Carlos

Der Regen goss seit Stunden und doch kam es ihm vor, als ob der Boden hart und trocken bliebe. Als ob die Erde nie genug bekäme und immer mehr in sich aufsaugen müsste. Die Männer schafften unermüdlich die großen braunen Pakete von der Lagerhalle auf den Lieferwagen. Jedes einzelne fest eingepackt in eine durchsichtige Plastikhülle, damit der kostbare Inhalt nicht nass werden würde. Wie in einer Endlosschleife vollbrachten die gesichtslosen Arbeiter seit fast zwei Tagen  dieselben Bewegungen, einer Ameisenstraße gleich, ohne Unterlass, ohne Beschwerden, ohne Pause. Als die Wolken aufgezogen waren und der Regen immer stärker und unerbittlicher auf sie hinab strömte, hatten sie nicht mit der Wimper gezuckt, keinen Moment innegehalten, um den Kragen aufzurichten oder sich gar unterzustellen.

Carlos war wie hypnotisiert von diesem Perpetuum mobile. Er betrachtete die Handlanger mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Einige von ihnen würden vermutlich nicht mehr lange leben. Würden den körperlichen Anforderungen dieses Jobs nicht mehr standhalten, von Kollegen  wegen ein paar Pesos erschlagen oder erstochen werden oder im Kugelhagel der Konkurrenz ihr Leben lassen. Es gab viele Möglichkeiten, in diesem Land zu sterben. Besonders in diesem Gewerbe. Manchmal spielte Carlos ein kleines Spiel. Welcher würde als nächster verschwinden? Würde den einen, etwas älteren mit ergrautem Bart, das Dengue- oder das Gelbfieber dahinraffen? Oder der Junge, der kaum älter als siebzehn wirkte, den fatalen Fehler machen und zu viel Geld unter seiner Matratze verstecken, um es seiner Familie zu schicken? Woraufhin ihm einer seiner compañeros in der Nacht die Kehle aufschlitzen würde, um an die ersehnten Scheine zu kommen, die ein besseres Leben versprachen, um letztendlich doch nur beim ansässigen Schwarzbrenner zu landen?
Es war schwer vorstellbar, dass sein Vater einst einer von ihnen gewesen war. Sein Vater, stets in feinsten Zwirn gehüllt, mit Krawatten passend zu seinen Stecktüchern und Schuhen, die mehr Geld kosteten, als diese Arbeiter je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen würden. So wie diese armen Seelen war sein Vater einst seinem Traum gefolgt. Dem Traum von Arbeit, von Geld, von einem besseren Leben. So voller Hoffnung und Verzweiflung, dass kein Gedanke an die Gefahren oder die Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens verschwendet wurde. Doch sein Vater hatte es geschafft. Hatte sich durchgekämpft und überlebt. Und nicht nur das. Er hatte ein Imperium mit unvorstellbarem Reichtum in die Welt gesetzt und Carlos würde es eines Tages erben. Und so wurde sein Vater niemals müde, ihm seine Geschichte zu erzählen. Eindringlich, mit tiefer, sonorer Stimme und mit feurigen Augen malte sein Vater ein blutiges, schlammiges Gemälde von seiner Kindheit und Jugend. Von seinen drei Geschwistern, die er sterben sah, weil weder Arzt noch sauberes Wasser eine Selbstverständlichkeit in ihrem kleinen Dorf gewesen waren. Vom gewalttätigen Vater, der seinen kargen Verdienst für Schnaps ausgab, von der sanften Mutter, die mit aller Kraft dafür gekämpft hatte, ihren Jüngsten in die Schule zu schicken. Doch mit zehn Jahren half alles Betteln und Flehen nichts mehr und Carlos Vater musste in der nahegelegenen Kaffeeplantage sein Auskommen finden. Die Arbeit war hart und gefährlich. Manchmal musste er so viele Stunden schuften, dass er zu erschöpft war, um nach Hause schlafen zu gehen. Dann rollte er sich in einer Ecke einer Baracke am harten Boden zusammen und betete, dass man ihn in Frieden ließ.

Die Felder waren häufig Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen den Guerilleros aus den Bergen und der Armee. Carlos Vater wusste nicht, worum es dabei ging und es kümmerte ihn auch nicht. Das einzige, worauf es ankam, war sich so klein wie möglich zu machen, wenn die Schüsse über die Sträucher peitschten. Viele waren zu langsam und fanden wimmernd und flehend ihr Ende auf der fruchtbaren Erde. Männer, die nichts anderes erhofft hatten, als Geld zu verdienen, um ihre Familien zu ernähren. Die kein Interesse an Krieg oder Politik hatten. „Natürliche Auslese“, hatte der alte Vorarbeiter nach dem ersten Vorfall gelallt und dem zitternden Jungen eine Flasche Fusel zur Beruhigung hingehalten. „Wenn Du zu dumm und zu lahm bist, niño, dann wirst Du sterben. Früher oder später.“ Der Kleine hatte einen tiefen Schluck genommen und sich geschworen, am Leben zu bleiben.

Marihuana nahm ihm die Angst und ließ ihn den harten Job ertragen. Außerdem machte er Bekanntschaft mit den lokalen Dealern, für die er fortan auch kleine Botengänge erledigte und die ihn mit Gras entlohnten. Seine Geschicklichkeit und Verlässlichkeit machten schnell die Runde und so bekam er immer mehr und immer größere Aufgaben, für die er bald auch bares Geld verlangte. Nach nicht einmal zwei Jahren kündigte er bei der Kaffeeplantage und widmete sich vollends den Machenschaften des ortsansässigen Drogenkartells. Er war kein kräftiger Bursche und auch wenn er zu kämpfen wusste, war es für sein Weiterkommen und Überleben unumgänglich, sich Respekt zu verschaffen. Mit dreizehn erstand er seine erste Handfeuerwaffe, mit fünfzehn tötete er das erste Mal einen Menschen damit. Mit nur 21 Jahren war er zum Kopf einer gefürchteten Bande aufgestiegen, die mit Entführungen und Kokainschmuggel von sich reden machte. Nachdem er sich mit 28 Jahren des bis dahin größten Drogenbarons entledigt hatte, übernahm er dessen Geschäfte und gründete sein Imperium. Baute Villen und Kokaplantagen, überschüttete die Bevölkerung mit Geschenken, um sie stets an seiner Seite zu wissen.

„Du musstest niemals kämpfen, hijo“, dröhnte die Stimme seines Vaters an Carlos Ohr und der bauschige Schnurrbart kitzelte dabei an seiner Wange. „Doch du musst wissen woher all das kommt. Wie viel Blut fließen musste, damit du nachts in deinem weichen, warmen Bett träumen kannst ohne zu frieren, ohne zu hungern.“ Diese Worte hatte Carlos mittlerweile verinnerlicht, so oft hatte er sie gehört. Und er hatte sich geschworen, stark und tapfer zu sein und die Geschichte seines Vaters niemals zu vergessen. Deswegen hatte er auch nicht geweint, als dieser nicht zu seinem Geburtstag erschienen war, auch wenn er es versprochen hatte. Denn er wusste, dass alle Opfer bringen mussten. Er wusste, dass sein Vater gejagt wurde. Von der Regierung, der Konkurrenz, selbst von Verbündeten. Nun waren drei Monate seit seinem zwölften Geburtstag vergangen und sein Vater war immer noch nicht aufgetaucht. Vor drei Wochen hatte er das letzte Mal mit ihm telefoniert. Seitdem nichts.

Carlos hockte im Stall im warmen Heu und betrachtete die Männer, wie sie die Pakete unermüdlich in den Lastwagen schafften. Es würden noch zwei oder drei Fuhren sein, dann hätten sie ihre Arbeit getan. Manchmal kam sein Vater, um die großen Lieferungen zu überwachen. Carlos wartete. Er gab die Hoffnung nicht auf.

Constanze Scheib
Auszug aus: PenArt, Ausgabe Frühjahr, 2014, „Ein Geschäft mit Träumen“

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