Wein Ende Brücke

Hin und wieder muss man nach Wien. Nach Paris, London oder New York – Seoul nicht zu vergessen – natürlich auch. Aber nicht so oft wie nach Wien und Wels oder Passau. Durch Ertüchtigungsmaßnahmen entlang der Trassenführung der Westbahn, insbesondere dank des Wienerwaldtunnels zwischen Chorherrn und Hadersdorf-Weidlingau, hat sich die Distanz zwischen Linz und Wien auf kommode fünfundsiebzig Minuten Zugfahrzeit verringert. Man verfrachtet sich beispielsweise des Morgens in den sogenannten Railjet nach Budapest Keleti pályaudvar und steigt nach einem unnötigen Zwischenhalt in St. Pölten am Wiener Westbahnhof wieder aus. Erlebt den Bahnhof zur wuseligen Einkaufsmeile umgestaltet, verschafft sich in einer der Trafiken eine Tageskarte der Wiener Linien und entschwindet in die Rolltreppenröhre in den Untergrund, die einen auf die Ebene oberhalb der U3 befördert.

Man muss nicht bis zur Haltestelle Gasometer in Simmering mit dieser U-Bahn-Linie mitfahren, aber wenn man doch dort aussteigt und sich über die leergeräumte Geschäftswelt auf dem Verbindungsniveau der Gasometerrondelle wundert, durchquere man diesen Ort der Trostlosigkeit, dem eine Neubelebung nicht und nicht zu gelingen scheint, unbedingt in der Absicht, das Wiener Stadt- und Landesarchiv zu besuchen. Aufmerksamkeit verdienen die jeweiligen Kleinausstellungen im Foyer; als vorbildlich sauber gehalten erweisen sich die Toiletten. Die in das Backsteingewände eingeschnittenen Schmalfenster verdeutlichen an der Fase zwischen Fensterkante und Wandschluss die Mächtigkeit des ehemaligen Industriegemäuers. Daran könnte sich der Gedanke knüpfen, dass sich Maximilian d’Estes allererster Probeturm seines ambitionierten Fortifikationsvorhabens in der Simmeringer Heide befand, ehe ein Pendant am Linzer Freinberg errichtet wurde.

Man kann aber auch gleich wieder die U3 zurück nehmen und, sagen wir, am Stubentor einen Kordon Kontrollorgane passieren, die das Mitführen eines Fahrausweises zwischen Perron und Ausgang überprüfen und nach solcher Perlustrierung den Weg in die Wollzeile nehmen. Dort wälzt man sich von einer Buchhandlungsauslage zur nächsten, ehe man in eine der Handlungen eintritt und eine schöne Weile damit zubringt, Bücher in die Hände zu nehmen, in ihnen zu blättern, die Inhaltsangaben zu studieren und den einen oder anderen Erwerb zu erwägen. Schließlich kommt man mit einem Lehrwerk der japanischen Sprache der Autoren Okutsu Keiichiro und Tanaka Akio wieder auf die Straße, bemerkt die nahende Mittagszeit und den Umstand, dass man hungrig geworden ist. Daran knüpft sich die Überlegung, wohin essen gehen und, des Weiteren, dafür den Bezirk zu wechseln oder doch im ersten zu verbleiben.

Man entscheidet sich fürs Verbleiben, weil man ja den „Reinthaler“ in der Gluckgasse kennt. Dort isst man dann im Souterrain Leberknödelsuppe und geröstete Knödel, während andere Gäste ebenso à la carte speisen oder eines der Tagesgerichte wählen. Man begeistert sich am herben Charme der 1970er-Jahre-Einrichtung: Resopalvertäfelung, herrlich unbequeme Uraltbürostühle und eine ganggenaue Würfeluhr. Drei Herren treten an einen für sie reservierten Tisch. Einer gleicht dem Kurt Sowinetz aufs Haar, ein anderer dem ebenso verstorbenen Fritz Imhoff in seiner Korpulenz, schließlich der dritte – als wäre Jörg Mauthe vom Totsein beurlaubt. Für einen vierten, einen Floridsdorfer, wie sie ihn rufen, wird ein Getränk bereitgestellt. Der zieht es dann aber vor, sich den dreien nicht beizugesellen. Über die Tische entwickelt sich ein launiger Heckmeck. Man erkennt den Schmäh als Schmiermittel der Geselligkeit. Freundschaften erfahren ihre Belastungsproben in anzüglichen Witzen. Ein Blick auf die Würfeluhr über dem Raumteiler zwischen Schankzimmer und Extrastüberl: Im Nu sind zwei Halbe Bier vergangen. Die verflossene Zeit ist an den aus den Gefäßen entwichenen Flüssigkeiten ablesbar. Im französischen Arrondissement Cognac spricht man vom „La part des anges“, vom Anteil der Engel, wenn man die Verdunstungsverluste des reifenden Weinbrands bemisst, könnte einem einfallen.

Schließlich geht man vom „Reinthaler“ wieder weg und überlegt einen Besuch des „Wien Museums“ am Karlsplatz, um Katalogrestposten und sonstiges Schrifttum zu sichten und in eventu nach dem Verbleib des quadratmetergroßen, sandsteinernen römischen Kanaldeckels in der Schausammlung zu fragen [Man erführe dortselbst am Kassapoint von einem freundlichen Studiosi mit bundesrepublikanischer Sprachfärbung, diesen verwahre seit geraumem das Römermuseum am Hohen Markt.], kommt aber davon ab und schlendert stattdessen durch die Innenstadt, bevor man sich am Stephansplatz in die U1 stellt, um nach Transdanubien überzusetzen, unterlässt es jedoch, zuvor am Praterstern in die U2 zu wechseln, um endlich die in Bau befindliche sogenannte Seestadt in Aspern in Augenschein zu nehmen und fährt, in der sich allmählich leerenden Garnitur der U1 verbleibend, bis zur Endhaltestelle Leopoldau. Dort glaubt man sich nicht bloß an die Peripherie versetzt, man bemerkt, dass man sich genau dort nun auch tatsächlich befindet, verschlagen zwischen den Bezirken Floridsdorf (21.) und Donaustadt (22.) und den an Wien angrenzenden niederösterreichischen Gemeinden Gerasdorf und Hagenbrunn.

In Sichtweite eines künstlichen Berges, einer Deponiehalde mit fuhrwerkendem Raupenfahrzeug, quert man der Überführung der Seyringer Straße folgend Bahngeleise und geht von der Pinkagasse Richtung Lafnitzgasse durch eine Welt der Klein- wie Vorstadthäusler und findet sich endlich in einer parzellierten Schrebergartenidylle mit Hinweistafeln zu Schutzhäusern, Verhaltensreglements („Radfahren verboten!“) und Schließzeitenusancen („Die Haupteingänge sind in der Zeit vom _ bis _ , sowie vom _ bis ­­_ jeweils eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit zu versperren!“). Man muss an Karl Weidingers lapidaren Schund, der im Untertitel „Die Verhaftung der Dunkelheit wegen Einbruchs“ lautet, denken. In der Thayagasse folgt man dem Verlauf der Schnellbahntrasse, deren Viaduktbögen, Konstruktionen aus Stahlbeton, parallel zur Hochbahngasse einem seltsam anmuten. Unter- wie Oberbau scheinen verschiedenen Bauepochen zu entstammen, der ältere Unterbau eindeutig einer Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Man weiß nicht, dass man es mit der Hinterlassenschaft der sogenannten Floridsdorfer Hochbahn zu tun hat, die als Kriegswichtiges ab 1916 von überwiegend italienischen Kriegsgefangenen errichtet worden war, jedoch ihre Vollendung nicht vor dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Tatsächlich erfolgte eine Revitalisierung der Trasse erst zum Ende des Säkulums, was man aber en détail nicht vermutet, wenn man es nicht nachliest. Zwischen den Viaduktbögen finden sich in den Tragepfeilern raumgroße Aussparungen, die auch wirklich von einigen der Schrebergartenpächter an der Hochbahngasse als Unterstände beansprucht werden, gleichwohl der Einstieg jeweils über Kopfhöhe ansetzt. Mehr oder weniger geschickt eingepasste Barackenwände bezeugen eine solche, der Neugierde der Passanten verstellte Nutzung.

An der Endhaltestelle Siemensstraße verpasst man den Bus nach Stammersdorf und verbringt die Wartezeit bis zum Eintreffen des nächsten damit, die wenig beschauliche Gegend zu erkunden: Ein verkehrsreicher Straßenknoten und ein Schienenstranggeflecht fallen auf. An der Bahnbrücke über den Siemensplatz bemerkt man eine Skulptur, deren Schöpfer auf der daneben affichierten Tafel genannt wird: Prof. Wander Bertoni. Die ebenso affichierte Bezeichnung „Weinende Brücke“ irritiert das Verständnis derart, dass man nicht Weinen, sondern Wein assoziiert und „Wein-Ende“ als Flurnamen fehldeutet. Zwei Bogensegmente aus Edelstahl formen die Plastik im öffentlichen Raum, ihr Ineinandergreifen bleibt unterbrochen. Von Wander Bertoni hat man freilich schon gehört, von seinem ominösen Eiermuseum gelesen. In einem Anfall von Konfusion mutmaßt man eine polnische Abkunft. In der Tat entstammt Wander Bertoni der Reggio Emilia, geriet 1943 als Zwangsarbeiter nach Wien und studierte nach dem Krieg an der Akademie der Bildenden Künste bei Fritz Wotruba. Das Werk „Weinende Brücke“ erinnert an den Beitrag der italienischen Kriegsgefangenen am Bau der Floridsdorfer Hochbahn. Man weiß sich dieser Umstände eingedenk erst nach dem späteren Nachlesen der historischen Fakten.

Mit dem Bus nach Stammersdorf fährt man bis zur Haltestelle Brünner Straße und wechselt dort in die Straßenbahn der Linie 31 Richtung Schottenring. Vorbei am Augarten gewärtigt man die beklemmenden Hochbauten der Flaktürme, die dank nicht-abgedeckter Öffnungen in den Seiten ihrer verwandelten Bestimmung als Tauben(kot)grüfte gerecht werden. In der Meldemannstraße überkommen einen böse Reminiszenzen. Am Gestade zum Donaukanal könnte man über das Treiben um einen herum sinnieren oder ebenso die Eßlinggasse hochgehen und tut es auch. Am Börseplatz beachtet man die Terrakottakacheln an der Fassade der Börse und das Kinderjauchzen aus dem gegenüberliegenden Gmeinerpark mit den voller Ausgelassenheit in Beschlag genommenen Spielgeräten.

Im Iuridicum nutzt man das Angebot der öffentlichen Toiletten, klappert in der Schottengasse abermals Buchhandlungen ab, begibt sich durch die Herrengasse auf den Michaelerplatz und schwenkt von dort auf den Kohlmarkt ein. Bevor man den Meinl am Graben betritt, läuft einem ein Hubert-Gorbach-Darsteller über den Weg, eines der Reptilien der Schwarzbraunen Koalition und gleich bedauert man es, ihm einen Schlag ins Gesicht zu verpassen nicht den Anstand zu haben. Im Geschäft kauft man Kreuzkümmel, Fruchtaufstrich von der Kornelkirsche und Apfel-Preiselbeere-Sprudel, begegnet auf der mit Samtläufern ausgeschlagenen, knarzenden Treppe zwischen den Stockwerken dem niederösterreichischen Landeshauptmann mit der Clownsglatze und erwehrt sich noch einmal des Anfallsgefühls des Zuschlagenmüssens, ehe man sich einer der umscharten Kassen nähert, wo die angenehme Tunlichkeit herrscht, die eingekauften Waren eingepackt ausgehändigt zu bekommen. In einer weiteren Buchhandlung am Graben erwirbt man die Taschenausgabe des Romans „Mittelreich“ von Josef Bierbichler als Mitbringsel für seine lesemanische Mutter sowie ein Bändchen der Reihe Reclam Sachbuch über die Indianer Nordamerikas, in dem man unter anderem vom Los der Oneida erfährt.

In der Herrengasse verschwindet man abermals in den Schlünden der U-Bahn, ist betört von der Anmut japanischer wie koreanischer Frauen und steigt am Westbahnhof in den Zug nach Bregenz, fährt allerdings nur bis Linz mit. In Bregenz gibt es ein Kunsthaus. Das man bereits hätte gesehen haben sollen, als dort vor Jahren die große Louise Bourgeois-Retrospektive angesetzt war. Aber Barbara Kruger hat man ja auch verpasst.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14036