Alphabet

Unterschreiben ging immer. Ging noch. Mit einem Schreibgerät auf Papier. Kein Problem. Aber das war nur eine schwungvolle Kritzelei, angedeutete Buchstaben, man konnte aus ihnen den Namen nicht erkennen: Heinrich Mirnig. Wenn Heinrich versuchte, aus den passenden Buchstaben seinen Namen zusammenzufügen, es funktionierte nicht. Gleich ob Schreibschrift, Druckschrift, Blockschrift, unmöglich. Ein aussichtsloses Unterfangen. Auch am Computer, wo er jetzt saß, im Büro, keine Chance. Buchstaben, Wörter, Sätze waren ihm fremd geworden, als ob er sie nie gelernt hätte. Auch Lesen klappte nicht mehr. Er starrte auf den Bildschirm und hatte keine Ahnung, was da stand.
Er musste krank sein. Ein übersehener Schlaganfall? Sind bestimmte Gehirnregionen verletzt, wusste Heinrich, kann man nicht mehr lesen. Nur schreiben kann man dann doch. War er etwa psychotisch? Er fühlte sich nicht anders als sonst.

Nein, er war normal. War er etwa Analphabet, hatte sich eine übliche Schullaufbahn bloß eingebildet? Auch das kam nicht infrage, welche Firma würde einen Lese- und Schreibunkundigen als Einkäufer für Lebensmittel beschäftigen? Das war der Punkt, kein derartiges Unternehmen würde ihn auf der Gehaltsliste führen. Er musste aktiv werden. Sein Unwissen durfte nicht bekannt werden, sonst würde die Firma ihm kündigen. Er betrat das Büro seines Chefs: „Herr Gollinger, ich fühle mich entsetzlich.“ Noch einige Sätze, wie leid es ihm täte, er würde sich augenblicklich in ärztliche Behandlung begeben, mit doppeltem Elan alles nach überstandener Krankheit aufarbeiten.
Er ging nach Hause, wartete, sah in der Zeitung das Fernsehprogramm an, verstand nicht, nahm Schlaftabletten, mehr Tod als Schlaf, stand am nächsten Morgen auf, holte die Zeitung, rätselte über ihren Inhalt. Es war unverändert. Lesen und Schreiben waren für Heinrich Vergangenheit.

Mit der Zeit fiel es auf. Bald war es nicht mehr zu übersehen. In den Lokalen las kaum jemand mehr eine Zeitung, dafür stapelten sich alte Ausgaben in den Läden, weil ganz selten jemand eine neue kaufte, auf Handys wurde fast nicht mehr getippt, sondern sie wurden so gut wie ausschließlich zum Telefonieren genutzt. Eine Seuche beginnt mit einigen wenigen Krankheitsfällen, Epidemie, Pandemie, sie kann jeden Einzelnen betreffen, gleich einem breiten Strom, der als Gebirgsbach beginnt. Bisher hatte es nur körperliche Seuchen gegeben. Das hier war die erste geistige. Die einem das Lese- und Schreibverständnis nimmt, die Fähigkeit, eine Schrift zu erkennen. Am Schluss hatte sie niemand mehr. Zumindest war keiner bekannt.

Es nutzte auch nicht, dass Alphabetisierungskurse mittels vorproduzierter Lehrvideos abgehalten wurden, die sehr gut besucht waren. Die Buchstaben fanden keinen Platz mehr in den Köpfen der Menschen. Die Schrift war Vergangenheit. Es machte auch keinen Unterschied, in welcher Sprache etwas geschrieben war. Es war überall unlesbar und unschreibbar. Es war ein weltweites Phänomen.

Die Auswirkungen waren gravierend. Es war eine totale Umwälzung der Wirtschaft. Nicht nur, dass die Zeitungen und die Verlagshäuser pleitegingen, es gab keinen Schriftverkehr mehr, niemand konnte somit noch eine Steuererklärung erstellen, Handel wurde mündlich betrieben, wodurch er auf dringend benötigte Produkte beschränkt wurde.

Aber es hatte auch etwas Gutes. Um Nachrichten zu übermitteln, wurde, sieht man vom Fernsehen ab, gesprochen. Es wurde darum viel mehr miteinander geredet. Auch wenn es nur aus Notwendigkeit war, die persönlichen Kontakte nahmen stark zu. Bei einer Frage gab keine Suchmaschine die Antwort, sondern ein Mensch. Es entstand ein lebendiger Austausch an Informationen, an Befindlichkeiten. Die Menschen machten sich ihre Angelegenheiten wieder persönlich aus. Eigentlich war das positiv.

Dann geschah Folgendes: zwei Frauen beim Kochen. „Hertha, gibst du mir bitte ein Stückchen Butter?“ „-.“ Hertha verstand nicht.

Das war das erste Anzeichen der neuen Seuche, Epidemie, Pandemie. Die Krankheit der Sprachlosigkeit.

Drehen & Verstehen – Buchstaben – 5 – 6 JAHRE

Drehen & Verstehen – Buchstaben – 5 – 6 JAHRE

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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