Corona-Hausarrest: Tag 36 der Ausgangsbeschränkung

Als die Krisenregierung immer häufiger den Begriff der „Risikogruppe“ gebrauchte und ich feststellte, dass ich allein auf Grund meines Geburtsjahres auch dazugehöre, meinte ich, zum ersten Mal in meinem Leben fremddefiniert und in eine Schublade geschoben worden zu sein.
Stimmt nicht, fiel mir eines Tages auf. Alles hat’s schon einmal gegeben, und das sehr früh, wieder wegen meines Alters. Als Kind und Jugendliche soll ich wild, schlimm und unerziehbar gewesen sein, so die Familienerinnerung, die nur zum geringsten Teil mit meiner eigenen übereinstimmt. An das „Gfrast“ und den „Flederwisch“ kann ich mich noch erinnern als Anreden, ein Staubwedel, der an allem dran ist und niemals stillsteht.

Die schlimmen Kinder bekamen einen „Hausarrest“. Das war eines der beliebtesten Erziehungs- bzw. Bestrafungsmittel meiner Eltern, die sich streng von körperlicher Züchtigung fernhielten. Wie viele Tage oder Wochen meiner Kindheit und Jugend ich in Hausarrest verbracht habe, weiß ich nicht, und es gibt niemanden, den ich fragen oder der das nachrechnen könnte. Am ehesten vielleicht mein jüngster Bruder F., der angeblich noch schlimmer war als ich und noch viel mehr Zeit in Hausarrest gesessen ist. Die jüngere Schwester H. bekam meiner Erinnerung nach nie einen Hausarrest, sie war die „Sanfte“, von der Mutter „die stille Dulderin“ genannt. Eine Brandmarkung.

Eines erinnere ich sehr deutlich – ich fühle es sogar bis heute –, dass der Hausarrest für mich keine Strafe war, sondern eine ersehnte Erlösung, Befreiung vom Rest der Familie, vor allem von den lästigen jüngeren Geschwistern und den zynischen älteren Brüdern, die ihr Mütchen oft an den kleinen Schwestern kühlten. Zweifellos herrschten zwischen uns Geschwistern innige, aber sehr komplizierte Beziehungen.

Kontaktsperre – social distancing oder social containment – war in unserem Haus natürlich nicht möglich. Abstand war ein Luxus. Wir hatten ein sehr kleines Bad, einen ins Vorzimmer eingebauten Holzverschlag von nicht einmal zwei Quadratmetern Ausmaß: eine Waschmuschel und eine Tasse mit Sitzbad. Es gab außer den Gemeinschaftsräumen zwei Mädchenzimmer für vier und ein Bubenzimmer für zwei. Nur der älteste Bruder H. hatte das Privileg eines Einzelzimmers, als er Student der Rechtswissenschaften wurde. Er lebte praktisch in freiwilliger Einzelhaft mit seinen Gesetzes-Wälzern und Skripten in einer ausgebauten Dachluke, Mansarde genannt, aber immerhin allein. Eine Türe hinter sich zumachen können, das war sein Privileg als vielgeliebter Erstgeborener. Niemand wagte es, den Studenten zu stören. Ich erinnere mich, wie er einmal aus seiner Höhle im Dach herabstieg unter das Jungvolk und einen Stoß Skripten auf die Küchenwaage legte: „16 Kilo oder acht Kaiserziegel, das alles muss ich noch in diesem Semester lernen.“ Da wusste ich schon als Elfjährige, dass ich nienieniemals Jus studieren würde.
Was beinhaltete der Hausarrest? Verbot von allem, was nicht unmittelbar Schule war. Musikunterricht, Jungscharstunden, Radfahren, Turn- und Schwimmverein und natürlich Treffen mit Freundinnen, innerhalb oder außerhalb des Hauses. Bei den Brüdern kam noch die Kontaktsperre zu den Pfadfindern und dem Fußballclub dazu.

Wofür bekam man einen Hausarrest? Für die anderen Geschwister kann ich nicht sprechen. Für mich erinnere ich mich vor allem fürs Zuspätkommen. Zeiten nicht einzuhalten, z. B. zu Mahlzeiten oder zu zugewiesenen Diensten, war ein Sakrileg, fast so schlimm wie die Erbsünde. Das brachte die Familienkonstruktion durcheinander. Einmal bekam ich Hausarrest, weil ich das neue Kleid meiner jüngeren Schwester widerrechtlich angezogen und ausgeführt hatte. Ein anderes Mal hatte ich ein Lieblingsbuch vor ihr versteckt, das zu lesen sie meiner Meinung nach wegen ihres Alters nicht berechtigt war.

Unter der Matratze, die Mutter fand es, und ich las andere Bücher weiter im Hausarrest.Widersprüchlich war dagegen die Befehlsausgabe zu gemeinsamen Unternehmungen wie etwa Sonntagsmessen oder Ausflügen. Wie gerne wäre ich da im Hausarrest geblieben, nicht so sehr, weil ich etwas gegen Messen oder Wanderungen gehabt hätte. Aber einmal für ein paar Stunden das ganze, gar nicht kleine Haus und den Garten für mich allein zu haben, wäre ein Traum gewesen, eine Belohnung und keine Strafe. Einmal unbeobachtet im Schreibtisch des Vater zu stirl’n, wo alle Familiendokumente gelagert waren. Einmal in Ruhe den „Giftschrank“ mit den verbotenen Büchern durchsuchen zu können, den Index librorum prohibitorum wie die Altphilologeneltern diese versperrbare Abteilung der Bibliothek nannten.

So war’s wahrscheinlich auch von der Erziehungsobrigkeit gedacht, mit ihrem absoluten Credo: Wir sind eine Familie und machen alles gemeinsam, es gibt keine Extratouren. Basta! Bei uns eher wie das Amen im Gebet, so ist es. Keine Widerrede! Das war das letzte Machtwort von Papa, wobei seine Unterlippe und sein Kinn gefährlich zitterten, wovor ich mich entsetzlich fürchtete. Es bedeutete, dass er den Zornesausbruch gerade noch unter Kontrolle halten konnte und das große Donnerwetter vorüberging. Der alleswissende und allessehende Gott konnte nicht schrecklicher zürnen. Wie viele Nächte habe ich von diesem Auge im goldenen Dreieck mit den Strahlen herum albgeträumt, immer präsent über dem Hochaltar von St. Stephan.

Ich weiß nicht, wie es den anderen Geschwistern erging, ich zumindest litt ständig unter dem Mangel an Einsamkeit. Wenn es das schon gegeben hätte, würde ich Beratung und eine Hotline für das Gegenteil gebraucht haben, obwohl im Haus nicht wirklich räumliche Enge herrschte. Aber die ständige Anwesenheit von mindestens neun Personen an einem Ort, das Kommunizierenmüssen, die geschwisterliche Konkurrenz, die Fraktionsreibereien, das Streiten, das Schergeln – oberösterreichisch für Petzen, Denunzieren – der hohe Lärmpegel, das Gewurl und Gerangel, die Streitereien, das Ausgesetzsein dem Hänseln und den fragwürdigen Witzen der älteren Brüder, genannt „Aufziehen“, das ständige Nachdenken über Durchsetzungsstrategien und Koalitionen. Und dann gab es noch das immerwährende Teilenmüssen, angefangen bei den Zimmern bis zu Kleidung, Büchern, Spielsachen, Musikinstrumenten, Sportgeräten, einer Geburtstagstorte oder einer Tafel Bensdorp-Schokolade durch sieben.
Ich erinnere mich ganz genau daran, wie ich zum 13. Geburtstag eine Tafel Schokolade bekommen habe und nach dem Teilen ein halbe Rippe für mich übrig blieb. Da beschloss ich, für den Rest meines Lebens auf Süßigkeiten zu verzichten, was bis heute anhält.

Keine Geheimnisse, alle wussten immer alles von den anderen, auch wenn wir Kleinen oft nicht interpretieren konnten, was bei den Großen vor sich ging. So wusste ich zum Beispiel lange nicht, was die Mutter meinte, wenn sie die großen Brüder „Schlurf“ oder „Büücha“ nannte. Noch schlimmer war ihre höllische Prophetie, wenn sie ihrer Meinung nach nicht gut genug lernten: „Aus dir wird no a Prolet.“ Und der Mutter war nichts gut genug als ein Sehr gut.
Die mangelnde Empathie der Mutter mit den Kleinen, die eher über den Witz und die Schlagfertigkeit der klugen Brüder lachte, als dass sie unsere Verletzlichkeit schützte. „Geh, sei ned so ang’rührt, du ang’rührte Leberwurst, geh, sei ned so empfindlich, du Mimose, du.“
Lange dachte ich, Mimose sei ein arges Schimpfwort.

So weit ich mich erinnern kann, hat sich nur meine nächstältere Schwester L. diesem verordneten Herdenauftrieb entziehen können. Sie blieb immer ruhig und am Rande, mischte sich nie ein in die Massenveranstaltungen oder Massenstreitereien, sondern ging ihren einsamen Vergnügungen nach. Man sah sie nie anders als in ein Buch vertieft, wobei sie die beneidenswert dicken Zöpfe zu Kringeln drehte, oder sie saß in splendid isolation über ihr Strick- oder Stickzeug gebeugt, oder sie machte sich in der Küche zu schaffen. Sie hatte sich dazu ein Privileg erobert und entwickelte sich zu einer talentierten Konditorin. Ob es ihr Genie war oder Strategie oder eine innere Stärke, ich weiß es nicht. Sie hatte sich den großen Bruder H. – sechs Jahre älter als sie – als einzige Ansprechperson auserwählt.
Und weil der grundsätzlich nicht mit den Kleinen kommunizierte oder uns nur wie einen lästigen Mückenschwarm wahrnahm, war L. fein raus. Sie strickte Pullover und Schals für ihn, bestickte Bettdecken und Kissen mit Kreuzerlstichen auf grobem Leinen. Beim Zählen der Fäden bewegte sie die Lippen, leckte den Faden, und niemand kam auf die Idee, sie dabei zu stören.

Oder sie bedachte den angebeteten H. mit Kuchen oder sonstigen Extra-Schmankerln. Er ließ ihre Gunst und Anhänglichkeit gnädig über sich ergehen. L. übernahm sogar „Bubendienste“ wie das Schuhputzen für ihn, während wir übrigen Mädchen zum Küchendienst abkommandiert waren. Sie übte ihre Rolle so perfekt und selbstverständlich aus, dass das nie hinterfragt, sondern allgemein akzeptiert wurde. Ich kann mich an keinen Streit mit L. erinnern, weder direkt noch im Rudel. Aber vielleicht war es einfach die Gunst der Geburt; sie befand sich bei sieben Kindern als viertes genau an der Schwelle zwischen den Großen und den Kleinen. Die Geschwisterforschung hat vielleicht eine Antwort darauf. Sie stand auch an einer historischen Zeitschwelle, vor und nach 68. Wie gerne wüsste ich, wie es L. jetzt unter den Corona-Bedingungen geht, in den Niederlanden, wenn auch sie eingesperrt in ihrem Haus sitzt, mit Mann und Hund, ohne Kontakt zu Kindern und Enkeln. Ob ihr ihre Kindheitsgewohnheiten heute helfen?

Ich mag etwa zehn oder elf gewesen sein, als ich einen Platz für mich allein fand, in der Pfarrkirche von St. Stephan, genau gesagt im Kreuzweg. Ich setzte mich in die schmale Bankreihe an der rechten Seite, genau zwischen die 5. und 6. Station, zwischen Simon von Kyrene, der Jesus das Kreuz tragen half, und Veronika, die ihm das Schweißtuch reichte.
In unserer sehr katholischen Familie spielten die Namenstage eine größere Rolle als die Geburtstage. Es war also sehr wichtig, welchen Namenspatron man hatte und dass er unbedingt ein Heiliger sein musste. Da waren Agnes, Bernhard, Elisabeth und Franz fein raus, weil sie gleich mehrere Heilige hatten. Das war die Adelung. Meine Veronika war nur eine Selige, also dritte Wahl.
Sogar Hedwig mit ihrer polnischen Heiligen Jadwiga spielte noch in der zweiten Liga. Wie der heidnisch-germanische Helmut aus dem 40er Jahr dahineinkam, kann ich nicht erklären, ebenso wenig, wer sich diese Konkurrenz ausgedacht hatte. Aber ich tippe auf die Mama, die mochte solche Spielchen. Also, wenn ich wieder einmal gekränkt war, weil ich gehänselt worden war: „Ätsch, du hast ja nicht einmal eine Heilige“, flüchtete ich zu ihrem Seligenbild in der 6. Station. Ich fand sie so schön und edel, dass mir alle Heiligen der Geschwister gestohlen bleiben konnten. Nie konnte ich mich entscheiden, wer Jesus mehr geholfen hat, Veronika oder Simon von Kyrene. Diesen einfachen Bauern mochte ich sehr und fand seine Hilfe, wenn auch von den römischen Söldnern erzwungen, eine schöne Tat. So vergaß ich meinen Kummer und kehrte getröstet in unser Massenquartier zurück.

Schon bevor ich Virginia Woolf kennenlernte, wusste ich, dass mein erstes Etappenziel beim Erwachsenwerden ein Zimmer für mich allein sein würde. Ich habe es knapp vor der Matura erreicht, als meine älteste Schwester A. heiratete und L. ins Schwesternheim des Spitals zog, wo sie arbeitete. Mit den Hausarresten hatte es ein Ende, als sich herausstellte, dass der Jüngste im Hausarrest noch – oder erst recht –  mehr „angestellt“ hat. Was das Substitut für den Hausarrest wurde, weiß ich nicht mehr. Aber vielleicht war es auch so, dass wir allmählich aus dem Alter des Schlimmseins und des Karzers herauswuchsen und sich die Erziehungsobrigkeit einen anderen, altersgemäßen Maßnahmenvollzug ausdachte. Man kann bei so bildungsaffinen Altphilologen- plus Germanisteneltern davon ausgehen, dass es erzieherisch höchst wertvoll war, das Werk eines Klassikers in der bestimmten Karzer-Zeit zu lesen, kurz „Die Perser“, länger „Don Quichotte“ oder einen Aufsatz zu schreiben über das Problem von „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ oder das „Nicht zu hassen, denn mitzulieben bin ich da“ der Antigone.

Meine Eltern waren davon überzeugt und hatten es sich zum Programm gemacht, dass Erziehung hilft und Wissen Macht ist. Als Jugendliche rebellierte ich heftig dagegen, aber inzwischen habe ich eingesehen, dass sie uns nichts Besseres mitgeben hätten können.
Nun wünsche ich mir auch so ein „Herauswachsen“ aus der Corona-Krise, aus dem Corona-Hausarrest, mit allen Kurzarbeitern und Arbeitslosen, allen Eltern, Sportlern, mit dem Buchhandel und der Gastronomie.
Und was hilft mir bei alledem? Schon vor Corona habe ich mir überlegt, ob das Aufwachsen in einer Großfamilie nicht nur den Vorteil hat, dass man später, wenn man älter ist und das schätzen kann, nicht nur viele Verwandte hat, sondern in der Kindheit und Jugend schon so viel  – oder zu viel – Familie bekommen hat, dass man später weniger braucht. Ich denk mir, das ist so ähnlich wie mit der Milch, die brauche und trinke ich auch nicht mehr seit Jugendtagen, oder nur in Milchkaffeedosen.

Aber ich gebe zu, dass es in meiner Geschwisterschar auch das gegenteilige Beispiel gibt – die, die gar nicht genug von Familie bekommen können, viel eigene gemacht haben und nun zwischen zwölf und vier Enkel haben, die sie seit fünf Wochen nicht mehr sehen dürfen. Interessant finde ich, dass es die Vor-Achtundsechziger sind, die das elterliche Familienmodell übernommen haben.

Und bei mir die Bestärkung meiner Jugenderfahrung, dass das Alleinsein nie Einsamkeit war, sondern etwas Erstrebenswertes, Positives, ein Privileg. Ich werde nie eine Hotline brauchen, außer für mein Handy oder das TV-Gerät. Noch dazu, wenn man den Großteil seines Tages ohnedies damit zubringt, allein an seinem PC zu sitzen, zu schreiben und zu lesen. Lange vor der Krise hatte ich schon den Corona-Blick, schaute schon aus dem Fenster auf die Kastanien und Ahorne im Hof. Das ist nicht nur ein Genuss, sondern geradezu Notwendigkeit, Arbeitsvoraussetzung, in absoluter Stille, ohne äußere Ablenkungen, in notorischer Sauberkeit und Ordnung rund um den Schreibtisch. Bei mir darf höchstens Ö1 an den Schreibtisch.

Neulich – aber noch vor Corona – fragte mich eine freundliche Gartennachbarin über den Zaun hinweg, als sie mich wieder einmal allein in der Erde buddeln, jäten und Blumenzwiebel eingraben sah, warum ich denn nie Besuch habe. Oh Gott, diese Vorstellung jagte mir so einen Schreck durch die Glieder, dass mir die Gartenkralle aus der Hand fiel. Leute, Freund, Freunde, Familie in meinem Gärtchen? Unvorstellbar. Die könnten mich ja von der Arbeit abhalten, bewirtet werden oder gar mitreden wollen, alles besser wissen, diskutieren und Vorschläge machen. Es schauderte mich so sehr, dass ich mich in meine Schrebergartenhütte verzog und zur Beruhigung einen tiefen Zug aus der Zigarette nahm, die ich eigentlich abgelegt hatte.
Ich erlaube das ja auch niemandem beim Schreiben. Und da gibt es bei mir fast keinen Unterschied. Das Schreiben ist meine Lebensform ebenso wie das Garteln. Erst das jeweilige Ergebnis kann und will ich präsentieren und mit anderen teilen. Zum Schreiben lade ich ja auch niemanden ein, das Schreiben diskutiere ich ja auch mit niemandem außer meinen inneren Ichs. Das sind viele, und mir wird nie langweilig mit ihnen.
Aber erklären konnte ich das der empathischen Nachbarin nicht, einer jungen Frau mit zwei Kleinkindern zu Hause, noch in Karenz. Da übt sie sich schon lange in Isolation, in einem schmucken Haus in einer Gartensiedlung, hoch oben am Hüttelberg über dem Stadtrand, ein Rosental und ungefähr vier Kilometer von jeder Zivilisation entfernt.

Unter meinen persönlichen historischen Voraussetzungen ist also die neu gewonnene Zugehörigkeit zu einer „Risikogruppe“ mit all ihren verordneten Einschränkungen kein Problem für mich, keine Herausforderung, wie man neuerdings sagt, sondern ein Privileg. Endlich keine Einladungen mehr oder Termine, die mich immer zu lästigen Überlegungen und Abwägungen führen: hingehen oder nicht, wahrnehmen oder nicht, brauch ich das oder nicht, freut mich das oder nicht, nützt oder schadet mir das? Beleidige und enttäusche ich jemanden? Was anziehen und welche Frisur? Die vier Wochen der strengen Ausgangssperre überlebte ich gut, indem ich das fantastische Angebot der Gemeinde Wien zu kostenlosen Taxi-Gutscheinen nutzte und später das leidende Taxigewerbe privat unterstützte, indem ich mich meist mercedesmäßig zu meinem Garten hinauskutschieren ließ. Jetzt fahre ich wieder ganz legal mit der U-Bahn und fürchte keine Polizeikontrollen mehr  – Risikogruppenrazzia.

Vielleicht ist aber alles ganz anders, nix Kindheitstrauma, nix Familienschädigung, sondern es kommt alles nur daher, dass ich schon lange in einer Art von Homeoffice arbeite, nicht arbeitslos oder in Kurzarbeit bin, zum Glück auch keine Selbständige mit abgrundtiefen Existenzängsten, auch keinen Marathon laufe und nicht Fußball spiele, weil ich schon lange komisch aussehe mit einem mit Cleenex ausgestopften Schal um den Kopf, seit ich an Heuschnupfen oder sonstwas leide und nun alle so herumlaufen und bis heute in Enkellosigkeit lebe.

Always look on the bright side of life.
Als ich heute früh, erfrischt und wohlig unter einer hellen Sonne aufwachte, stand mir mein kindlicher „Hausarrest“ deutlich vor Augen, und er fühlte sich genauso an, wie ich ihn erlebt hatte. Hach, geht’s mir gut! Vor den Fenstern frischgrüne Ahorne, und die Kastanien haben ihre ersten weißen Kerzen angesteckt. Und ich allein in der großen Wohnung! Absolute Ruhe, bis auf das Morgenflöten der Amseln. Eine berühmte Traumforscherin sagte kürzlich in einem Interview, dass die Menschen seit Corona länger schlafen und mehr träumen. No na ned, wenn sie nicht mehr um 5 oder 6 vom Wecker aus der REM-Phase gerissen werden und nicht mit den Kindern zu Kindergarten, Schule und danach zur Arbeit stürzen müssen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie nicht in Kurzarbeit, arbeitslos oder albtraummäßig selbständig sind, nicht an Heuschnupfen und Enkellosigkeit leiden. So viel Wissenschaft muss schon sein.

Wien, 20.4.20 , 36. Tag mit Ausgangsbeschränkung

Veronika Seyr
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