Am Ende
Mit Burn-out zu Hause und der Tatsache, dass seine Ehe seit den letzten Wochen in Brüche zu gehen drohte, befand sich Arno psychisch und physisch im absoluten „Down-under“. Wie sollte man dem angehäuften Elend entkommen?, fragte er sich. In der Ablenkung bestand stets eine mögliche Variante, den Tag relativ unbeschadet zu überstehen. Nachdem der Postbote ohne eine Trost spendende Nachricht wieder abgezogen war und die Türchen der Briefkästen laut scheppernd zugeworfen hatte, darin, höchst verantwortungslos, jede Menge Werbematerial, Zahlscheine und ähnlichen Mist ungestraft zurücklassend, ohne sich weiter darum zu scheren, wie es demjenigen ergehen mochte, dem dieses Postfach gehörte, sah Arno für sich lediglich die Option, der kürzlich eingetroffenen schriftlichen Aufforderung eines amtlichen Schreibens seiner Dienststelle Folge zu leisten.
Dies bedeutete, kurzfristig in jene Stadt zu reisen, deren einzige Silbe sich auf Provinz reimte, und versprach, eine höchst unangenehme Sache zu werden. Ein grauer Regentag, nebelverhangen. Tiefdruck und der beißende Geruch von Industrieabgasen. Ein Taxi mit einem wortkargen Fahrer. Im Inneren lautstarker Regionalsender im Jodelmodus und das Knacken der Scheibenwischer auf Intervallstellung.
Schließlich das Wartezimmer einer psychiatrischen Ordination. Arno hatte sich angemeldet.
„Ah? Sie? Für Sie brauche ich mehr Zeit“, sagte die Ärztin und nahm noch rasch einen Wartenden vor. Arno schluckte. Das tapfere Herz pochte in unruhiger Erwartung. Was wollte man von ihm hier? Er hatte ein gültiges Attest, das verhieß, es wäre alles zur Zufriedenheit. Banges Warten. Endlich. „Bitte! Kommen Sie herein!“
D i e sollte hier für ihn zuständig sein? Ein derbes Weib, hatte er irgendwo bei Ludwig Tieck gelesen. Arno konnte sich nicht so genau erinnern, wo. Mit kräftigen Schenkeln und einem feisten Hintern. Ein Weib! Und hatte Macht über ihn, den Zarten, Verwöhnten, Leptosomen und Schöngeist, Angsthasen und Weltverbesserer, den das Schicksal zynisch ins falsche Jahrhundert versetzt hatte, ins bürokratische, technokratische, unromantische. Was für eine Welt! Sie sah ihn eine Weile sehr genau an. Dann begann sie, ihn auszufragen.
Wo und wann geboren, verheiratet, Kinder und so weiter, ihre prüfenden Blicke immer wieder auf ihn, dann wieder auf den PC vor ihr richtend. Wozu das alles? Stand ja doch alles in seinen Personalien. Vielleicht wollte sie wissen, ob er überhaupt in der Lage wäre, klare Antworten zu geben? Unverschämte Person! Welche Schulen er besucht hätte, und wozu die vielen Studien? Wären für seinen Job gar nicht relevant?
Weil er eben so wissbegierig sei, antwortete Arno.
„Eine beinahe manische Profilierungssucht, finden Sie nicht?“ Arno fühlte Zorn aufsteigen. Nur nicht gehen lassen, dachte er, nur jetzt nicht gehen lassen! Die will dich nur aus der Reserve locken. Sehen, ob die Lebensgeister intakt wären. Das darf doch alles nicht wahr sein, arbeitete es in ihm.
„Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern beschreiben?“, bohrte sie weiter, „standen Sie stark unter Druck? Waren Ihre Eltern leistungsorientiert? Wie empfanden Sie Ihre Kindheit und Jugend?“ Arno plauderte bedenkenlos drauflos. Vielleicht würde das die ganze Sache irgendwie positiv beeinflussen? Ja, doch, er wäre sehr unter Druck gestanden. Besonders vom Vater her. Die Mutter war eher zurückhaltend gewesen.
„Hatten Sie manchmal das Gefühl, in einer ausweglosen Situation zu sein, wenn Ihre Leistungen nicht so waren, wie sie Ihnen von Ihrem Vater abverlangt worden sind? „Nicht, dass ich mir dessen bewusst wäre.“ „Gut. Jetzt zieh´n Sie sich aus, bis auf die Unterhose. Legen Sie sich dort auf die Liege.“ Arno stand auf. Spinnt die? Er war außer sich! Die war wohl verrückt geworden? Unglaublich, diese Demütigung! Man behandelte ihn hier, als wäre er besoffen ins Radar gefahren! Schlimmer hätte man ihm nicht zusetzen können. Es gab ihm den Rest. Er fühlte den moralischen Sturz in die Tiefe.
Eigentlich war er wegen Herzbeschwerden länger im Krankenstand gewesen. Im Zuge dessen hatte man ihm das Burn-out attestiert. Er sollte sich eine Zeitlang erholen können. Die haben doch alle einen Knall hier, stolperten seine Gedanken durcheinander, während er die Hose über den Stuhl hängte.
Dann legte er sich auf die mit einem weißen Leintuch bespannte Liege.
„So! Nun versuchen Sie, mit dem Zeigefinger Ihre Nasenspitze zu berühren, mit geschlossenen Augen!“ verlangte sie von ihm.
Ach, darauf wollt ihr hinaus, ihr Schweine!, dachte Arno. Ihr wollt wissen, ob ich nicht doch ein wenig krank im Hirn bin, wie? Aber den Gefallen tu ich euch nicht! Das hatte ihm der Dreckskerl aus der Personalabteilung angetan, war Arno überzeugt. Parvenü! Kommt mir damit! Dem möchte ich gegenüberstehen! Arnos seelischer Pegelstand knallte in rasender Talfahrt nach unten. Was ist, wenn sie was findet? Vielleicht habe ich irgendein Leiden, von dem ich nichts weiß?
„Und nun fahren Sie mit den Zehenspitzen des rechten Fußes das linke Schienbein entlang, hinauf bis zum Knie. Ja, in Ordnung. Die weiten Hosenröhren seiner Boxershorts mussten ihr genügend Einblick erlaubt haben, um zu sehen, wie es um ihn dort bestellt war. Netter Nebeneffekt!
„Und nun mit dem linken Fuß.“ Arno tat, wie ihm befohlen wurde. Er ahnte, was ihm blühte, wenn er das nicht schaffte. Das Doktorluder hätte jede Macht der Welt. Nun musste er sich aufsetzen, damit es seine Kniereflexe testen konnte.
Das vergess ich euch nie! Arno kochte. Hatte er nicht erst kürzlich über das einfühlende Verständnis des Dienstgebers im Krankheitsfall des Burn-out, der neuen Modekrankheit, gelesen? Das verlogene Gewerkschaftsblatt ermunterte auch noch Betroffene, sich in ihrer Situation ruhig den Ansprechpartnern anzuvertrauen. Und der Dienstgeber hätte neuerdings dafür vollstes Verständnis!
Wirklich, sehr verständnisvoll, wie ihm hier geschah. Arschlöcher! Arno atmete tief durch. Eine ganze Weile praktizierte sie an ihm noch den einen oder anderen Reaktionstest, offensichtlich jedoch alle zu ihrer Zufriedenheit.
Arno, immer noch auf der Liege, blickte angespannt zur Decke. Er wagte kaum zu atmen. Das Herz raste. Nun fasste die Ärztin sein linkes Bein, verdrehte es, zog heftig daran und drückte es zur Hüfte. Arno entfuhr ein Schmerzensschrei.
„Tut das weh?“, fragte das Krokodil. Ja, er hätte schon seit Längerem Schmerzen in der Hüfte. Daraufhin verbog sie sein Bein noch hartnäckiger.
Dämliches Stück, so hör doch auf! Was hat denn das jetzt mit meinen Herzrhythmusstörungen zu tun?, fragte er sich. Nachdem sie offenbar genügend gezogen und verrenkt zu haben schien, sagte sie trocken: „Sie können sich wieder anziehen“, und begab sich an ihren Schreibtisch. Von dort lugte das Doktorluder geduckt aus sicherer Verschanzung hervor, um Arno abschätzend so von oben zu mustern.
Arnos Selbstwertgefühl war ins Bodenlose gefallen. Unten. Total unten. Diese Erniedrigung! Was muss ich hier ertragen?, fragte er sich fortwährend.
„Und diesen krankhaften Ehrgeiz, den man ja beinahe manisch nennen könnte, setzen Sie den auch an Ihrem Arbeitsplatz um? Bei Ihren Kolleginnen und Kollegen, wie?“ platzierte sie messerscharf.
Arno überlegte, was er sagen sollte. Was sollte er antworten? Ein Teufelskreis! In diesem Moment erfasste ihn eine Sehnsucht nach Freiheit, nach Freiheit der Gedanken, der Seele und gleichzeitig auch des Körpers, und nach dem Wunsch, der Zuchtmeisterin im weißen Kittel ein „Ach, Sie können mich mal und guten Tag“ entgegenschleudern zu wollen, obwohl dies seine Situation wohl kaum verbessern würde. Die unausgesprochene Kündigung würde dadurch eher auch nicht zurückgezogen.
Aber nein, er könnte an fünf Fingern abzählen, dass die Sache gegen ihn lief, das war doch klar.
Zögernd überwand er sich: „Nein nein, ich versuche stets, meine Fähigkeiten, so gut ich es eben vermag, den Anforderungen entsprechend einzusetzen. Auch gegenüber den Kolleginnen und Kollegen. Sollte ich jemals Druck ausgeübt haben, täte mir das leid. Sie verstehen, von oben macht man uns Druck, also muss ich natürlich weitergeben, dass alles in gewisser Weise auch umgesetzt wird.“
Aber das Doktorluder schien ihm nicht zu glauben. Vielmehr versuchte es, ihn noch mehr ins Eck zu drängen, das fühlte er ganz deutlich. Doch dann, ganz plötzlich, die Wende! Arno merkte es an einer gewissen Entspanntheit ihrer Gesichtszüge. Als träfe sie ganz plötzlich eine andere Entscheidung als ursprünglich geplant. Ob sie irgendeine Weisung hatte? Nein, sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Da hielt sie bereits den Kopf etwas schief und sagte: „Also gut, dann werde ich Ihrem Fortkommen in diesem Betrieb durch meine Expertise vorerst nicht im Wege stehen. Was dann entschieden wird, darauf habe ich keinen Einfluss. Dieser Bericht geht in Kopie ans Personalbüro!“ Mit diesem Satz war die Angelegenheit nun offenbar erledigt, zumindest fürs Erste, dachte er.
Arno verabschiedete sich, so freundlich es ihm in der Situation gelang und ärgerte sich erneut darüber, ihr zuletzt nicht doch den Vorwurf der Ignoranz an den Kopf geworfen zu haben, seit wann es denn üblich sei, fachlich fundierte Expertisen derart zu ignorieren und sich hier seinen eigenen Staat bilden zu wollen?
Hier, in dieser Stadt, deren einzige Silbe ihres Ortsnamens sich auf Provinz reimte. Und dann noch, dass ihm dieser Scheißbetrieb ohnehin egal wäre wie nur was, hätte er noch hinzugefügt, und dass sich der gesamte Verein den Job nach dieser Schikane sonst wohin stecken könne. So weit unten wie hier wäre er noch nie gewesen, konstatierte er für sich.
Arno, der an all seine anderen Probleme dachte, beschränkte sich dann aber doch nur auf ein heuchlerisches „Guten Tag“ und ein Lächeln und war zur Tür hinaus, froh, wieder frische Luft atmen zu können. Froh auch, in möglichst nicht allzu nächster Nähe dringend auf ein Bier gehen zu können, was ihm unumgänglich schien, um so der erlittenen Demütigung entgegenzuwirken, soweit dies mit einem einzigen Glas Bier überhaupt möglich wäre.
Danach würde er diese entsetzliche Stätte der Erniedrigung und Demütigung mit dem nächstbesten Zug verlassen, nicht ohne noch einen verächtlichen Blick aus dem Zugabteil auf die luftverpestenden Schlote ihrer Industrien geworfen zu haben, mit dem heiligen Eid, diesen durch seine erlittene Schmach besudelten Boden in seinem Leben nie wieder betreten zu wollen.
Norbert Johannes Prenner
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