Linz, Sonntag: In Search of a Wirtshaus

„Die Folge der Speisen geht von den schweren zu den leichten.“
Jean Anthèlme Brillat-Savarin, Physiologie des Geschmacks
„Allein eine der besten gedämpften Speisen, welche aus Fischen
bereitet werden können, ist die folgende: (…).“
Carl Friedrich von Rumohr, Geist der Kochkunst

Manchmal überkommt es einen halt. Nein, ich meine nicht jenes Gebaren in rauen Vollmondnächten, in denen man als Verwunschener zum Werwolf mutiert und in Altstadtlokalen bis zum Morgengrauen herumlungert und seine Trinkkumpane anstänkert. Manchmal will man ganz einfach Linz nicht verlassen, um nach – sagen wir – Wels zu pilgern und sich am Kaiser-Josef-Platz im einzigen wirklichen Wirtshaus vor Ort einzuquartieren, und den Tag, der natürlich ein Sonntag ist, bestens umhegt zu vergessen. Manchmal will man auch in Linz sonntags speisen gehen. Würstel vom Stand und Pizzen in Ehren, aber das Zeug gibt es im Notfall immer, man braucht dafür keine Scheibe einschlagen und den Alarmknopf betätigen. Am Sonntag, dem Tage angemessen, darf man wohl etwas gediegener vespern.

Ich stelle mich also folgender Herausforderung: Finde eine Adresse zwischen Volksgarten und Neuer Welt, die man empfehlen kann und kehre ein! Die Expedition startet im Alleingang und in Erstbewältigung an einem Sonntag im zweiten, kalten Monat des Jahres um 9 Uhr 30 vom Basislager, ohne Proviant und GPS, mit Notizbuch und Regenschirm. Es nässelt, allerdings noch sehr verhalten, sodass die klammen Finger noch keinen Schirmknauf halten wollen.

Unmittelbar am Volksgarten gab es über viele Jahre die Stieglbier Stube, deren letzte Betreiberin während eines nicht enden wollenden Hausumbaus in den Ruin gezwungen worden ist. (Begegne ich der heute, grüße ich sie eher nicht, in nüchterner Berücksichtigung der Tatsache, in welchem Zustand sie sich zumeist befindet.) Seither ist in den ebenerdigen Räumlichkeiten ein Kindergarten eingerichtet.
Im Volksgarten führt ein ungleiches Paar seine beiden ungleichen Hunde aus. Großer und kleiner Hund zerren an den Leinen nach verschiedenen Richtungen. Mit Blick auf das Entree des neuen Linzer Musiktheaters dämmert mir, Toni Mörwald kocht hier im Restaurant „das Anton“ auf, will es das Geraune unter Gastrosophen. Mein Bauchgefühl meldet mir allerdings: Gerade heute lässt er den Schneebesen nicht in der Kasserolle dengeln. Meinetwegen. Dieser Fimmel mit Gedeckobligo, bevor es richtig ans Futtern geht, wird man mit Brotresten und schmierigem Aufstrich eingekocht, diese leicht überkandidelte Etepetete-Kultur vor fummelig machender Hintergrundbeschallung aus dem Trichter ist ohnehin nicht meine Liga.

Abseits des Trafohäuschens, dem Hans Kupelwieser eine witzige wie ebenso wohl witzig zu reinigende Ummantelung aus Kugeln verpasst hat, fällt mir ein kupferner Ouroboros auf. Die Selbstverzehrung ist aber auch keine Lösung. So tauche ich unter der Bahnüberführung an der Wiener Straße durch, der Demarkationslinie zur Pampa.

In der Anastasius-Grün-Straße gibt es ein Heurigen-Tschecherl. Das hat sonntags freilich zu. Das nächste Kabuff findet sich wenige Schritte weiter vor der leer stehenden Trafik, die einst ein rühriges Mütterlein mit ihrer Tochter bis zur letzten Ölung führte. Die Bumse scheint aber nur zum Trinken und Anbraten tauglich. Aus dem Halbdunkel bei offen stehender Tür gurgelt eine südosteuropäische Konversation. Entweder ist man eben mit dem Schließen oder vorerst noch gar nicht mit dem offiziellen Aufsperren zugange.
Der „Thai Markt“ mit seinen quirligen, schnatternden Frauen aus Fernost hat natürlich zu. Der Sack Jasmin-Reis will heute anderswo umfallen.

Mit Blick in die Anzengruberstraße zeigt sich mir ein neu errichtetes Wohngebäude. Auch hier gab es einmal einen Raucherkobel für den weniger betulichen Gast. Der ist ganz offensichtlich nicht mehr.
Der ehemalige Würstelstand an der gegenüberliegenden Straßenseite unter der Birke, den ein aufgeweckter Betreiber einst ohne lästige Absprache mit den Behörden phantasievoll erweitert hatte, ist auch schon Geschichte, die Fläche Tabula rasa. Die Hunde können am Stamm des Baumes wieder unbeeinträchtigt das Bein heben.

Ich passiere einen Juwelier. Gegenwärtig benötige ich weder Uhren noch Brillantenkolliers. Der Juwelier ist hier so angestammt wie sein eingesessener Nachbar gegenüber und letzter Vertreter einer bunten Schar von Gewerbetreibenden. Zwar finden sich nach wie vor Gewerbetreibende  im Umfeld der Unionkreuzung, aber von bunt und Schar kann nicht unbedingt die Rede sein: Kaschemmen und Handyambulanzen dominieren das Bild, Wettbüros und Grafflwerkanbieter runden es ab.
Vorbeischlendernd am Theater Phönix tue ich mir schwer, den Eingang zum Bühnengeschehen von den Zutritten in diverse Bedürfnisanstalten zu unterscheiden. Das Wirtshaus im Foyer ist längst passé. Ich frage mich: Wie halten es die Theaterbesucher, wenn sie sich nach einer Vorstellung noch vorstellen können, etwas zwitschern zu gehen, aber nicht in eines der grindigen Musikcafés einfallen wollen?

Gegenüber laufen in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Möbelhändlers, die jetzt einem Fitnessstudio Quartier bieten, vor auslagengroßen Fensterscheiben Menschen unterschiedlichen Alters in unterschiedlicher Hastigkeit auf Laufbändern vor sich her. In Bayern hat ein findiger Kopf Laufbänder für rekonvaleszente Rennpferde ersonnen, fällt mir ein. Laufbänder für Hunde gibt es längst. Und das Hamsterrad ist ja doch auch eine ganz putzige Sache. Wenigstens solange man nicht Hamster in einem billigen Pferch sein muss.
An der Ecke zur Hamerlingstraße, an dem Ort, an dem über Generationen ein Kaufhaus gedieh, findet sich eine der Franchise-Filialen der bekanntesten Hamburger-Rösterei. Heute nicht, sage ich mir und ziehe weiter, quere die Straße und begebe mich an einer Bäckereifiliale vorbei. Hat natürlich auch zu. Den gegenüberliegenden Neubau an der Unionkreuzung ziert der Schriftzug „Wiener Straße – das Einkaufszentrum mitten in Linz. Einkaufen bei Freunden.“ Das Erschreckende: Letzteres stimmt wahrscheinlich sogar. Denn wer sollte sonst hier einkaufen, außer Freunde von Freunden?

In einem schmalen Haus, eingezwickt zwischen zwei größeren: ein Döner. Geschlossen. Auf der anderen Seite hat ein Gegenstück, das Pizza und Kebab offeriert, auch nicht geöffnet. Der Stammsitz der ehemaligen, in diverse Nöte geratenen Fleischhauerei Nothaft ist ein Schnellimbiss für mexikanisches Essen geworden, oder was man hierzulande dafür halten muss oder sich darunter vorstellen darf. Vermutlich Tortillas, Enchiladas und weiß der Teufel. Hat noch nicht auf. Jemand macht sich daran, von außen an den Überklebungen der Fensterscheiben zu kletzeln. Muss der Geschäftsführer sein, ein unbefugter Spaßvogel wohl eher nicht.

Das einstige Gasthaus zur Stadt Salzburg hat seit geraumem keinen Betreiber mehr. Im Stockwerk steht ein Kastenfenster offen. Schwer zu ergründen, ob ein verbliebener Bewohner lüftet oder eine erste Maßnahme zum beschleunigten Abwohnen gesetzt worden ist. Das Vorstadthaus scheint jedenfalls angezählt. Dieser Bautyp verschwindet nach und nach völlig aus dem Stadtbild und kein Gestaltungsbeirat stößt sich daran.
Gegenüber hat die Grieskirchner Bierstube ihre Adresse. Aber auch dieses Lokal hat schon bessere Zeiten gesehen. Nunmehr hält es sonn- wie feiertags geschlossen, sperrt unter der Woche immer erst um 17 Uhr auf. Einst war einer seiner Pächter jener umtriebige Sprecher der Innung gewesen, der einmal im Jahr vor versammelter Presse unterhalb der Nibelungenbrücke ins Wasser gegangen ist. Derselbe schrullige Wirt, der quer durch die Gaststube seines Lokals im Franckviertel Wäscheleinen spannte, weil man seinen Gästen was bieten muss, wie er es nannte.  (Unter ranzigen Unterkleidern zu dinieren, stelle ich mir abenteuerlich vor.) Der Wiederbeleber der glücklich verloren geglaubten Tradition des Stachelbiers.

Einige Meter weiter: Ein Geschäft mit russischen Lebensmitteln. Heute natürlich zu. Aber was fängt einer auch mit Kwass und Borschtsch an, dem das obligate Gen dafür fehlt?
Der Hutladen nach der Stadt Salzburg führt keine Hüte mehr. Der führt überhaupt nichts mehr. Die kahlen Auslagen ziert jener kühle, unaufdringliche Charme, wie er Bestattungsunternehmen eignet. An der Ecke Wiener Straße / Raimundstraße firmiert eine Bank. Ungelenk bedient sich ein Mann am Geldautomaten. Davor hat die Café-Bar „Celentano“ geschlossen. Eine Apotheke belebt das Stadtbild. Auf der anderen Straßenseite lädt „Rosi’s Pub“ ein. Nur heute allerdings nicht. Ausschließlich Montag bis Freitag, falls kein Feiertag im Kalender steht.

Ich versuche mein Glück in der Raimundstraße. An der Ecke zur Grillparzerstraße führte vor Jahren eine Kroatin das „Gasthaus zum Schwarzen Rössl“. Das Tröstliche: Das Gasthaus existiert noch immer, will es der Anschein. Hier wird Hausmannskost gekocht, verkündet ein Leitspruch. Und weiters steht unter Fenstern mit fetzigen Gardinen zu lesen: „●gut ●günstig ●reichlich“. Was indes nirgendwo zu lesen steht, sind die nicht völlig unwesentlichen Öffnungszeiten. Im Zweifelsfall bedeutet das: HEUTE GESCHLOSSEN.
Wieder auf der Wiener Straße mache ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Einkaufsstelle für karibische und afrikanische Fressalien aus. Auch nicht mein Fall: gratinierte Waranhaut und Victoriabarschflossensoufflé. Hat aber eh nicht auf. Die daran anschließende Pizzeria, die gefühlte sechzigste auf einer Strecke von knapp hundertfünfzig Metern, ebenso.

Auf meiner linken Seite stadtauswärts, noch einmal eine, genau: Pizzeria. Pizzerien führen nicht selten wenig originelle Namen im Hausschild. Weil deren Betreiber eben in den seltensten Fällen aus Ligurien oder anderen Regionen Italiens stammen. Die Pizzeria vor mir nennt sich „Zum Mafiosi“. Wenn das noch kein Grund ist, sie zu meiden, tut es allenfalls der Blick auf die Speisekarte. Wenn sich die italienische Küche in Pizza, Pasta und Lasagne erschöpfte, wären garantiert alle Italiener schon vor Generationen nach Amerika ausgewandert und hätten sich freiwillig von den Apachen skalpieren lassen.
In der Lissagasse bei der Herz Jesu Kirche bittet man beim Kirchenwirt nicht zu Tisch. „Sonn- und Feiertag Ruhetag“ ist freundlich-unauffällig affichiert. Auf der anderen Seite der Wiener Straße hat das „Indisches Spezialitäten Restaurant“ zu. Also nix mit frittierten Heuschrecken und Tandoori Masala.
An der Ecke zur Dürrnbergerstraße, wo sich früher das Kaufhaus Wiesinger befand, in dem man alles was das Herz begehrt, von der Tetra Pak-Milch bis zu Stützstrümpfen und Selbstbindern, erwerben konnte, hat eine Konditorei geöffnet. Nicht gerade die Einladung für Laktoseintoleranzgeplagte.

Hinter den Auslagenscheiben eines ehemaligen Wäschegeschäfts strudelt sich ein türkischer Bäcker in mehlweißem Ornat an einem voluminösen Teig ab. Nichts gegen türkische Süßspeisen, wer es sich auf Picksüßigkeit der Marke „Plombenzieher“ steht, möge sie schnabulieren und darauf bauen, ihn oder sie werde die Zuckerkrankheit eh schon nicht ereilen. Allein, dass noch niemandem aus der türkischen Community der Stahlstadt die Idee gekommen ist, ein türkisches, anatolisches, kurdisches Restaurant zu eröffnen, verwundert schon. Oder sind die allesamt so betütelt, dass ihnen nur Pizzabacken und Hammelfleischhobeln einfällt? (Wenn ich mir an dieser Stelle auf der Stelle etwas wünschen dürfte, dann wäre es ein feinsinniger Grieche, der Fangarme vom Kalmar nicht als gegarte Fahrradschläuche offeriert und süffigen Retsina, der das Schädelweh nicht im Bukett hat, dekantiert.)
Das „Zwei Adler“ an der Wiener Straße 73, an der Ecke zur Richard-Wagner-Straße, existiert schon lange nicht mehr. Allein die zwei sich aufplusternden Vögel in Stein zieren nach wie vor den Dachfirst des Gebäudes. Gegenüber, dort wo einst eine Schmiede stand, würde abermals ein Kebab-Pizzeria-Schnitzel-Kabuff locken. Wenn es nicht Sonntag wäre.
Auf meiner Seite komme ich an einer weiteren Pizzeria, diesmal mit deklariertem Zustellservice vorbei. Wenn nicht irgendwann, so will zumindest einmal in der Woche selbst der leidenschaftlichste Teigausroller seine Ruhe haben, steht zu vermuten. Das Auslegen von Einleggemüse, Meeresfrüchten, Pressschinken und Käsegraupen über Teigflächen ohne Unterlass kann garantiert dem Stumpfsinnigsten früher oder später den letzten Nerv rauben.

Am Bulgariplatz gehe ich kurz die Gürtelstraße hoch. Das Wirtshaus, das ich von früher hier in Erinnerung habe, gibt es nicht mehr. Ich entdecke stattdessen ein Imbisslokal. Hat aber zu. Dennoch scheint man sich hier Sinn für Ironie zu bewahren: Die schuhabstreifergroße Plattform vor dem erhöht angesetzten Eingang ziert eine Tafel mit der Aufschrift „Gastgarten“.
Die Poschacherstraße übersetzend komme ich an einer Hauswand an der Gedenktafel für Anton Bulgari vorbei, einem Opfer des Austrofaschismus. Kränze und Blumengebinde liegen davor aus. „Vergeben, aber nicht vergessen“, heißt es auf den Kranzschleifen.

Der Bulgariplatz ist leider ein innerstädtischer Nicht-Ort, ein Verkehrsknoten ohne irgendein Angebot, das auch dann zum Verweilen einladen könnte, wenn die Ampeln nicht gerade auf rot stehen. Okay, es gibt die Dreifaltigkeitssäule zu schauen, die im Jahre Schnee der Hausherr eines verschwundenen Gehöfts gestiftet hat. Aber damit hat es sich auch schon.

Ich paradiere an Hochbauten vorbei, die den Schick der späten fünfziger Jahre bewahren. Als Kunst am Bau, beziehungsweise zwischen den Bauten, und fehlende Wärmedämmung noch etwas her machten. In der Auslage eines China-Ladens winkt eine goldene Maneki-neko in enervierender Hektik. Das Glück herbeiwinken, soll diese Geste bedeuten. In der Bayern-Stub’n sammelt sich eine neue Sparrunde, steht auf einem Zettel zu lesen, der hinter der Eingangstür pickt. Erster Einzahlungstag ist aber nicht heute. Heute ist Sonntag und Sonntag ist Sperrtag.
Zwischen den Häusern gewinne ich einen Blick auf den Gabrielenhof. Dieser schmucke Ansitz eines längst verblichenen Brauereibarons gäbe ein wunderbares Domizil für ein Gasthaus. Die Villa im Besitz der Stadt fungiert freilich als Logis für einen Kindergarten. Auch recht. Dafür gibt es das „Poschacherstüberl“, ein ausgewiesenes Raucherlokal. Das hat offen, aber daran gehe ich vorbei. Man vermag sich hier nämlich ohne die Mühsal eines Speisenangebotes durchzubringen und ich mich unter die Mühlkreisautobahn.
Gleich darauf eröffnet sich mir der Blick auf das WIFI. Ich denke, das hauseigene Café ist heute als geschlossen zu denken. Ich komme an einem Oldies-Pub vorbei. Es hat zu. Womöglich sogar für immer, aber solange will ich gar nicht bleiben. Ich gerate ans „Technologie Zentrum Linz“, dann zur gläsernen Zentrale der stadteigenen LINZ AG. Man braucht aber nicht fragen, wie die Aktien stehen.

In der Fichtenstraße dann – wirklich originell – eine Pizzeria für den versierten Schnofel. Zu.
Ich stapfe weiter, die klammen Finger in die Jackentaschen gekrampft. Rechts die Zentrale der Linzer Berufsfeuerwehr. Einmal habe ich dort einen ohne Schikanen zu betretenden Eingang gesucht, um Informationen über einen bestimmten Feuerwehreinsatz zu eruieren und bin jämmerlich gescheitert. Jetzt stehe ich an der Einmündung der Rosenbauerstraße in die Wiener Straße vor einer großen, lückenhaft umzäunten Brachfläche: dem ehemaligen Areal des Coca Cola-Werks. Für Generationen von Volksschülern war hier der Zielort der beliebtesten Schulexkursion – nach dem Besuch der Feuerwehr.
Vorbei an der Berufsschule gehe ich in die Turmstraße hinein und muss erkennen, das „Gasthaus zum Turmfalken“ ist ein Mexikaner geworden. Der hat natürlich nicht offen. Das Hotel nebenan wirkt wie eine aufgegebene Garage für Werbefahrten-Busse: Wer darauf hereinfällt, wird festgehalten und solange mit teuren Billigangeboten geködert, bis er wirklich nicht mehr zuschnappen kann. Also begebe ich mich auf der Wiener Straße weiter. Vorbei an einem Döner-Kabuff. Das ist verrammelt. Vis-à-vis hat die Wurstbude beim ehedem wegen seiner Fassadenfärbelung so geheißenen Spinatturm nicht auf. Ich wechsle die Straßenseite.

In der einst so bezeichneten Todeskurve findet sich zunächst ein Etablissement, etwas weiter vorne eine Konditorei. Ein Paar spaziert im selben Augenblick in die Konditorei, in dem ich mich über Firmenniederlassungen in den abbruchreifen Häusern entlang des abgekommenen Glacis des verschwundenen Einserturms wundere. Eine erste Adresse halluziniert man anderswo.
Ich bin im Stadtteil Neue Welt angekommen, es ist 10 Uhr 30. Vor mir wackeln ältere Kirchgängerinnen mit ihren leicht bedrohlich wirkenden Handtaschen und jüngeres Volk in der Minderzahl aus der Sankt Antonius-Kirche, einige sammeln sich ratschend vor dem Pfarrheim. Ich beschließe, der Salzburger Straße zu folgen und frage mich, ob dieser unscheinbare Eckbau an der Abzweigung zur Schumannstraße jenes Gasthaus gewesen sein mag, in dem ich einst mit meiner Schwester nach unserem Herkommen von Verwandten im unteren Mühlviertel auf ein Kracherl, wie ich glaube, gelandet bin. Oder befand sich die Gaststätte ganz genau an der Stelle, an der heute eine Filiale dieser sympathischen Bank mit den gekreuzten Giebelbalken thront? Und wie hieß diese rustikale Bleibe mit der gediegenen Wartesaalatmosphäre gleich noch? Etwa „Zur Neuen Welt“?

Zwei Männer mit Stielbürsten seifen Plakatwände mit Tapetenkleister ein und bringen zusammengefaltete Werbebanner darauf auf, entfalten die Papiere mit geübten Bewegungen und im Nu zeigt sich die Welt um ein paar erbauliche Botschaften bereichert.
Ich nehme den Angerholzweg entlang des Zauns der umfriedeten Wasserschutzzone mit der Idee, ein bestimmtes Lokal, das vor hundert Jahren „Zum englischen Garten“ geheißen hat, zu betreten. An der Abzweigung Arnleitnerweg beginnt es zu regnen, ich schlage die Kapuze meiner Jacke über den Kopf, schlendere durch einen von allen Kindern verlassenen Kinderspielplatz. Das Sportplatzrestaurant „Stadt München“, Ecke Schwindstraße / Teutschmannweg, wirkt von außen nicht so, als hätte es geöffnet. Aus einer Halle erklingen das Klacken und Klötern von Stöcken auf Asphaltbahnen und die erregten Rufe der Schützen.

In der Haydnstraße verzaubert mich einmal mehr die Wohnanlage des Architekten Kurt Kühne, die in der Gestaltung eines Angerdorfplatzes gehalten ist. Es fehlt aber die Penetranz des Pittoresken, der Knusperhäuschen-Stil der Wohlmeinenden. Freilich heißt hier zu wohnen auch, in Kauf zu nehmen, dass man rundherum nirgendwo einkaufen gehen kann, weil es weder Supermarkt, Tankstelle noch Greißler gibt. In Berlin soll sich gar eine idente, der Gartenstadtidee verpflichtete Siedlungszeile befinden.
Wieder auf dem Angerholzweg verbleibe ich auf ihm bis zur Einmündung des Zötlweges, dann stehe ich vor dem Gasthaus Bratwurstglöckerl. Es regnet noch kräftiger und ich spanne den Schirm. Vom auf Klapptafeln ausgewiesenen Tagesangebot am Eingang ins Traditionsgasthaus spricht mich nichts an. Es liegt, keine Frage, an mir und meiner Tagesverfassung, dass mir heute nach einem Alt-Wiener Zwiebelrostbraten oder Medaillons im Speckmantel mit Rösti und anderer Begleitung nicht der Sinn steht. Außerdem ruiniert mir ein Werbebanner jenes Gernegroßen, den meine jüngere Cousine geheiratet hat, den Appetit. Der Pharisäer hat doch tatsächlich Fleischhauerei und Immobiliensammeln als Hand in Hand gehendes Doppelgewerbe kreiert.

Nach einer Weile mühseliger Unentschlossenheit raffe ich mich auf nach Hause umzukehren. Ich werde mir Leberkäse in der Pfanne schmurgeln. Die kulinarische Übersetzung des Umstands, dass dieser Sonntag kein Höhepunkt mehr werden wird.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14040