der Nase herumtanzt. Einen mitunter ordentlich belästigt. Trommelt und pfeift und grinst. Weite Welt. Fremde Länder. Fremde Städte. Doch wie ungebunden ist das Herz? Und wo hat es seine Heimat? Und wo hat es sein Zuhause? Was alles muss sie ersetzen, die Manege? Wem wird etwas vorgegaukelt? Denn im Zirkus, da werden Illusionen verkauft. Hat die Welt in Ordnung zu sein. Flitter und Sternenlicht. Echte Menschen in glitzernden Kostümen. Wie heimelig ist ein Zirkuswagen?

Würde. Wir alle ringen um unsere Würde. Der Clown im Zirkusrund. Und die, die sich von ihm unterhalten lassen. Sie lachen über die komische Gestalt, die immer wieder auf die Nase fällt. Die immer wieder über die eigenen Füße stolpert. Die sich selbst im Wege ist. Die Darbietung ist ein Gaudium für Klein und Groß. Das Publikum applaudiert und hat Gefallen am Zerrbild seiner selbst. Für Geld bekommt es einen Spiegel vorgehalten. Und manch einer ist so weise, sich selbst darin zu erkennen. Einzugestehen, dass das Leben selbst ein mehr oder weniger liebenswürdiges Chaos ist, das der Weisheit eines Clowns bedarf. Einzusehen, dass die Fröhlichkeit vor einem Abgrund tanzt, musiziert, ihre Späße treibt. Dieser Abgrund nennt sich Schicksal. Versagen. Abschied. Dort, wo gelacht wird, wartet auch die Erfüllung allen Seins. Und diese Tragik ist die Triebfeder jener Menschen, die für Applaus und Lachen den Hanswurst mimen. Lebenserfahrung, so heißt ihr Spiel. Ein ewig altes, ein ewig neues Spiel.

Das Bild erzählt. Von der unumkehrbaren, festgeschriebenen Wahrheit, die ein gefälliges Gesicht zeigt – wenn es ihr beliebt. Manchmal schminkt sie sich und verbirgt das Antlitz hinter einem gnädigen Grinsen. Manchmal geruht sie zu spielen. Doch dass sie auch anders agieren kann – wer wüsste das nicht? Eine Frage drängt sich mir auf: Ist das Schicksal per se bösartig? Und was bleibt, wenn der Wind darüber gegangen ist?

Schwarz-grau. Meines Clowns Seelenfarben. Des Künstlers Wirklichkeit. Wie düster kann ein Lachen sein! Wie tragisch eine Gestalt! Tiefste Verzweiflung. Und vielleicht ein wenig Fassungslosigkeit darüber, dass das Leben genau so ist, wie es ist. Widerstand. Ein Sich-Aufbäumen gegen die Hand, die allzu hart den Zügel führt. Und doch ist ein Clown ein duales Wesen. Kennt alle Facetten menschlichen Leides. Kennt die unerschütterliche Hoffnung. Kennt die Unbekümmertheit, die ihn aus Kinderaugen freundlich anlacht. Was mag mein Clown wohl denken? Was mag er wohl fühlen? Das wird immer sein Geheimnis bleiben. Sein Gesicht ist eingefangen in einem Moment, der zur Ewigkeit geworden ist. Für ihn zur Ewigkeit. Für mich zur Ewigkeit. In dir erkenne ich meine Welt. Erkenne aber auch den tiefen Frieden, den die Akzeptanz großzügig verschenkt. Wundersame Begegnung. Wundersame Berührung, für die ich dankbar bin.

Luise Fötsch

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15049