Mit achtzehn

Eigentlich hatten wir abgemacht, gemeinsam Medizin zu studieren, die Helga Mann, die Schober Christl und ich. Vielleicht waren es nur Träumereien von mir, ein unausgesprochener Wunsch? Wer kann das schon sagen, nach 55 Jahren. Der „Plan“ stand seit der 7. Klasse fest: Helga würde eine Wohnung bekommen, im Haus ihrer Tante Grete in der Alserbachstraße, nahe dem Franz-Josefs-Bahnhof. Christl würde bei ihr wohnen, und ich, die keine Aussicht auf ein Wien-Wohnen hatte, könnte bei ihnen übernachten, wenn es einmal zu spät für den letzten Bummelzug nach Tulln war, um 23 Uhr. Helga und Christl hatten noch dazu den Vorteil, aus Arztfamilien zu stammen, Christl sogar mit zwei älteren Brüdern, die schon in Wien Medizin studierten. Da ich als die Nummer fünf in der bis sieben reichenden Riege an Geschwistern stand, war es sicher, dass das Familienbudget für eine Wohnung in Wien nicht reichen würde. Aber ich hatte fest vor, mich mit Jobs durchzuschlagen, dazu gab es noch Stipendien und lange Sommerferien, in denen man arbeiten und Geld verdienen konnte.

Der Plan ging nicht auf. Mein ältester Bruder mischte sich in die Debatte ein und sprach sich kategorisch dagegen aus, dass ich überhaupt studieren sollte. Er hielt mich wegen meiner angeblichen Schusseligkeit und lachhaften Wortverwechslungen für überhaupt kein akademisches Studium befähigt. Er hatte schon erfolgreich intrigiert, Lisl vom gewünschten Medizin-Studium abzubringen. Stattdessen begann sie nach der Matura an der Krankenschwesternschule eine zweijährige Ausbildung. Mama, die fast wie hörig den Meinungen ihres Ältesten folgte, war plötzlich auch gegen ein Studium, obwohl sie sich immer noch beklagte, dass wir – die Kinder – sie an ihrem Studium gehindert hätten. Eine ihrer abstrusesten Klagen in Momenten, wenn ihr Gemüt auf Sturm stand, wir seien aus lauter Bosheit auf die Welt gekommen, um sie von den akademischen Ehren abzuhalten. Also musste ich umplanen, denn neben der teuren, langwierigen und anspruchsvollen Medizin würde ich kaum einer Brotarbeit nachgehen können. Mein Vater hielt dagegen und unterstützte mich: Die Vroni kann alles, die wird’s euch allen noch zeigen!

Welcher Zweig würde alles verbinden können: kurzes Studium, nebenbei jobben, Auslandsperspektiven und guter Verdienst danach? So fiel meine Wahl auf das Dolmetsch-Studium, Russisch-Englisch. Vier Semester bis zum Übersetzer, sechs zum Dolmetsch. Schließlich herrschte Kalter Krieg, und da konnte man diese Kombination sicher gut gebrauchen. Die große Vision – zur UNO am East River.

In Englisch war ich sehr gut, schon acht Jahre lang, und in Russisch immerhin schon vier Jahre. Mit einem ausgezeichneten Maturazeugnis bräuchte ich nicht einmal eine Aufnahmeprüfung ins Dolmetsch-Institut. Gesagt – getan. Ich inskribierte, studierte fleißig, um Konferenz-Dolmetsch im diplomatischen Dienst zu werden. Nebenbei jobbte ich als Touristenführerin und Übersetzerin und gab Nachhilfestunden. Einzig Helga wurde Ärztin. Sie studierte erfolgreich Medizin und arbeitete das ganze Berufsleben als Virologin und Hygienikerin. Christl sattelte nach zwei Semestern auf Psychologie um und zog zu ihren Brüdern.

Ich kann mich an mich selbst mit achtzehn nicht erinnern, habe kein Gefühl für mich als Achtzehnjährige. Nur Bilder von Ereignissen sind haften geblieben, die ein Schlaglicht darauf werfen, wie ich mit achtzehn gewesen sein könnte. Entsetzlich unsympathisch, stur, rechthaberisch und herrisch. Aber ehrgeizig und zielstrebig. Aber was ist so ein Urteil heute wert? Ich habe aus der Not ein Bild kreiert: ein Fenster mit Jalousien, durch die Sonnenstrahlen fallen. In diesen Lichtstreifen wird allerhand grell sichtbar, etwa tanzende Staubteilchen, eine Mücke, ein Astloch im Fußboden oder eine beleuchtete Stelle auf dem Teppich. Darum herum ist alles dunkel, kein Detail zu erkennen, schon gar nicht das Gesamtbild des Zimmers.

So ein ausgeleuchteter Streifen ist die Erinnerung an Ludwig Stuchlik. Er studierte Russisch-Tschechisch-Polnisch, weil seine Familie ursprünglich aus Böhmen stammte, die Mutter aus Polen. Russisch war neu für ihn. Ärmlich aufgewachsen, wollte er Geschäftsmann werden und reich. Handel zwischen Österreich und den Ostblockländern. Er hatte nichts übrig für literarische Übersetzungen oder das Konferenzdolmetschen, so wie ich es für mich vorgesehen hatte. Ich weiß nicht mehr, wie wir uns nähergekommen sind, vielleicht habe ich ihm beim Russischen helfen können, vielleicht war es eine andere Attraktion. Wahrscheinlich war ich ihm aufgefallen in den Übungen bei Sergej Krywenko, einem Ukrainer, der es geschafft hat, von der Roten Armee in Österreich gelassen worden zu sein. Ich glaube nicht, dass ich in meinem 18-jährigen Leben jemanden so sehr gehasst habe wie ihn. Ich war sein Lieblingsopfer. Auch wenn ich nach meinen vier Gymnasialjahren besser Russisch konnte als die meisten anderen, hackte er ständig auf mir herum. Mein Russisch sei zu literarisch, ich sei zu langsam. Vor allem aber kritisierte er mein R, das nicht russisch klinge. Es muss rollen, rrollen, rrrollen. Wirrr sprrrechen hierrr Rrrussisch, nicht Frchanzösisch. Gehen Sie in die Nebenabteilung, Mademoiselle.

Ich musste vor allen anderen Studenten Übungen mit einem Handspiegel machen, um die richtige Stellung der Zunge, des Gaumens und des Zäpfchens zu beobachten. Er genoss es, mich zu demütigen und lächerlich zu machen. Heute würde man sagen „mobben“ und ihn anzeigen. Allerdings studierten damals in unserem Jahrgang genau fünf Leute Russisch, neben mir noch zwei Jungstudentinnen, Ludwig und ein pensionierter Medizinalrat mit hölzernem Hörrohr. Er wollte sein Russisch aus der sibirischen Kriegsgefangenschaft aufpolieren. So trieb mich Krywenko einmal aus dem Hörsaal, und ich flüchtete heulend auf eine Bank im Hof. Der ist doch nur neidig auf unsere Jugend und auf uns als Österreicher, tröstete mich Ludwig. Wenn ich etwas bei diesem gospodin gelernt habe, war das nicht in erster Linie das perfekt rollende russische R, sondern Resilienz: Geduld, Ausdauer, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Er zwang mich, mir täglich, ja stündlich selbst die Karotte vor die Nase zu halten und mich an den East River zu versetzen. Der andere Rettungsanker war die UTA, die direkt hinter dem Dolmetschinstitut gelegen war. Hier ließ ich meine Wut ab, indem ich die Basketbälle in die Körbe drosch. Im nächsten Jahr gelang es mir tatsächlich, nach New York zu kommen, wenn auch nur als Au-pair-Mädchen und als Touristin in die UNO.

Für Ludwig war ich ein Exotikum so wie er für mich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ich fand ihn sympathisch, aber nicht mehr. Mich interessierte seine Herkunft aus Simmering, dem äußersten Stadtrand im Osten, wo die Straßen in ein Dorf mit niedrigen Häusern und Gärten auslaufen. Seine Eltern habe ich nie kennengelernt, sie hackelten bei Simmering-Graz-Pauker in Schicht. An seine Großmutter Kveta kann ich mich aber gut erinnern. Sie sprach ein klassisches Bemakln, fütterte mich mit Knedlicki und Kolatschi und bewohnte ein kleines Haus mit Hühnern und Hasen; Kraut und Erdäpfel wuchsen im Garten, dazu Kirschen, Marillen und Zwetschken. Von der niedrigen Decke des Wohnzimmers hing einsam ein rot leuchtender Luster aus böhmischem Bleikristall. Der letzte Rest von Familiengeschichte. Ihre Vorfahren waren Kristallschleifer und Glasbläser gewesen. Jetzt Simmeringer Hauptstraße 397, dahinter gleich die Hoad und dann nur noch der Eiserne Vorhang. Da war die Welt zu Ende.

Sie mochte mich gern und erzählte mir bei Blümchenkaffee und Powidltaschkerln viel von ihrem alten Dorf. Schen, schen waas durtn, mei Got, Gotogot. Im Frieling, die vielen Bliten von denen Obstbeimen, so schen, die Nochboan, ollas freindlich, friedlich und polako. Wie Fritz Muliar im braven Soldaten Schwejk, nur ein wenig weicher, weil er das Bemakln nicht von Kveta gelernt hat. Mit ihren hoch aufgesteckten weißen Löckchen und der Kittelschürze aus schwarzem Kloth erinnerte sie mich ein bisschen an die Omama in St. Nikola. Von der Vertreibung der Sudetendeutschen nach den Benesch-Dekreten hatte ich noch nie gehört, noch weniger vom Todesmarsch von Brünn. Ihr kleiner Bruder ist damals gestorben. Krank, unterernährt oder vom Leiterwagen gefallen? Das wusste sie selbst nicht mehr. Wir hatten in Tulln Banatler aus Jugoslawien und Rumänien in der Nachbarschaft, Volksdeutsche wurden sie genannt. Manche sagten auch Walachen.

Aber dass Tschechen in Österreich lebten, wusste ich nicht. Der Rupert aus Weißkirchen im Banat war mein Freund in der ersten Klasse Volksschule. Er nannte mich mia prinsesa. Eine Frau Trofeit aus der Banatlersiedlung kam als Hausschneiderin zu meiner Mutter. Tischtücher und Vorhänge nähen, Bettzeug ausbessern, Geschirrtücher einsäumen, Putzlappen flicken, Wintermäntel wenden, meine Mutter ließ nichts verkommen.

Da ich zwischen Tulln und Wien pendelte, hatte ich immer eine Jause mit, Essen und Getränke für den ganzen Tag, da ich kein Geld hatte fürs Kaffeehaus und anfangs auch die Mensa sparte. Ludwig schloss sich für die Mittagspause mir an, wenn ich bei der Kaiserin Elisabeth im Volksgarten meine Jause einnahm. Ich breitete meine Aluminium-Proviantdose mit den Butterbroten aus, Wasser oder Ribislsaft hatte ich in einer Feldflasche, Gegenstände aus meiner Wanderausrüstung. Damals immer dabei: das „Stundenbuch“ von R.M. Rilke, den ich in jener Zeit über alles verehrte. Ich wollte so gut Englisch und Russisch lernen, bis ich eine dreisprachige Ausgabe herstellen könnte, in der alle Gedichte gleich gut waren. Dazu schwärmte ich damals noch von den Habsburgern, hatte alle Bücher von Egon Caesar Conte Corti gelesen, kannte alle Jahreszahlen und Verwandtschaftsverhältnisse. Später interessierte ich mich mehr für Joseph II. Aber das war schon gar kein Thema für den Ludwig Stuchlik. Er war Sozialdemokrat und hasste alles Habsburgische. Wir hatten viele lebhafte Diskussionen. Aber wenn er mich fragte, woher ich dies und das so sicher wüsste, sagte ich immer wie das Amen im Gebet: von meinem Vater. Dem Ludwig ging das auf die Nerven, immer belehrt zu werden, und es rutschte ihm heraus: Dein Vater ist wohl der liebe Gott! Nein, aber mein Evangelium!

Ich glaube, ich habe ihn tyrannisiert mit meinem vererbten Bildungsbürgertum. Aber er mich auch, mit seinem Sozialismus, der Arbeiterklasse und dem permanenten Klassenkampf. Er war Trotzkist ohne jede Zugehörigkeit und wollte mich von der Schönheit seiner Revolutionssprache überzeugen. Das ist schon alles okay, aber ich werde jetzt noch rot, wenn ich an das Evangelium denke. Man schrieb 1966, lange vor der studentischen, antiautoritären oder sonst einer Revolution.

Das ist zum Beispiel so ein schmaler Lichtstrahl ins Dunkel der Vergangenheit. Ich auf den weißen Marmorstufen zu Füßen der Elisabeth im östlichsten Winkel des Volksgartens, gegenüber die Burg, auf der anderen Ringseite die Uni, durch die Bäume blinzelt das Rathaus herüber, im Volksgarten blühen noch die Rosen. Ludwig hört mir zu, wie ich ihm Rilke vorlese. Immer und immer wieder. Ob es Rilke auf Tschechisch gibt? Weiß er nicht. Ob er ihn nicht übersetzen will? Rilke stammt ja aus Prag. Ludwigs Neigungen gelten aber der Handelskorrespondenz, die ich hasse, aber als Pflichtfach auch belegen muss. Er hat keine poetische Ader, ihn interessieren ganz andere Dinge an mir.
Ich wehre ihn ab, weil ich damals sicher noch nicht einmal ganz aufgeklärt war, dafür grenzenlos naiv und die Sexualität noch nicht am Radar hatte. Dazu war ich viel zu katholisch aufgezogen worden. Ich habe ihn nie erhört und nie etwas anderes mit ihm unternommen als seine Großmutter und ihre Hühner zu besuchen. Ludwig war sehr fesch, James-Dean-artig, aber etwas klein gewachsen. Vielleicht war ich von ihm als Mann so wenig angezogen, weil er meinem großen Bruder Bernhard ähnlich sah.

Es war sicher nicht Absicht oder Taktik, dazu wäre ich in meiner Naivität gar nicht imstande gewesen. Aber ich habe Ludwig erfolgreich von mir ferngehalten und gründlich vertrieben. Mit der Waffe namens Rilke. Oder war’s der Vater? Irgendwann ist er nicht mehr in den Park gekommen, zu mir und Sisi. Einmal stieß er hervor: Lass mich in Ruh mit deinem depperten Rilke! Stieg die Stufen des Denkmals hinunter und ward nie mehr gesehen. Ich muss ihn entsetzlich angeödet haben mit meiner Schwärmerei für den Poeten und die Kaiserin. Nach dem Jahr in New York bin ich auf die Slawistik und Germanistik umgestiegen, und wir haben uns aus den Augen verloren. Sogar seinen Namen glaubte ich vergessen zu haben. Es ist ja auch nichts passiert, was mir großartig im Gedächtnis hätte bleiben können. Und meine jugendlichen Schwärmereien werfen auch nicht gerade ein gutes Licht auf mein achtzehntes Lebensjahr.

Einmal, nach der Jahrtausendwende, vielleicht 35 Jahre später, sitze ich in meinem Büro in der Moskauer Botschaft, als mir meine Sekretärin am Telefon einen Herrn Stuchlik, Ludwig, von der Handelsvertretung, ankündigt. Der Name ist mir seit dem ersten Semester nicht mehr untergekommen, aber trotzdem wusste ich es sofort: Sisi aus weißem Marmor, Mittagspause, Butterbrote, Wasser und – Rilke.

Ich sah alles vor mir wie in einem grellen Schlaglicht, kleine Funken in einem Scheinwerferkegel. Ich zu Füßen der Kaiserin auf der weißen Marmorbank, er zu meinen Füßen, dazwischen Rilke. Herr Mag. Stuchlik war tatsächlich Kaufmann geworden und gerade auf Besuch in der Moskauer Vertretung der Wirtschaftskammer. Er hat mit seinen Ostsprachen Karriere gemacht und ist bei seinem Leisten geblieben. So hat er mich gefunden und im Kulturforum aufgesucht. Auf der Visitenkarte eine Liste von großen Firmen, für die er in Russland Geschäfte macht: MAN, Voestalpine, Lenzing. Hat ein Büro an feinster Adresse im Hotel Ukraina. Wir sind Nachbarn geworden, ich wohne am Ukrainski bulvar gegenüber. Wir haben uns nie verabredet. Aber ich saß oft dort, im Park, auf dem Sockel des ukrainischen Nationaldichters Schewtschenko, mit Blick auf die Moskwa und das Weiße Haus.
Ludwig ist alt geworden, dick und glatzköpfig, aber gut auf Top-Manager getrimmt. Und ich trieb mich immer noch mit Übersetzungen herum, wenn ich auch Rilke schon längst etwas kritischer sah. Aber immerhin hielt ich unter vielem anderen noch Vorträge über „Rilke und sein mystisches Russlanderlebnis“, „Rilkes Russland-Reise mit Lou Andreas-Salomé“, „Mein weiblicher Bruder – Marina Zwetajewa und Rilke.“

Ich weiß nicht, worüber wir gesprochen haben, wahrscheinlich nur Lebensdaten ausgetauscht, Kinder, Frau, Job, Haus im Wienerwald. Über Rilke, Sisi oder das Evangelium haben wir sicher nicht geredet. Ich bedauere, dass ich ihn nicht danach gefragt habe, woran er sich erinnert aus dem Herbst 1966.
Und seither ist er wieder in der Versenkung verschwunden, bis zum heutigen Tag, seit ich das hier aufschreibe.

13.1.22

Veronika Seyr
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