Her mit dem Mist!

Danke, dass ich diese Gelegenheit bekomme, mich und meine Beweggründe kurz vorzustellen: Mein Name ist Sandra Reingruber und ich arbeite als Putzfrau.
Unser junger Chef in der Leasingfirma, ein trendiger Typ, nennt uns zwar jetzt „Teamplayer im Facility Management“, aber die Tätigkeit ist die selbe geblieben: den Mist der anderen wegräumen.
Aber mein Anspruch geht darüber hinaus: Ich will mehr wissen, dahinter schauen und Verborgenes entdecken.
Früher habe ich bei Familien mit kleinen Kindern geholfen, sauberzumachen, aber das hat mir nicht dieses großartige Entdecker-Gefühl gegeben wie jetzt in diesem Riesenbetrieb mit der schicken Vorstandsetage, die habe ich am liebsten.
Die Familien mit Kleinkindern haben zwar viel zu putzen, aber kaum Dreck am Stecken, nichts Hintergründiges, Verborgenes, einfach nur Mist und einen Haufen Putzarbeit, aber das ist mir zu wenig.

In der jetzigen Firma musste ich mich sehr anstrengen, den Job zu bekommen. Da wurde ich allerhand Sachen gefragt, die sie eigentlich nicht hätten fragen dürfen: ob ich eine chronische körperliche oder psychische Erkrankung oder einen Freund hätte (in dieser Reihenfolge), falls Letzteres ja, einen Kinderwunsch, und falls nicht (bei einem „Ja“ wäre ich wohl sowieso nicht infrage gekommen), wie ich verhüten würde. Das hat mich neugierig gemacht, die ticken völlig falsch, abartig, habe ich mir gedacht, und mich besonders bemüht, hier arbeiten zu dürfen, eine Fundgrube quasi, die sich da aufgetan hat. Daher habe ich die Frechheit ignoriert und die ersten drei Fragen brav lächelnd mit „nein“ beantwortet und tatsächlich, zwei Wochen später, kam die Nachricht: Ich war drin.

Die erhoffte Beute ließ auch nicht lange auf sich warten. Gleich vorwegschicken muss ich, dass ich niemals eine Schreibtischlade oder einen Schrank geöffnet habe, wozu auch? Da gab es nichts zu putzen, und außerdem habe ich eine Art Ehrenkodex, ich begnüge mich mit dem, was die Menschen achtlos wegwerfen, um daraus meine Schlüsse zu ziehen, und glauben Sie mir, das gibt mehr als genug her, da muss ich nichts gewaltsam öffnen oder ausspionieren.
Die geben, ich nehme die Informationen, das ist alles.

Zuerst beginne ich damit, die Akteure kennenzulernen, das geht natürlich nur aus der Ferne, ich bekomme sie ja nie zu Gesicht. Meine Arbeit beginnt nach 20 Uhr, wenn längst alle die Büros verlassen haben. Die Reinigung der Räume selbst ist schnell erledigt, es entsteht ja kaum richtiger Dreck bei diesen Schreibtischakteuren (um nicht zu sagen: –tätern), aber die Sondierungsarbeit ist zeitaufwändiger. Damit keinem etwas auffällt, schreibe ich immer nur die zwei Stunden, die fürs Putzen vorgesehen sind, in meine Zeitarbeitstabelle.

Beim Mistkübel verweile ich länger. Ein bisschen fühle ich mich wie eine Archäologin, die Schichten sind wie bei denen von unten nach oben zu lesen, so ein Tagesverlauf lässt sich auf diese Weise ausgezeichnet rekonstruieren.

Bei der Chefin beginnt der Tag sehr gesund, ein Apfelbutz und eine Bananenschale ganz unten im Mistkübel zeugen von viel gutem Willen, im Tagesverlauf schleichen sich dann aber schon einmal ein Sekundenpizzakarton (der Schicht nach gehört das zur Mittagspause) und einige Süßwarenverpackungen hinein, nebst Kaffeebechern und koffeinhaltigen Energydrinks. Die Abführpillenverpackung obendrauf verheißt schlechtes Gewissen und Unzufriedenheit mit dem tagsüber Genossenen oder aber Probleme bei essenziellen Erleichterungsvorgängen.
So genau brauche ich es aber wirklich nicht zu wissen. Sie ist mir irgendwie sympathisch, Menschliches ist mir schließlich nicht fremd.

Anders verhält es sich beim männlichen Vorstandsmitglied M., er war mir von Beginn an zuwider.
Ich denke, daran schuld waren hauptsächlich seine Kritzeleien im Altpapier.
Fein säuberliche Mülltrennung ist an sich nichts Schlechtes, wenn auch sinnlos. Wir sind von unserer Leasingfirma angehalten worden, uns nicht darum zu kümmern, sondern alles in Riesensäcke zu stopfen, die am selben Tag noch abgeholt werden. So bekommt niemand mit, dass die schönen Altpapierstöße völlig umsonst gestapelt worden sind.

Nun ja, ganz so ist es auch wieder nicht, für mich ist das schon eine Hilfe. Akribische Arbeit zahlt sich in diesem Fall wirklich aus. Scheinbare Nichtigkeiten sind es, auf die man bei dieser Tätigkeit achten muss. So ignoriere ich zum wiederholten Male ordinäres Geschmiere, das meist barbusige Weibchen in eigenartigen Posen darstellt. Sie verrenken sich an Zeilen, bei denen es um damals sehr wichtige, nun offensichtlich überholte Geschäftsvereinbarungen geht.
Der Mann hat offenbar insgesamt einen Hang zum Graphischen. Beim Telefonieren Mitgeschriebenes wird grundsätzlich mit Unbeschreiblichem behübscht, und so manche auf einem Schmierzettel notierte Telefonnummer stecke ich ein, man weiß ja nie, ein Vermerk: Büro M., mit Funddatum, damit ich mich auch später noch orientieren kann, Ordnung ist wichtig in meinem Beruf.

Und dann die Zettel, die als Geheimsprache eine echte Herausforderung sind, anscheinend Mitschriften von Meetings, die später erst abgetippt wurden, schließlich entziffere ich zwischen den offiziellen Teilen:
B. kündigen, schläft fast ein, wenn ich rede.
Z., die Sau, nervt alle mit seinem Scheiß!
Und das sind noch die harmloseren Anmerkungen. Das ist nicht mein Niveau. Ich verlasse das Büro jedes Mal mit Grausen.

Bei der Chefin fand ich eines Tages außer dem üblichen Heute-esse-ich-gesund-Inhalt und der darauf folgenden Schubumkehr einen gebrauchten Enthaarungswachsstreifen, doch der Überraschungen nicht genug, eine Schicht darüber befand sich dann der Pizzakarton, diesmal lohnte das Hineinschauen (man kann nicht sorgfältig genug sein): Darin eingebettet lagen zwei gebrauchte Kondome. Das sind diese Zufallsfunde, auf die man zu Recht stolz ist. Die zerrissene Strumpfhose gleich darüber und die Zellophanhülle einer neuen Beinbekleidung ganz oben im Kübel verwunderten anschließend nicht mehr.

Nun aber zum Grund meines Gesprächs mit Ihnen: Davon habe ich genug. Ich habe im Laufe der Zeit eine gewisse Qualifikation in diesem Bereich erworben, aber jetzt ist es Zeit für Neues.
Ich sehe die Zeichen der Zeit. Ich möchte mich weiterbilden und darum bin ich hier.

Frau Reingruber, wir sind wirklich sehr beeindruckt von der brillanten Schilderung Ihrer Beweggründe, sich für unser Stipendium zu bewerben. Versprechen kann ich nichts, das wird in einem Gremium entschieden, aber so viel kann ich sagen, Sie sind eine der aussichtsreichsten Kandidatinnen bisher, Ihr Erfahrungsschatz ist enorm.
Wie würden Sie denn dieses Angebot nutzen, wenn Sie tatsächlich in den Genuss eines Günter-Wallraff-Stipendiums kämen? Unsere Stiftung will schließlich genau solchen Personen wie Ihnen helfen, die bisher weniger Chancen am Bildungsmarkt hatten, sich ihren Talenten gemäß zu entwickeln.

Vielen Dank, das ist sehr lieb von Ihnen, das Lob meine ich.
Ich dachte an Informatik. Vieles wird nur noch in iPads getippt, die recht kurzlebig sind; die von mir sehr geschätzten Notizzettel sind vom Aussterben bedroht. So mancher Rechner wandert nach wenigen Jahren in den Müll, dabei gibt es sicher auch einiges zu holen. Mein Interesse ist vorhanden, ich will lernen, Daten wiederherzustellen, Gelöschtes zurückzuholen, Sie verstehen? Wie Mistkübel-Ausleeren, nur moderner.

Frau Reingruber, das Gespräch mit Ihnen war eine echte Bereicherung. Solche Menschen wie Sie brauchen wir. Sie hören bald von uns.

Vielen Dank Ihnen allen. Ich würde mich wirklich freuen. Auf Wiedersehen!

Carmen Rosina

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