Was bleibt. Besuch in der Regensburger Synagoge

Später sollte sich herausstellen, dass es die letzte Begegnung mit Dr. Andreas Angerstorfer war. Im darauffolgenden Juli wurde er tot in der Toilette der theologischen Fakultät aufgefunden.

Es ist ein Apriltag im Jahr 1942. Es ist nicht der 1. April und das, was geschieht, ist wahrlich kein Scherz. Ein Zug von Männern bewegt sich durch die Maximilian Straße, sie gehen auf der Fahrbahn in Richtung Bahnhof. Die Standarte des Begräbnisvereins wird von einem jungen Burschen vorausgetragen, nicht freiwillig. Er wurde genauso wie alle anderen gezwungen, an diesem traurigen Marsch teilzunehmen. Aber sie führen keinen Verstorbenen mit sich. Es handelt sich um kein Begräbnis. Die Männer richten den Blick beschämt zu Boden. Sie gehen, setzen Schritt vor Schritt und wollen da nicht hin, wohin sie der Weg führt.
Die Bürgersteige links und rechts sind dicht bevölkert. Schulkinder, Männer und Frauen. An einem Donnerstagvormittag ist schulfrei und offensichtlich auch arbeitsfrei. Alle nehmen sich Zeit, um diesem Schauspiel beizuwohnen. Auch die Fenster im ersten Stock der anrainenden Häuser sind mit Schaulustigen besetzt, von denen sich später niemand mehr an den traurigen Marsch erinnern wird. Zum Zeitpunkt des Fotos aber sind alle noch interessiert an dem, was passiert. Sie wollen es mitbekommen, sonst hätten sie sich in die hintersten Winkel ihrer Wohnungen verzogen und die Bettdecke über den Kopf gezogen, um nicht nur nichts von diesem Auszug der Juden aus ihrer Stadt zu sehen, sondern auch die begleitenden Geräusche nicht hören zu müssen.

Hat man Derartiges einmal durch Augen und Ohren in sein Innerstes gelassen, so plagt es einen ein Leben lang und lässt sich nicht mehr abschütteln. Man muss die Erinnerung daran bekämpfen, sie unterdrücken, leugnen, tottrampeln und hartnäckig behaupten, nichts gehört und gesehen zu haben, sonst lassen einen diese Bilder und Geräusche nicht in Ruh. Ist das die Rache der Sensationslust? Tatsache ist, dass die Wenigsten zu ihrer Erinnerung stehen. Leugnen scheint einfacher zu sein, aber es scheint nur so.

Es gibt auch Uniformierte, die den Zug der Männer mit den gesenkten Köpfen begleiten. Sie sind an diesem Tag in der Rolle der Stärkeren und vermeintlichen Sieger. An diesem Tag und einer Reihe von anderen Tagen. Sie feixen und grinsen schadenfroh. Sie weiden sich am Leid, an der Scham, am Unglück der anderen. Es werden noch viele Tage folgen, dreimal dreihundertfünfundsechzig ungefähr, an denen ihnen das trügerische Glück hold zu sein scheint. Die schmucke Uniform, die Braunhemden und die Halstücher werden sich abnützen, aber auch das Feixen wird ihnen vergehen und ihre grinsenden Grimassen werden sich in Leidensmienen verzerren, die vortäuschen wollen, Opfer statt Täter zu sein. – Aber das ist an jenem 2. April noch nicht abzusehen.

Die erhaltenen zehn Fotos, allesamt Auftragswerke, sind heute Zeitdokumente. Auf Befehl der NSDAP Kreisleitung wurde dieser Schandmarsch auf Zelluloid gebannt. Stolz hielt man fest, wie siegreich und tapfer die moderne Zeit mit den Juden fertig wird und sie zum Güterbahnhof treibt. Den Männern mit den gesenkten Köpfen ist es peinlich, fotografiert zu werden. Ihnen steht die Demütigung ins Gesicht geschrieben. Sie haben Mühe, Haltung zu bewahren. Was wird ihnen zugerufen? Die Fotos erzählen davon nichts. – Gott sei Dank, wer könnte es ertragen zu hören? Die Ahnung davon reicht schon aus, um einen erschaudern zu lassen. In den Köpfen dieser Männer überschlagen sich die bösen Ahnungen, die Erinnerungen, die Bemühungen, Haltung und Würde zu bewahren. Gibt es noch ein Entrinnen? Lässt Gott ein Wunder geschehen?

Es ist ein Tag im April, vermutlich kündigte sich der Frühling schon an. Der Rabbiner, ein stattlicher, schlanker großer Herr trägt einen gut geschnittenen Mantel. Er schreitet aufrecht vorbei. Ein schwerer Weg ist ihm zu gehen beschieden. Später erfahre ich, dass ihm noch die Flucht nach London gelang, doch dort fand er bei einem Luftangriff den Tod.
Neben ihm geht ein jüngerer Herr, um die vierzig. An seinen Namen erinnert sich niemand mehr. Wer weiß, was ihn noch alles erwartet hat? Er ist am 2. April 1942 frisch rasiert und das Gesicht mit seinen klaren sympathischen Zügen konnte sicher auch lachen und andere zum Lachen bringen. Ein feiner zurückhaltender Mann, der gut gekleidet ist und aufrecht vor sich hin schreitet, der sein Schicksal annimmt an diesem Tag, der die Augen von der Kamera abwendet und lieber ins Unbestimmbare blickt. Oft und lange betrachte ich diesen Unbekannten nun schon auf dem Foto. Immer habe ich es bedauert, seine Augen nicht sehen zu können. – Jetzt bin ich mir sicher, dass es besser so ist. Bestimmt würden diese Augen sich so in den Blick des Betrachters eingraben, dass ich die Trauer und Angst nicht ertragen und nicht mehr loswerden könnte. Die Ahnung davon ist schon zu viel. Ich will mich nicht in weitere Gedanken versteigen. Es ist doch so vieles, was bleibt, was den Blick öffnet, die Erinnerung bewahrt und eine Begegnung ermöglicht.
Auch wenn es nur ein Foto ist, das verblasst. An die Namen der abgebildeten Menschen erinnert sich schon jetzt niemand mehr. Es findet dennoch Einlass durch meine Augen und fängt dort wieder zu leben an.

Zum ersten Todestag von Anderl, meinem Hebräischlehrer, der meinen Blick für so manches geschärft hat.

Claudia Kellnhofer
www.bitterlemonverwunderung.de

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15026