Alles offen – an Tagen wie diesem

Es gibt Tage, da ist man gezwungen, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen, durch die man sich selbst ein bisschen besser kennen lernt. Was ist mir wichtig, wofür stehe ich, wer bin ich, das alles klärt sich mit und aufgrund dieser Entscheidung.

Und genau so ein Tag war dieser, auch wenn es zu Beginn gar nicht danach aussah.
Der Plan war simpel und in der Form auch nicht neu: mich in eine U-Bahn setzen, danach in einen Bus und kurz vor Ladenschluss bei einem Trödlerladen namens Fundgrube vorbeischauen. Ich brauchte eine Lampe, und als Studentin der Philologie hatte es mir dort nicht nur die wirklich humane Preisgestaltung angetan, sondern auch die Belesenheit der beiden älteren Damen, die den Laden mit viel Charme betreuten. Meine häufigen Besuche dort waren gerne gesehen, wenn ich auch nicht immer etwas kaufte.
So freute ich mich auf  gute Gespräche über Literatur, nachdem die anderen Kunden gegangen waren, und vielleicht sogar ein brauchbares Schnäppchen. Nicht zu vergessen, Diego, den Enkelsohn einer der Besitzerinnen, der mich glühend verehrte und mir schon so manches Mal heiße Blicke zugeworfen hatte, fesch war er ja, ein Schnuckel und gar nicht dumm, vielleicht würde ich ihn diesmal erhören, irgendwie war ich heute zu allem aufgelegt.

Der Weg ins Paradies ist oft steinig …
In der U-Bahn wurde ich angerempelt, sodass ich beinahe zu Boden ging, meine Tasche tat es tatsächlich. Das hat man davon, wenn man stehen bleibt, damit ältere Passagiere sich gleich hinsetzen können. Der Vorfall veranlasste mich, von dieser guten Absicht Abstand und selbst Platz zu nehmen. Das bereute ich sofort.
Beim jungen Mann neben mir läutete das Smartphone, und schon war es vorbei mit der Ruhe. Was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde, verstand ich natürlich nicht, der Stimmlage nach war es eine aufgeregte Frau. Aufgrund der Antworten des Jünglings wurde ich auch schnell nervös, hier  nur ein leicht verkürzter Auszug aus dem Gespräch zur Erklärung, ich will Sie nicht langweilen:
„Hi Rita! Wie geht’s? … Ah, das ist aber blöd. Was brauchst du? … Ein bestimmtes? … Also irgendeins, was gegen Läuse hilft, aber nichts ganz Arges, für die Kinder, ok. … Passt, ich steige dann bei einer Apotheke aus. … Jaja, das passt schon, das Geld gibst du mir nachher, wenn ich bei dir bin. … Ich versteh dich grad schlecht: Wieso soll ich nicht hineingehen? … Nein, das auch noch. Ja, da hast du recht, Masern sind kein Spaß, besonders nicht für Erwachsene.“

Mittlerweile juckte es mich nicht nur am Kopf, sondern am ganzen Körper. Beim Hinausgehen hörte ich noch, wie er etwas leiser zu Rita sagte: „Du, die neben mir hat sich auch schon so gekratzt. Hoffentlich hole ich mir nichts von der.“
Die darauffolgende Busfahrt verlief glücklicherweise ereignislos, sodass ich mich ganz der Wiederherstellung meiner psychischen Gesundheit widmen konnte, sprich: Ich konnte endlich das Phantom-Jucken als solches erkennen und mit dem Kratzen aufhören.

Dann, das Eintauchen in die geliebte Altwaren-Welt, was für ein Vergnügen, das alte Glöckchen bimmeln zu hören, wenn ich die Türe öffnete.
Eine der beiden Besitzerinnen stürmte auf mich zu und begrüßte mich überschwänglich. Die andere war damit beschäftigt, einer Runde von drei älteren Damen und einem Herrn im Anzug Schnaps zu kredenzen. Ich hatte sie alle schon hier getroffen, es schienen Freunde oder Stammkunden zu sein.
Die Runde saß einträchtig an einem großen (natürlich sehr alten) runden Tisch und blickte abwechselnd in ihre halbgefüllten Gläser und auf eine geheimnisvolle Schachtel in der Mitte. Die Fundgrube hatte an diesem Tag eine besondere Lieferung bekommen, verriet mir die noch stehende Dame, verschiedenste Schnäpse und Liköre, weit über fünfzig Jahre alt, etwas ganz Besonderes.
Warum sie die kleinen Behältnisse der Reihe nach austranken, statt sie für eventuelle Käufer aufzuheben, erklärte sie damit, dass die leeren Fläschchen weit wertvoller für Sammler seien als volle. Nun denn, weg damit, schien die Devise zu sein. Mich verwunderte in der Fundgrube fast gar nichts, es war eben eine eigene Welt.

Und da war auch schon Diego, hinter einer alten Kommode lauernd, hocherfreut, als ihn die Dame, die sich gerne dazusetzen und an der Geselligkeit teilhaben wollte, bat, er möge sich doch um meine Wünsche kümmern …
Er führte mich in einen Nebenraum, um mir eine Lampe zu zeigen, zu dumm nur, dass da keine war. Wir waren gerade am Weg in das nächste Hinterzimmer, als uns der dringlich scheinende Ruf seiner Oma erreichte, und er, der brave Enkel, zwinkerte mir zu und meinte, er sei gleich wieder da.
Die Wartezeit vertrieb ich mir mit Herumgestöbere, was sich als sehr lohnend herausstellen sollte. Eine Schatulle hatte es mir angetan, ich öffnete den Deckel, sah mir alles sehr genau an. Und entdeckte das Unfassbare, wie aus einem Roman: einen doppelten Boden. Hastig hob ich die dünne Abdeckung an, darunter lagen – tatatata! – zwanzigtausend Schilling. Mein Herz klopfte, ich versuchte, schnell durch 13 Komma irgendwas zu dividieren, es misslang. Die Rendite war auf jeden Fall sensationell, angeschrieben war die Schatulle mit € 13,-.

Ich rang mit mir. Diego würde gleich zurückkommen. Es war viel Geld für mich, die ich jeden Cent umdrehen musste. Ich gab die Abdeckung wieder auf den Boden, stellte die Schatulle zurück, atmete tief durch, ging in den Hauptraum zurück, das musste ich mir jetzt gut überlegen.
Diego war nirgendwo zu sehen, er hatte für seine Oma etwas holen müssen, würde aber gleich wieder da sein, wurde mir gesagt. In der Zwischenzeit hatte sich die Runde um zwei Personen reduziert und ich wurde eingeladen, mich dazuzusetzen und ein oder zwei Gläschen mitzutrinken. Eine Frau wankte leicht beim Aufstehen, verabschiedete sich herzlich und entfernte sich ebenfalls Richtung Türe.
Ich hatte mich schließlich hingesetzt, völlig überfordert mit der Entscheidung: Geld oder Moral? Sollte ich die Schatulle um € 13,- kaufen, ohne etwas zu sagen? Keiner hätte einen Schaden davon … Oder den Damen Bescheid geben? Vielleicht doch zuvor noch Diego meine Wünsche erfüllen und die Schatulle warten lassen? So sah ich in mein frisch gefülltes Glas und war leicht überfordert.
Eine Besitzerin ging Richtung Ladentüre, um sie abzuschließen, und kam freudestrahlend zurück: „Schaut mal, die Elfi ist noch gekommen, die Elfi! So eine Freude aber auch, wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen! Gut schaust du aus, sehr gut! Komm, setz dich zu uns, sei unser Gast.“
Damit war die Zeit der Entscheidung gekommen. Ich setzte meine Prioritäten, ließ Schatulle Schatulle sein und den mittlerweile zurückgekehrten Diego Diego.

So kam es, dass ich einen langen Abend in der Fundgrube verbrachte.
An einem Gründerzeit-Tisch Schnaps aus Jugendstilgläsern trinkend, gemeinsam mit Elfriede Jelinek. Schluck.

 Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 13002