Best Control

Sie trank ihr Glas Milch in einem Zug. Ein Genuss, den nur wenige nachvollziehen konnten, aber was wussten die schon?
Wenn sich diese milchig-schleimige Schicht innen in ihrem Hals anschmiegte, ölig fast, das war es, was sie nach so einem Job dringend brauchte.
Heute war es besonders schlimm gewesen: nächtens auf den Knien herumzukriechen, mit gekrümmtem Rücken, das Gesicht nahe dem Boden nach etwas suchend, von dem sie nicht wusste, wie es aussah, nur allzu oft dem Schmutz und dem Staub dort beinahe schutzlos ausgeliefert.
Die äußerliche Reinigung war ja schnell erledigt, duschen, umziehen, fertig.
Aber innen drin in ihrer Kehle schien es, als habe sich all der Unrat der Orte festgesetzt, an denen sie zu tun hatte.
Und es waren selten die schönen Seiten des Lebens, die sich ihr dort präsentierten.
Heruntergekommenes, der unterste Rand unserer Gesellschaft, so schien es ihr, sehr hart im Urteil, denn sehr oft waren es ganz normale Häuser, die sie aufsuchen musste, mit belanglosen Menschen, die dort wohnten, arbeiteten, schliefen, ja, sogar aßen. Kaum vorstellbar, nach all ihren Entdeckungen dort, aber ihre Maßstäbe an Hygiene waren wohl kaum die üblichen, wie man so sagt.
Das hätte sie sich auch nicht träumen lassen, eine akademische Ausbildung, dann eine Umschulung, und nun musste sie sich, ohne Aufsehen zu erregen (besser, die Nachbarschaft bekam nichts mit, was heißt, besser; unumgänglich, wenn sie länger in diesem Job bestehen wollte, das wurde ihr von Beginn an eingetrichtert …) meist mitten in der Nacht oder zumindest nach Einbruch der Dämmerung zu ihr unbekannten Behausungen kutschieren lassen, in einem unauffälligen Wagen, versteht sich.
Keine Zeit verschwenden, systematisch vorgehen, analytisch denken, auch wenn ihr noch so graute vor dem, was sie fand, jeden Vorgang auch bildlich dokumentieren, bereits Notizen verfassen, diese später ausformulieren, das reichte aber am nächsten Tag.
Wenige waren so gut wie sie, so war sie ausgebucht bis zu ihrem Urlaub. Den verbrachte sie ausschließlich bei ihr zu Hause. Da war alles schön, an seinem Platz, wenig zu befürchten.
So wie jetzt. Alles in Ordnung. Morgen würde sie die Bilder sortieren müssen, sich grausen, stundenlang nichts essen können, vielleicht in einer Arbeitspause Milch kaufen gehen, sie hatte einmal gelesen, dass Milch sehr reinigend wirken soll.

Hatte ihr diese Arbeit jemals wirklich Spaß gemacht? Sie wusste es nicht mehr. Eigentlich war sie prädestiniert dafür, mit ihrem Blick für die noch so kleinsten schmutzigen Details, die nachlässig verwischten Spuren, keine Ahnung hatten sie, die Menschen. Nicht davon, wie man Sachen ordentlich abwischt, wie man Verräterisches endgültig zum Verschwinden bringt, nicht, wie selbst mit freiem Auge sichtbar ganze Geschichten offen da liegen, von Vernachlässigung, von grobem Verschulden, ja, von vorsätzlichem Verbergen, von strafbarem Verhalten. Und dafür war sie zuständig, unbestechlich in ihrem Blick.

Der junge Kollege, der sie zum Essen hatte einladen wollen, wusste nicht, worauf er sich da eingelassen hatte. Ein Flirt, der ihn weiterbringen sollte in seinem Werdegang, könnte nicht schaden, hatte er wohl gedacht. Sie galt als das Mastermind im gesamten Team, und darüber hinaus; und sie war sich dessen bewusst. Aber ein Essen in einem Restaurant, da war sie mal gespannt. Die Auswahl wollte sie sich schon ansehen, denn dass er ihr mehrere Lokalitäten zur Begutachtung anbot, verstand sich wohl von selbst.
Wie erstaunt war sie, als er sich erbot, für sie zu kochen, bei ihm zu Hause. Leichte Panik ergriff sie. Damit hatte sie nun nicht gerechnet. Aber manchmal gibt es selbst bei kontrolliertesten Menschen einen Moment, in dem sie unvorsichtig, ja übermütig werden, und so sagte sie ihm für den nächsten Samstagabend zu. Der Kollege wusste sich vor Freude kaum zu fassen. Sie sah sich gezwungen, ihm aufzuerlegen, dass im Kollegenkreis niemand Wind von ihrem bevorstehenden privaten Treffen bekommen sollte.

Warum diese Aufregung, wozu das Treffen, und wann hatte sie zum letzten Mal etwas gegessen, das nicht sie selbst zubereitet hatte? Das konnte böse enden.
Sie hatte wohl zu lange ihre Freizeit in dieser eigenen, wenn auch großzügigen Wohnung verbracht, sich alle auswärtigen Vergnügungen versagt, und so hatte sie vielleicht einen Lagerkoller oder ähnliches, der sie zu solch gewagtem Tun verleitete.
Außerdem war der Mann immerhin ein ambitionierter Kollege, sie nahm also an, dass vom hygienischen Standpunkt aus alles in Ordnung sein müsste, zumindest eher als beim Rest der arglosen Bevölkerung. Sie wollte sich also überraschen lassen, ganz entgegen ihrer vorsichtigen Natur.

Die Begegnung warf ihre Schatten voraus. Bereits am Donnerstag traf sie den Hoffnungsvollen, als er seine Unterlagen für den nächsten Auftrag im Büro abholte.
Er lächelte sie verschwörerisch an, während sie ihre Dokumentation des letzten Einsatzes der Sekretärin übergab. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Worauf hatte sie sich da bloß eingelassen?
Um Gerüchten keinen Vorschub zu leisten, drehte sie sich abrupt um und verließ das Büro hastig und grußlos.

Der Kollege rief sie am Freitag an, fast flehentlich, um sie zu fragen, ob ihr Treffen aufrecht sei, was sie bejahte. Die Neugierde überwog doch, ein Einblick in seine Wohnung würde ihr viel über seine Person verraten, aus der sie nicht recht schlau wurde. Zur Abwechslung war diese Wissbegier diesmal kein „Fall“, der erledigt gehörte, sondern eine Privatsache.
Sie machte sich am Samstagabend auf den Weg, der Freitag war unerfreulich-unappetitlich zu Ende gegangen, und sie hatte dessen Dokumentation tagsüber erledigt. So war sie froh, diese Bilder aus dem Kopf zu bekommen, nun Abwechslung zu  haben, Aufregung sogar, und was für eine!

Der Mann war korrekt gekleidet, wie immer. Das sah sie gleich, als er die Tür öffnete, sofort nach ihrem Klingeln, als hätte er die ganze Zeit über auf sie wartend dahinter gestanden. Ein vielversprechender Beginn also.
Er begrüßte sie förmlich, mit entgegengestrecktem rechtem Arm allerdings, das hätte es nun wirklich nicht gebraucht. Als er sie bat, einzutreten und voranzugehen, bewunderte sie den blitzblanken Flur, die gekonnt auf Hochglanz polierte Garderobe und die in Reih und Glied aufgestellten Schuhe. Sie fühlte sich auf Anhieb wohl. Als sie ins Esszimmer trat, stockte ihr der Atem. Ein Luster über einer geschmackvoll gedeckten Tafel verströmte warmes Licht, das eine fast unwirkliche Szene beleuchtete.
Auf dem Tisch schmiegten sich Pipetten an Reagenzgläser, lockte glänzendes Stahlbesteck neben Messinstrumenten jeglicher vorstellbarer Art, lagen dezent Kabel, wo welche für elektronische Vorrichtungen benötigt wurden, in schöner, abgestimmter Ausrichtung, insgesamt ein Bild herrlicher Ordnung, Kontrolle und Messbarkeit. Sie spürte die Lust, zu erforschen, allem auf den Grund zu gehen, was es zu wissen gab. Er strahlte sie an. Ihrem Gesichtsausdruck sah er an, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
„Ich wusste, Sie würden nichts essen, was Sie nicht genau kennen. Darum darf ich Sie ganz herzlich zur gemeinsamen Analyse einladen. Es freut mich so, dass Sie hier sind, das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Freude ist gar kein Ausdruck dafür. Sie sind meine Muse …“
Nur mühsam gelang es ihr, nachdem sie das erste Erstaunen überwunden hatte, ihn zu unterbrechen, mit einem begierigen „Fangen wir an, Herr Kollege! Was wollen Sie uns als erstes auftragen?“
„Wir beginnen mit Paradeiscremesuppe, Sie wissen, worauf das hinausläuft?“ meinte er noch mit einem ausgelassenen Zwinkern, das sie so von ihm nicht kannte.
„Keine Ahnung“, meinte sie unschuldig. „Aber wenn es etwas zu finden gibt, lieber Kollege, so verlassen Sie sich darauf, wird es heute Abend entdeckt.“

Carmen Rosina

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