Ein Fenster zur Schrift

Ijob 39,16-21 „Die Straußenhenne behandelt ihre Jungen hart wie Fremde; war umsonst ihre Mühe, es erschreckt sie nicht. Denn Gott ließ sie Weisheit vergessen, gab ihr an Verstand keinen Teil. Im Augenblick aber, wenn sie hochschnellt, verlacht sie das Ross und seinen Reiter. Gabst du dem Ross die Heldenstärke, kleidest du mit einer Mähne seinen Hals? Lässt du wie Heuschrecken es springen? Furchtbar ist sein stolzes Wiehern. Es scharrt im Tal und freut sich, zieht mit Macht dem Kampf entgegen.“

An einem Montagmorgen im nebligen Februar teile ich in der 10. Klasse die Bibeln aus, jene roten Ausgaben der Einheitsübersetzung, die seit Jahrzehnten im Bücherkeller die Regale belegen. Der Einband ist kaum abgegriffen. Wenig wurden sie aufgeschlagen und selten wurde in ihnen gelesen. Manchmal ist „Fuck“ sorgfältig mit dickem schwarzem Filzstift über die Schnittstelle der Seiten geschrieben. Die Swastika findet man kaum mehr hineingeschmiert. Die Zeit hat sie überholt. Phallus-Symbole hingegen erfreuen sich steter Beliebtheit. An einigen Ausgaben ist der Buchrücken abgerissen. Die Ecken des Kartoneinbands sind gelegentlich umgebogen oder abgeschnitten. Man darf die Mühe nicht unterschätzen, die derartiges Werkeln den Schülern bereitet.

Mir ist heute daran gelegen, in den Antithesen der Bergpredigt zu lesen. Und ich lasse das 5. Kapitel im Matthäus Evangelium aufschlagen. In den Versen 44 bis 47 heißt es: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes?“

Ehe meine Schüler diese Stelle finden, die mir schon seit dem Morgengrauen im Kopf rumgeistert, entsteht reichlich Durcheinander: Ist die Bergpredigt im Alten oder im Neuen Testament? Wo ist das Inhaltsverzeichnis? Auf welcher Seite muss ich suchen? Meine Schüler haben diese Bücher schon lange nicht mehr in Händen gehabt, umso erstaunter und aufgeregter sind sie. Wüst wird hin- und hergeblättert. Für Sechzehnjährige im Jahr 2015 ist das in Händen halten der Bibel exotisch und altertümlich.
Dann gibt es einen Aufschrei. Ein Junge ist auf etwas gestoßen, das Anlass zum Aufschauen und Aufhorchen gibt. Alle Blicke richten sich auf die zweite Reihe links vor mir. Er hat die Bibel ungefähr mittig aufgeschlagen und hält mit der linken Hand einen Stapel Blätter hoch, es sind bestimmt gut hundert Seiten, aus denen ein Rechteck von ca. zehn Zentimeter Höhe und fünf Zentimeter Breite herausgeschnitten ist. „Ich war´s nicht“, sagt er, während er mit vier Fingern durch die Öffnung greift und den Daumen schützend um den noch verbliebenen Rand legt. Alle lachen und rufen durcheinander: „Mensch, zeig her! Hey, echt geil!“ Ich schaue wortlos auf das fehlende Rechteck. So etwas ist mir bisher noch nicht untergekommen. Dreist, denke ich! Dabei fällt mein Blick auf ein Plakat, das am Schwarzen Brett hängt. „Guantanamo“ steht groß darüber. Anlässlich eines Referats ist es vor Wochen angefertigt worden und ziert seither die Wand mit  grausamen Folterbildern, Tag für Tag meinen Unmut hervorrufend. Wobei meine Schüler mir stets aufs Neue sagen, ich sei viel zu zart besaitet. Das ist die Realität und davor dürfe man nicht die Augen verschließen. Das mag ja Realität sein, aber ich will sie weder kennen noch im Detail sehen. Deswegen drehe ich das Poster immer um, wenn ich das Klassenzimmer betrete. Heute habe ich es vergessen.

Dann kehrt mein Blick wieder zu dem Loch in der Bibel zurück. Mir fehlen immer noch die Worte, aber das Gejohle unter den Jugendlichen dringt wieder an meine Ohren. Ich klatsche in die Hände, mahne zur Ruhe und nehme die beschnittene Bibel an mich. Der Junge, der sie entdeckt hat, händigt sie mir mitleidig lächelnd aus und meint tröstend: „Sie ist von 1980, aus dem letzten Jahrtausend, älter als ich.“ Klar, nach so vielen Jahren kann man ein Buch getrost ausmustern. Eine neue Bibel kostet nicht mal zehn Euro. Es lohnt nicht, sich aufzuregen.
Trotzdem kann ich nicht anders, als den Schaden eingehend zu betrachten. Der zweispaltig gedruckte Text bildet einen Rahmen um den ungewöhnlichen Hohlraum. Ein Fenster in der Schrift. Das achtunddreißigste Kapitel im Buch Ijob ist betroffen. Das herausgeschnittene Rechteck reicht von der Seite sechshundertelf bis siebenhundertsiebenunddreißig. Das Buch der Psalmen sowie das der Sprichwörter sind gewissermaßen ausgehöhlt. Ebenso die ersten fünf Kapitel im Hohelied. Während ich mir still den Schaden besehe, schauen mir die Schüler und Schülerinnen voll Anteilnahme zu. Das Feixen hat aufgehört.
Ein Packen Schrift ist herausgeschnitten, etwas fehlt, Entscheidendes fehlt, und der umrandende Text ist unlesbar geworden. Die Worte ergeben keinen Sinn mehr. Ich nehme die einhundertfünfundzwanzig malträtierten Seiten in die rechte Hand und befühle das glatte, hauchdünne Papier mit den Fingerkuppen sowie die kaum spürbaren Erhebungen, die der Druck erzeugt hat. Seltsam, so liebevoll habe ich das Innenleben der Bibel noch kaum gestreichelt. Die Schnittflächen am Durchguck sind gestaffelt. Es war bestimmt mühsam, mit einem Taschenmesser durch all die Seiten zu ritzen. Ich kann mir vorstellen, dass mehrmaliges Ansetzen notwendig war.
Jetzt ist in der Bibel ein Geheimfach entstanden, groß genug, um ein Handy darin zu verstecken, ein flaches Schnapsfläschchen, einen Spicker, einen Liebesbrief, Rauschgift, eine geheime Botschaft, eine Abhöranlage, …. wobei meine Fantasie bei James Bond angelangt ist.

Die Bibel ist greifbar geworden und das Buch Ijob hat ein Loch bekommen, kein zufälliges von einer Bücherwurmfamilie herausgefressenes, sondern ein sauber herausgeschnittenes. Die betroffenen Schriften sind unlesbar, aber es ist jetzt möglich, durch die hindurchzuschauen auf das Hohelied. Im sechsten Kapitel der kleingedruckten wohlfeilen Ausgabe ist zu lesen: „Ich gehöre meinem Geliebten, und er verlangt nach mir.“ (Vers11) Diese Aussicht ist nicht zu überbieten. Wie gut, dass das Fenster den Blick durch die vielen Seiten ausgerechnet auf diesen Vers lenkt. Der jahrtausendealte Text, mühsam von klugen Professoren in unsere Sprache übersetzt, während sie sich bestimmt grübelnd hinter den Ohren kratzten, hat jetzt ein banales lächerliches Loch. Kein Wunder, dass die spontane Reaktion der Schüler ein schallendes Lachen war.

Lächelnd klappe ich die Bibel zu, bedecke ihre Scham und berge sie in meiner Tasche.
Es ist nach diesem unvorhergesehenen Zwischenfall nun wirklich an der Zeit, mit den Worten Jesu die Feindesliebe betreffend im Matthäus Evangelium fortzufahren.

Am Nachmittag lege ich das Buch auf  den Tisch in meiner Bibliothek. Liebkosend streichle ich mit den Händen darüber, hülle es in ein besticktes Baumwolltuch und flüstere ihm zu: „Hier bist du sicher. Niemand wird dir etwas zuleide tun.“  An meinen Handflächen nehme ich den gleichmäßiger und ruhiger werdenden Pulsschlag wahr. Ich glaube, der Bibel fallen die Augen zu. Wäre es ein Wunder nach diesen Aufregungen? Wer weiß, wie lange sie mit der unentdeckten Wunde einsam in einer kalten Kiste zwischen fröhlich und entspannt plaudernden Gefährten gelegen hat? Jetzt kann sie sich endlich in den wohlverdienten Schlaf versenken und sich von den Träumen küssen lassen. Erleichtert atme ich tief ein und aus. Wie gut, dass ausgerechnet mir heute dieses Buch in die Hände gefallen ist.

Claudia Kellnhofer
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www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15033