Allerhand zu Allerheiligen! (Und Irmtraud hätte nichts dagegen.)

Dass er es wäre, der einmal übrig blieb, hätte er nicht gedacht.
Er zog ein weißes Hemd aus dem Haufen schmutziger Wäsche, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatte. Dieses hier würde noch einmal zu tragen sein, der Kragen war sauber, er könnte einfach einen Pullover darüber anziehen. Seine Hände zitterten ein wenig, als er sich mit dem Schließen des obersten Knopfes und dem Binden der Krawatte abmühte. Auf eine solche würde Irmtraud bestehen, an einem Tag wie diesem. Obwohl es dafür heute fast zu warm war. So, und nun wurde auch die Zeit noch knapp. Seine Füße verhedderten sich in einem der auf dem Boden liegenden Wäschestücke und er wäre beinahe gestolpert.
Irmtraud hatte ihn auf ihre humorvoll trockene Art noch wortwörtlich beschworen, keinesfalls wie andere verwitwete Männer der Verwahrlosung anheimzufallen und er hatte ihre Hand gedrückt und gezwungen gelächelt. Keine Sorge, meine Liebe, das wird nicht passieren. Und jetzt diese Unordnung! Im Jänner war sie gestorben. Für den Augenblick verscheuchte er die Gedanken an seine Frau.
Ein Friseurbesuch war längst überfällig, stellte er beim Kämmen fest. Beim Hinausgehen nahm er den Müll mit, der schon zum Himmel stank. Wo, zum Teufel, waren die neuen Müllbeutel? Da fiel ihm ein, dass er nicht zu Mittag gegessen hatte, die Nervosität vor dem öffentlichen Friedhofsgang hatte Appetit gar nicht aufkommen lassen. Meist kochte er sich Erdäpfel, die er nach dem Schälen ohne weitere Verarbeitung aß. Dazu eingelegte rote Rüben aus dem Glas. Manchmal auch Sellerie. Oder er kaufte Knödel beim Fleischhauer, die nur noch zu kochen waren, eine leichte Übung. Frisch Zubereitetes gab’s nur im Gasthaus oder bei der Verwandtschaft, die ihn reihum sonntags zum Essen einlud. Wenn es so weiterging, würde er ins Altersheim ziehen müssen, um ausreichend versorgt zu sein. Wobei es beileibe nicht nur ums Essen ging.

Da stand er nun und fühlte sich allein und irgendwie fremd, so wie ganz früher, als er aus der Großstadt zu Irmtraud ins Dorf gezogen war.
Die Leute hatten sich am Marktplatz versammelt und beendeten ihre Gespräche, als die Blasmusikkapelle anhob und danach der Pfarrer seine wohlsortierten Sätze sprach. Er lockerte seine Krawatte und atmete tief. Die Blicke, die ihm begegneten, kamen ihm betreten und mitleidig vor. Es war diese besondere Rücksichtnahme, die man ihm, dem kürzlich Verwitweten, angedeihen ließ.
Vor vierzig Jahren war er hier ein Fremder gewesen, aber sein Beruf als Lehrer ließ ihn schnell Kontakte knüpfen. Nun waren seine eigenen Kinder erwachsen und in Wien wohnhaft und er selbst lange in Pension.
Er trat nervös von einem Bein auf das andere und im Kopf kam ihm heute alles durcheinander; er war zu warm angezogen und atmete schwer. Wo hatte er nur die neuen Müllsäcke hingetan?
Die Erinnerung an die vielen Allerheiligengänge zum Friedhof, an denen er teilgenommen hatte, stieg in ihm auf. Es gehörte sich einfach mitzugehen, egal wie man über katholische Rituale dachte. Und so hatte er dabei immer die Menschen beobachtet. Die versprengten Teile der Familien kamen oft von weit her und bemühten sich, ein erfolgreiches Bild ihrer selbst abzugeben. Vor den Nachbarn und anderen, die man einst gekannt hatte, mit denen man zur Schule gegangen war, mit denen man die ersten verbotenen Zigaretten geraucht, im Kirchenchor gesungen oder um ein Mädchen rivalisiert hatte. Sie zeigten sich einander einmal im Jahr – erfolgreich, glücklich und wohlauf. Kamen in neuer Herbstgarderobe, manche mit Hut, andere im Pelz. Später dann erschienen sie mit ihren Kindern an der Hand, mit neuen Partnern, neuen Autos, frisch gefärbten Haaren.

Seine Söhne waren verspätet, ein Stau auf der Westautobahn, hatten sie ihn per SMS wissen lassen.
In der Prozession hatte er immer die Bauern beobachtet, die Männer, die über die Jahrzehnte der Unbill des Lebens immer weniger Substanz entgegenzusetzen hatten, deren Anzüge mit der Zeit nicht nur unmodern und fadenscheinig geworden waren, sondern ihren Trägern auch zu groß. Rechtschaffen alt war auch der Mann, der vor ihm herging, die Haare für den Allerheiligenauftrieb kurz geschoren, einen weißen Streifen Haut rund um den Kopf freigelegt, diesen scharf abgegrenzt von der Bräune der letzten herbstlichen Sonnenstunden während der Kukuruz-Ernte. Aus dessen etwas zu kurz geratenen weißen Hemdsärmeln ragten unförmig große Hände mit roter, rissiger Haut, die sich sichtlich fehl am Platz fühlten, wie sie da so hingen, ganz ohne eine ihnen vertraute, zu erledigende Aufgabe. Das rührte ihn.
Irmtrauds Sachen müsste er auch endlich einmal durchsehen und zur Kleidersammlung bringen.
Ein Bauer humpelte in der Prozession neben ihm her. Die alte Verletzung stammte von einem Unfall bei der Forstarbeit und war nie ordnungsgemäß behandelt worden, damals hatte es noch keine Pflichtkrankenversicherung für Bauern gegeben, so wurde nicht zuletzt an sich selbst gespart und Erforderliches unterlassen.
Er mochte den Ort und seine Bewohner, und doch zog er auf Anraten seiner Söhne ernsthaft in Erwägung, in ein Altersheim nach Wien zu ziehen. Die beiden wären dann in seiner Nähe. Hier gab es doch nur Erinnerungen an Zeiten, die sich nicht mehr heraufbeschwören ließen. Sollte er bleiben oder gehen?
Sein Nachbar flüsterte ihm zu: Viel zu warm ist es heute, fünfzehn Grad, fast unangenehm!

Es war schnell gegangen, das Leben, und nun war er selbst so einer, der alt und am Schrumpfen war. Er hatte abgenommen in diesem unglückseligen Jahr und seine Kleidung hing lose. Sein Haar war weiß geworden, eine Zahnkrone im Oberkiefer herausgebrochen und seine Energie, diese wieder herstellen zu lassen, enden wollend.
Der Tross war bei den Gräbern angekommen, die dünnen Nebelschleier hielten die Sonne nicht ab, die vorauseilende Vorsicht vor dem angeblich am Friedhof immer kalt pfeifenden Wind Lügen zu strafen. Er lockerte seine Krawatte abermals und stützte sich auf einen Grabstein. Seine Knie zitterten, er hätte etwas essen sollen. Inzwischen waren die Söhne eingetroffen und standen rechtzeitig mit ihm am Grab Irmtrauds.
Am Nebengrab stand eine Frau aus seiner näheren Nachbarschaft, eine Friseurin, deren Mann vor ein paar Jahren gestorben war. Sie hatte das Unglück also durchgestanden und man sah es ihr nicht mehr an. Er sah, wie sie in die Knie ging, um ein paar widerspenstige Zweige der Grabbepflanzung zu entfernen. Als sie beim Aufrichten kurz stockte, war er ihr spontan behilflich, indem er sie wie beiläufig am Ellbogen hochzog. Sie nickten sich kurz zu.
Man möge doch bitte das kurze irdische Dasein nützen, um sich auf das lange Leben danach vorzubereiten, meinte der Pfarrer ambitioniert. Demnach hätte er Irmtraud also nicht für immer verloren, dachte er und lachte kurz auf, bevor sich alles im Kopf zu drehen begann und seine Knie nachgaben.
Von seinem Sohn und seiner Nachbarin, die ihn auf der anderen Seite beherzt unterhakte, wurde er gestützt, bis er sich wieder fing. Da spürte er, wie weich sie war und wie kräftig sie ihn hielt. Sie wedelte ihm Luft zu und er roch ihr Parfum, als sie flüsterte: Deine Haare! Ich komme gleich morgen bei dir vorbei und dann kümmere ich mich um deine Frisur. Die kriegen wir schon wieder in den Griff. Auf ihr zaghaft verlegenes Lächeln hatte er seinerseits mit einem erstaunten reagiert. Wie unerwartet rasch sich nun die Gedanken an das Altersheim in der diesigen Novemberluft davonmachten. Er lächelte und wusste, Irmtraud hätte nichts dagegen.

Michaela Swoboda

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