Wild

St. Pölten, 21. August 2011

Liebe Natalia!

Wenn man sich eine Vorgeschichte ausdenken wollte, die immerhin gut genug sein sollte, um als glaubwürdige Wahrheit durchgehen zu können, so müsste man zuallererst deutbare Fakten aus der Vergangenheit finden, an denen man die eigenen Theorien festmachen könnte. Steige ich wie Orpheus hinab in das Vorherige? In das Leere, Unbedachte? Geschichtslose und Existenzlose? Die Geschichte vom Goldenen Zeitalter, vom Garten Eden? Darauf gehe ich nicht ein! Es ist irgendetwas Verstörendes geschehen und eine Oktave tiefer beginnt wieder alles von Neuem:

Wir saßen zu zweit abends beim Chinesen vor einer Landschaftsmalerei, und es hätte sich gerade in diesem Zusammenhang etwas auftun müssen: dass das Bild in seiner Einfachheit, in seiner Selbstverständlichkeit alles, ja wirklich alles wiedergibt, was von Relevanz für uns ist. Damals war alles so schwer, so naiv, so erdlastig. Es war so furchtbar. Jedenfalls nicht alles. Aber der ganze Kontext. So wie alle Farben gemischt irgend entweder Weiß oder etwas Ähnliches wie Kackbraun ergeben.

Die doppelte Unschärfe zwischen dem Erhabenen und dem Niederen. Zwischen dem verbrennenden und dem wärmenden Feuer, zwischen der holden und der vernichtenden Natur. Das wievielte chinesische Sprichwort war das schon wieder? Die Stadt kannst du wechseln, den Brunnen nicht!

Da könnte ich schon einmal nachhaken: Wo genau soll sich eine solche Landschaft befinden: China? Taiwan? Korea? Hat das innere Auge des Zeichners sich diese für uns ausgedacht und wenn ja, was waren die Gründe dafür?

Du, ich habe da eine schöne Idee, was das darstellen könnte nicht. Und vergiss bitte mal den Schrott mit der Naturmimesis. Mir ist, als ob dieses Bild – und wahrscheinlich gäbe es eine viel bessere Vorlage eines bekannteren Meisters –, mir ist so, als wäre dies eine Drohung. Als ob die Berge, der Fluss die Wolken irgendetwas Schlimmes verbergen würden, das man nicht sehen kann. (Sollten wir sicherheitshalber den Restaurantchef fragen, ob er es woanders hinhängen könnte.) Also mir macht das Angst. Ich führe das aber nicht mehr weiter aus. Berge sind übrigens Scheiße. Das Schöne ist nicht des Furchtbaren Anfang und selbst Rilke hätte dieser Kitsch nicht gefallen, da bin ich mir aber sowas von sicher. Bach und Agricola und Arsen. Das Feuer brennt, aber es kann für einen Moment nichts passieren. Du hast fremden Menschen gegenüber immer ein Messer in der Tasche dabei und du würdest es – ich weiß es – auch mir gegenüber einsetzen.

Wenn es denn tatsächlich ein früheres Leben gegeben haben könnte, dort in – sagen wir mal: Sichuan –, dann wäre es auch der Grund, warum ausgerechnet dieser verdammte Platz unter diesem verdammten Landschaftsbild unser beider Stammplatz geworden wäre. Das Bild war uns natürlich noch nie so richtig aufgefallen, der gewohnte China-Kitsch eben.

Die Orientierung im Raum. Wir hätten jetzt einen Walzer anfangen können und die Bilder hätten uns geholfen, dass uns nicht schwindlig geworden wäre. Das Chop-Suey wäre uns gerade recht gewesen, unsere Körper zu besudeln, warm, animalisch und süß-sauer. Du hättest mir die Brust geben können. Und deine Schuhe, die aussahen, als wären sie nur für Tanzabende gemacht worden, wären mir auch gerade recht gekommen. So etwas trägt man heutzutage im Büro? Dein Kleid aus China mit den Tigerzeichnungen? Bach und Donau und Flow. Man steigt nur einmal in denselben Fluss.

Und während des Tanzes zogen wir Linien wie mit dem Pflug, die mählich gerader und gerader werden würden, so dass sie uns mit Früchten beschenkten und erfreuten.
Apropos Fruchtbarkeit: Wir verloren uns ein zweites Mal wie beim Tanz in diesen uralten Fluss: Du bist nicht Tanja W. und ich bin es auch nicht. Eine völlig unscheinbare Angestellte, ein völlig unscheinbarer Angestellter. Aber irgendetwas entstand damals, ein Werdegang, nicht wahr. Es war letztlich deine Idee, das mit dem Import. Nicht für Europäer gemacht, nur Exotik. Rosenblattmarmelade aus den Rosenblüten vom Frühjahr. Sollten wir sie nicht einmal selbst machen?

(Wir könnten im Internet, du, ich habe vorhin im Internet nachgeschaut, wie das gehen müsste.)

Auch die eigenartigsten Vergleiche, die du mir entgegenbringen musstest, als Zeichen deiner Liebe. Obst, Gemüse, Bäume, Vieh: alles, was in der bäuerlichen Gesellschaft wertvoll und prächtig erscheinen muss. (Man muss loben können und zuvörderst den Wein, den Wald und die einfachen Sachen, die uns wichtig sind, das einfache Leben loben.) Meine Überzeugungskraft war nicht so, wie ich es mir erwünscht hatte, aber ein uralter Trieb, der uns zwingt, den Barbaren überlegen, aber dennoch neidisch angesichts ihrer Freiheit und ihrer wilden Bräuche zu sein. Erfanden wir die Marmeladenrevolution, den gemeinsamen Tanz ums Feuer.

Vielleicht sind das letzte wortlose gemeinsame Kochen und Tanzen Bleibendes in unserem kollektiven Gedächtnis.

Man war nicht füreinander gedacht und bemühte die angestrengteste Mythologie: Es waren einmal zwei Menschen, in einem früheren Leben ein glückliches Ehepaar, die genau am selben Tag, genau zur selben Minute geboren, an zwei verschiedenen Orten wiedergeboren worden sind, aber nicht voneinander wussten, aber durch die gegenseitigen Ahnungen, die beide voneinander gehabt hatten, hätten  – wenn sie sich nur ein einziges Mal getroffen, oder voneinander gehört oder das Bild des anderen gesehen hätten, sofort erkannt, dass sie für immer und ewig füreinander bestimmt gewesen sind. Da das Glück dieser beiden Menschen, sich wiedergefunden zu haben, so groß gewesen wäre, dass alle anderen Menschen, die dieses Paar sehen würden oder von ihrem Schicksal erfuhren, auf der Stelle ihren Lebtag lang todunglücklich werden würden, ist jenes Paar mit dem Fluch belegt worden, sich nie in ihrem Leben auch nur einen Millimeter in den gemeinsamen Wahrnehmungsraum zu geraten und sich geradewegs durch eigenartige Zufälle auf Reisen oder sonstigen Treffen um Haaresbreite zu verpassen. Das Schicksal wollte es, dass beide ihr Leben lang unglücklich sein und immer unsympathische Menschen kennenlernen mussten. Schön ist sie aber, ohne Zweifel, die Gleichzeitigkeit: Irgendwo einen unglücklichen Zwilling zu besitzen und mit ihm aus derselben Quelle getrunken zu haben. Genauer: Milchverwandte, dieselbe Milch noch trinkend …

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22051