Das zornige Eichhörnchen

Meistens sind die Rätsel, die uns die Natur aufgibt, leicht zu lösen, wenn man vom Menschlichen absieht und nur in den Kategorien der Natur denkt.
Neulich entdeckte ich mich, wieder in den primitivsten Anthropomorphismus zurückgefallen zu sein, den ich schon so oft bei mir festgestellt habe.

Am 1. April kam ich in meinen Schrebergarten am Hüttelberg. Mit Schrecken stellte ich fest, dass alles, was ich am Vortag an den Rand eines frisch bereiteten Beetes eingesetzt hatte, ausgegraben war. Da lagen herumgeworfen ein Petersil, ein Oregano, ein Basilikum, ein Schnittlauch-alles-Kräuterstöckerl aus dem Supermarkt, die ich im Garten heimisch und fruchtbar machen wollte. So wie jedes Jahr, und ich war gar nicht unerfolgreich.
Von einigen habe ich sogar im Winter geerntet und ins Frühjahr gebracht. Den Schnittlauch zum Beispiel, dazu Salbei, Thymian und Zitronengras. Das Lorbeer-Stöckerl vom Hofer entwickelt sich schon zu einem dichten Busch.

Der erste Gedanke beim Anblick der Verwüstungen war:
Wer ist mein Feind?
Also ich-bezogen: Wer hat etwas gegen mich und meine Aktivitäten?
Beim Besichtigungsrundgang entdeckte ich, dass das kleine Beet vor der Hütte, in dem ich die ersten Rucola-Samen eingesetzt hatte, vollkommen umgewühlt war. Rundum lagen Avocadokerne.
Weiter oben am Weg steht ein großer Keramik-Kübel, in dem ich vor Jahren einen selbstgezogenen Oleander eingepflanzt, dazu immer wieder Avocadokerne versenkt hatte. Jetzt hing die Oleander-Pflanze schief im Topf mit braunen Blättern, die Avocados waren ausgegraben und rundherum ausgestreut.

Dass sie auch angenagt waren, bemerkte ich in meiner Aufregung zunächst nicht.
Den oberen Rand deckte ich mit zwei Ziegelsteinen ab. Trotzdem waren der Oleander und die angewachsenen Avocados am nächsten Tag wieder durch den Spalt herausgewühlt. Also keine Füchse, es muss was Kleineres sein.
Meine Wahrnehmung war verengt von der Frage: Wen habe ICH zum Feind? Wer tut MIR das an? Die zwei nächsten Fragen: Wen störe ICH? Was tue ICH wem an?, die lagen schon eine kleine Erkenntnisstufe höher.

An wen dachte ich zuerst: an Füchse. Diese leben hier schon immer, haben mir langlebige Nachbarn in der Gartensiedlung erzählt. Als die Hütte jahrelang leer stand und der Garten nicht bewirtschaftet wurde, habe eine Füchsin mit Jungen ganzjährig das Untergeschoß bewohnt. Aber die Fußabdrücke passten nicht – ich habe sie fotografiert und später zu Hause gegoogelt. Fuchsspuren hatte ich schon in einem früheren Jahr an angenagten und im Garten verschleppten Arbeitsschuhen erkennen können. Auch wird der Komposthaufen regelmäßig durchwühlt. Es könnten aber auch Krähen oder Ratten sein. Krähen sind allgegenwärtig, zu sehen und zu hören. Von einer Rattenplage wissen die Nachbarn nichts.

Dann saßen wir am Ostermontag in Liegestühlen auf der Wiese, meine Schwester und ich. Wir hielten Köpfe und Körper in die Sonne und genossen die seltene Wärme. Vor uns machte die alte Föhre einen lockeren Schatten. Die Forsythien stehen in Hochblüte, der Kirschbaum beginnt gerade zu blühen, Bienen umschwärmten ihn schon. Birne und Vogelbeere kommen ein bisschen später. Links und rechts stehen Marillen und Pfirsiche in rosa Blüte, Äpfel und Zwetschken in Weiß, alle recht bescheiden, weil sie noch jung sind.
Da sehen wir es gleichzeitig, als würden wir simultan blinzeln:
Ein Eichhörnchen springt von der Weißtanne auf den Elektromasten, balanciert über den Kabelstrang auf meine Schwarzföhre zu. Da sitzt es, hält inne, die Pfötchen vor der Brust erhoben. Es ist ganz nahe, ich sehe Augen und Pfoten und das Zucken des Schwanzes.
Wenige Bruchteile von Sekunden nur, aber sehr deutlich. Wie eingebrannt auf der Rückseite meiner Augen.
Es ist still, und wir bewegen uns nicht. Trotzdem macht das Eichhörnchen knapp vor der Föhre kehrt und verschwindet in den Bäumen gegenüber.

Erst da beginnen wir zu sprechen.
Hast du es gesehen? Das Eichhörnchen.
Ja, ich kenne es schon lange. Früher wohnte es hier im Baum. Seit ich die Föhre stark beschneiden ließ, habe ich es nicht mehr gesehen. Aber abgenagte Bockerl und Zapfen liegen immer wieder auf dem Boden, also holt es sich Nahrung aus dem Baum.
Ich glaube, sage ich, es ist mir böse, weil ich den Baum so stark ausgedünnt und in eine für mich ansprechende Form gebracht habe. Einerseits um den Nadelfall zu verringern, andererseits um ein Meditationsbild zu erhalten: Die geschwungenen Äste habe ich vollkommen nackt gemacht und von einem Gartenarchitekten zu einem chinesischen Schriftzeichen ziselieren lassen. In meinen Augen bedeutet es: Haus und Friede. Im Sommer schimmern Stamm und Äste rötlich gegen den blauen Himmel, im Winter mit Schnee schwarz.
Es rächt sich nun an meinen Pflanzen. Vermutungen und Annahmen, kein Wissen. Alles falsch, weil ich nur im Sinne einer Beziehung denke und nicht im Sinne der tierischen Bedürfnisse.

Wir reden noch länger über die vielen Rätsel, die mir die Natur sogar auf einem so beschränkten Platz wie einem alten Schrebergarten aufgibt.
Der Bussard, der sich kurz nach meinem Einzug bei mir vorgestellt hat, die Äskulapnatter, die ins Dach der Hütte eingezogen ist, die Frösche, die schon kurz nach seiner Errichtung den Mini-Biotopteich entdeckt und sofort mit der Nachwuchsproduktion begonnen haben, die Erdkröte Bufo Bufo, die sich im Abfallhaufen eingenistet hat und mit ihren langgezogenen, metallisch-knarrenden Öok-Öok-Rufen eine Partnerin anlockt. Große Freude, als ich die ersten Antworten mit dem kurzen Ük-Ük höre.

Meine Schwester hält mich nicht für verrückt, teilen wir doch eine Kindheit, in der wir am Mondsee unter der Drachenwand Dörfer für die Zwergerl bauten, mit Leidenschaft und der Überzeugung, dass es sie wirklich gibt. Gleiches Bedauern, dass wir nie das Einhorn zu Gesicht bekamen, das wir erwarteten, zwischen den hohen Tannen, Flechtenschleiern, Farnen und Felsbrocken auftauchen zu sehen.
Erst am nächsten Tag, als der Blumentopf wieder umgegraben war und ich die Kräuterpflanzen übers Beet verstreut vorfand, machte ich mich an eine genaue Ursachenuntersuchung. Ich fand neben dem Oleanderstock ausgehöhlte, schon eingeschrumpelte Schalenhälften von Avocados.

Da erst fiel mir ein, dass ich zwei Avocados beim Aufschneiden braun vorgefunden, die Kerne in die Erde versenkt, die Hälften aber neben dem Topf liegengelassen hatte. Avocados, das Super-Food. Schon die Azteken fanden sie süß, fett und nussig und opferten sie ihren Gottheiten. Natürlich wissen die Eichhörnchen nichts von den ungesättigten Fettsäuren, von den nützlichen Vitaminen A und E, dem Jungbrunnen für die Haut, der Low-Carb-Ernährung ohne Kohlehydrate und von den vielen Proteinen, die lange satt machen. Aber sie werden es gespürt haben. Wahrscheinlich ein Festessen für mein Schrebergarten-Eichhörnchen.
Welches Eichhörnchen bekommt schon einmal eine solche Köstlichkeit, ganz für sich allein?
Oder hat sich eine ganze Familie darum geschart? Danach wird es sich auf die Suche nach ähnlichen Genussquellen gemacht haben, in den Streifen mit den jüngst eingepflanzten Kräutern. Eichhörnchen sehen nicht gut, ihr Geruchssinn und Gedächtnis sind aber ausgezeichnet. So finden sie auch ihre über Sommer und Herbst angelegten unterirdischen Futterlager. Mit denen kommen sie über den Winter, dabei verbreiten sie die Samen durch die Wälder.

In meinem Fall war das so, dass ich über die Jahre alle möglichen Kerne in der näheren Umgebung meiner Hütte in die Erde versenkt habe: in den Oleanderstock, in das Rucola-Beet vor der Terrasse, aber auch im Rand des Kräuterrabattls. Alles nur entlang ihres Geruchs- und Geschmacksinnes. Hat absolut nichts mit mir zu tun.
Das kluge, scharfnasige Eichhörnchen ging einfach seinem Bedürfnis nach Köstlichkeiten nach, nach etwas, was ihm guttut, etwa so wie wir auf dem Weg über Graben und Kohlmarkt instinktiv zum Demel gezogen werden. Weil wir übereingekommen sind, dass uns das schmeckt, das wollen wir einfach immer wieder haben, den Zucker, das Fleisch oder das Cola.

Wenn man schon zum Eingeständnis seines Irrtums oder der falschen Annahme gekommen ist, muss man weiter darüber nachdenken, warum das so ist. Warum wir falsch denken und danach falsch handeln. Es ist ja keine ideologische und auch keine moralische Frage, sondern eine praktische. Dabei kann ich nur von mir ausgehen und dabei annehmen, dass es bei den anderen nicht viel anders sein wird. Weil wir Menschen der Hybris erlegen sind, dass wir nicht Teil der Natur sind, sondern uns außerhalb, gegenüber oder oben drüber stellen. Wir haben uns abgetrennt vom Kreislauf der Natur und uns ihr entfremdet. Wie ein Baum ohne Wurzeln, da kann nichts Gutes herauskommen. Dieses falsch interpretierte „Macht euch die Welt untertan“, mit dem seit der Erfindung des Calvinismus der Kapitalismus operiert und sich als alternativlos, als einzig mögliche Wirklichkeit generiert, ja als die Natur selbst.

Erleichtert und froh über meine Erkenntnisse, telefoniere ich mit meiner Schwester darüber. Ich bin nur halbschuld, stelle ich fest.
Sie teilt meine Freude, ermahnt mich aber nachdringlich, keine Avocados mehr zu kaufen. Nicht wegen der Eichkatzerl, sondern wegen ihres katastrophalen ökologischen Fußabdrucks.
Weißt eh, Wasserverbrauch, fast so schlimm wie Rinder, Ausbeutung der Indigenen, Konzerne, Profite, Transporte, Chile, Fußabdruck. Sie ist eine strenge Ökologin.
Ja, das weiß ich alles. Aber was soll ich machen? Ich mag sie, sie schmecken mir und tun mir gut. Es ist schließlich das einzige Fett, das ich verwende. Vielleicht war ich in meinem früheren Leben ein Eichhörnchen? Meine leicht vorstehenden Schneidezähne könnten doch ein Anzeichen dafür sein, oder?
Die Zähne sind eine Familientradition.
Wie bei den Habsburgern die Lippe.
Auch Eichhörnchen haben Traditionen.
Meine Schwester hat perfekt gerade Zähne.

13.4. 21

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 21063