Der blinde Fleck, Metaphern und Glühwürmchen

Über das Unsichtbare und die Macht des Lichts

Tief vergraben in den unbewussten Sphären unserer Wahrnehmung liegt er – jener Fleck, den keiner sehen kann. Ein unsichtbarer Akteur, der im Verborgenen wirkt, wie ein Gangsterboss, der seine Identität zu schützen weiß. Jeder trägt ihn in sich: diesen inneren Widersacher, der still unsere Sicht verzerrt – und uns schon oft zum Feind geworden ist.

Doch einmal ins Bewusstsein gerückt, steht er plötzlich ganz oben auf der Liste persönlicher Prioritäten. Reflektierte Menschen machen ihn sich zunutze: als Katalysator für Wachstum, als Anlass zur Veränderung von Verhalten oder Perspektiven – ja, manchmal ganzer Weltbilder. Wer ihn erkennt, dem öffnen sich mitunter Türen zu neuen inneren Welten.

Andere hingegen ziehen es vor, blind zu bleiben. Denn ist es nicht verlockend, sich selbst Ego-gekrönt im Zentrum aller Geschehnisse zu wähnen? Zu glauben, dass die ersehnte Aufmerksamkeit der anderen aus der eigenen Größe erwachsen ist? Doch der Fall ist tief, wenn die Bühne – gezimmert aus Brettern der Ignoranz und Fehleinschätzung – in sich zusammenstürzt. Dann endet die Inszenierung abrupt, nicht selten befeuert von einem müden, desillusionierten Publikum. Der Vorhang fällt – und mit ihm der vermeintliche Held.

So menschlich dieser blinde Fleck auch ist, so dämonisch wirkt er in den Händen jener, die ihn bewusst einsetzen. Manipulation, Machtgewinn – oft auf Kosten derer, die nicht sehen wollen. Doch leider, so scheint es, ist die Anzahl der Blinden größer als jene der Sehenden. Und damit ist nicht das tatsächliche Sehvermögen gemeint, sondern die klare Sicht nach innen.

Es fehlt an Lichtquellen, die diesen Blick ermöglichen, die das Versteck des Flecks aufdecken. Doch nicht immer braucht es große Leuchttürme. Oft genügt schon das kleine Licht eines Glühwürmchens – wenn es zur rechten Zeit den Weg weist.

Diese Glühwürmchen sind Momente der Selbsterkenntnis. Sie erscheinen blitzartig, verweilen kaum länger als eine Millisekunde – und reichen doch, um ein inneres Leuchtfeuer zu entzünden. Ein Gedanke entsteht, der Zeit hat zu wachsen. Und mit ihm wächst die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel der Erkenntnis zu betrachten.

Ein Bild formt sich – aus Puzzleteilen, Erinnerungen, Einsichten. Am Ende steht kein lautes Erwachen. Nur ein stilles Verstehen – und das Verschwinden eines Schattens, der zu lange die Optik verzerrt hat. Zurück bleibt Klarheit. Und vielleicht ein kleines Glühwürmchen, das glücklich lächelt.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25113