Das Leben schenkt uns so viel

„Ich musste in jenen Augenblicken, in denen ich an dieses eine Jahr zurückdachte, häufig an die verpassten Gelegenheiten denken. Gott bewahre, meine Schüchternheit.
Meine Gedanken gingen in die Ferne, einmal nahm ich sogar eine Landkarte aus der schuleigenen Kartothek heimlich mit nach Hause. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.

Später fragte ich mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn wir uns nachmittags bei dir zuhause getroffen hätten. Unter dem Vorwand, dir mit dem Deutschen zu helfen und bei formalen Schwierigkeiten, die der Alltag in einer deutschen Kleinstadt eben mit sich bringt, hätte ich glänzend dein Vertrauen gewinnen können. Und das verspätete Nachhausekommen wäre für mich ein Grund gewesen, noch motivierter zu sein.
Du warst mir mit Sicherheit doch weit überlegen.

Jedenfalls verabrede ich mich hier, zehn Jahre später, wieder mit dir. Der Wunsch nach der Wirklichkeit der Bilder. Um einfach zurückzugeben, was ich für dich empfand: Wie wäre es mit einer Einladung ins Kino gewesen? Ich hätte dir irgendetwas beibringen können  –  zusammen kochen.

Später wurde mir klar, dass eines der schönsten Dinge, die ich dir anbieten hätte können, ein Ausflug zum Wandern oder an einen Badeteich gewesen wäre. Absichtslos das Sein genießen. Eigenes oder fremdes oder beides. Ohne Blicke und ohne Worte und ohne Berührungen und ohne Gedanken.
Mein inneres Auge begann genau in diesem Moment mit Sehnsucht die Landkarte entlangzuwandern. Das Leben schenkt uns so viel.“

Michael Bauer

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