Adele Sauerzopf erbt ein Schloss

Frau Sauerzopf, eine ehrbare Straßenbahner-Witwe von 69 Jahren, lebte still und zufrieden in ihrer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung in Wien-Hernals. Sie ging einmal wöchentlich mit zwei Freundinnen zur Seniorengymnastik und danach auf ein Tratscherl ins Café und hatte sonst keine großen Ambitionen mehr. Gesund bleiben wollte sie halt noch ein paar Jahre und einmal nach Paris fahren. Im Gemeindebau und Grätzel wohlgelitten (sie wohnte seit ihrer Geburt dort) und von abgeklärt-heiterer Lebensart, war sie höchst überrascht, als sie am Mittwoch (13.6.) – vom Einkaufen heimkehrend – im Briefkasten das Schreiben einer Rechtsanwaltskanzlei fand. Sie wagte es erst gar nicht zu öffnen und durchforschte ihr kindlich-reines Gewissen, was denn die Ursache dieses bedrohlichen Briefes sein könnte; noch nie im Leben hatte sie mit Anwälten zu tun gehabt, weder hatte sie Böses getan, noch jemals selbst Anklage erhoben. Dann fuhr ihr wie ein Blitz die Angst ins Herz, der einzige Sohn (er lebte schon seit Jahren in Amerika) könnte etwas angestellt haben oder – Gott behüte – es wollte ihn jemand verklagen oder Ähnliches. Mit zitternden Händen riss sie den Umschlag auf, aber im Brief stand nur die lakonische Mitteilung, sie möge sich in der Erbschaftssache Ruggenthaler in den nächsten Tagen in der Kanzlei einfinden.

„Erbschaftssache Ruggenthaler“, murmelte sie nachdenklich vor sich hin, „ich kenn keinen Ruggenthaler, und zu erben gibt’s doch für so ein altes Möbel wie mich nix mehr?“

Aber der Brief lag gleichwohl am Küchentisch wie auf der Seele – und die zu röstende Zwiebel fürs Erdäpfelgulasch verkohlte fast, so sehr spukte die unbekannte Erbschaft im Kopf von Frau Sauerzopf. Sie erwog, eine in Purkersorf lebende Nichte zweiten Grades anzurufen, um sich zu erkundigen, ob ihr solch ein Name geläufig sei, kam aber davon ab, weil sie schon so lange nichts mehr von ihr gehört hatte – und außerdem: Sie würde natürlich über den Grund ihres Interesses ausgefragt werden, und bevor sie nichts Genaueres wusste, konnte und wollte sie nichts sagen. Es gäbe doch gleich Gerüchte und Neid und Gerede – genau das, was sie verabscheute und demnach aktiv wie passiv immer zu vermeiden trachtete.

Der Donnerstagmorgen (14.6.) kam nach einer unruhigen Nacht, der Kaffee wurde nicht wie gewohnt in Ruhe und dabei Zeitung lesend getrunken, sondern geistesabwesend geschlürft. Hier ist zu bemerken, dass Frau Sauerzopfs gesunder Hausverstand und gute Menschenkenntnis keinen Platz für Phantastereien ließen – im Gemeindebau wurde sie manchmal ob ihrer treffend-knappen Ausdrucksweise die Frau Jolesch genannt (nach Torbergs Anekdotensammlung) –, aber ihr Leben war seit ihrer Pensionierung und dem Tod des Gatten arm an Neuigkeiten und Veränderungen, sodass dieser Brief und die damit verbundene Ungewissheit die gewohnte Alltagsroutine störten. „Jetzt will ich’s wissen“, sagte sie beim Ankleiden – was zieht man für einen Rechtsanwalt an? Schon etwas besser, aber halt seriös, das Dunkelblaue mit weißen Tupfen hat sie sowieso schon lange nicht mehr getragen. Und 10 Minuten nach 9.00 Uhr läutete sie energisch bei Mag. Dr. Strnad & DDr. Vlcek im 9. Bezirk.

„NehmenS’Platz, liebe Frau Sauerzopf, ein Schalerl Kaffee gefällig – oder ein Glas Güssinger? Ja, ein Momenterl, die Frau Srp wird gleich den Akt bringen“, sagte der dicke kleine Anwalt, ein guter Fünfziger mit goldumrandeter Brille, „das ist aber freundlich, dass S’so schnell kommen sind. WissenS’, der Fall ist ja schon fast ein Jahr im Laufen. Ja ja, eine Verlassenschaft im Ausland und ohne direkte Erben gibt schon ein paar Probleme, da heißt’s Geduld haben und nicht nachlassen. War gar nicht so leicht, Sie ausfindig zu machen – danke, Frau Srp, bitte jetzt eine halbe Stunde keine Anrufe – ja also, liebe Frau Sauerzopf, Sie werden ja schon neugierig sein, wieso wir Sie gebeten haben zu kommen. Kennen Sie eine Familie Ruggenthaler – eventuell aus der Verwandtschaft Ihres verstorbenen Gatten?“

Frau Sauerzopf schüttelte langsam den Kopf: „Nein, könnt ich wirklich nicht sagen – ich denk eh schon seit gestern nach, aber es fallt mir nix ein. Von meine Leut’ sicher nicht, aber mein Seliger war ein uneheliches Kind – die Mutter war eine Fabriksarbeiterin aus Teesdorf – und in der Nachkriegszeit hat man wohl andere Sorgen g’habt als die Ahnenforschung.“ Sie hob ratlos die Schultern.

„Tun S’Ihnen nicht plagen, liebe Frau Sauerzopf, ich kann ein bisserl nachhelfen – also der Erblasser, ein gewisser Karl Ruggenthaler, ist in der Schweiz verstorben, voriges Jahr – er war aber ein gebürtiger Österreicher, besser gesagt, ein Alt-Österreicher – aus Czernowitz in der damaligen Tschechoslowakei. Aber seine Leut’ sind seinerzeit aus Salzburg nach Czernowitz ausg’wandert – eine richtige Odyssee, nicht wahr? Ja, und besagter Karl ist im Tessin in der Schweiz Konditor gewesen, offenbar ein tüchtiger Geschäftsmann, und als Witwer kinderlos verstorben – auch von seiner Gattin waren keine Angehörigen auffindbar – also hat man begonnen, die Familie des Erblassers auszuforschen. Kurzum, ein Onkel vom Karl Ruggenthaler, ein gewisser Eugen Navratil aus Pressburg, gewesener Mittelschullehrer, soll der Vater Ihres seligen Gatten gewesen sein.“

„WartenS’“, sagte Frau Sauerzopf sinnend, „ich glaub, ich erinner mich jetzt, dass mein Anton einmal erzählt hat, dass er als Schulbub auf einem Bauernhof im Mährischen auf Erholung war – er hat ein paar Wort’ Tschechisch können – aber das war ja damals nix Seltenes. Dass ich 40 Jahr’ mit an Böhm’ verheirat’ war, ohne dass ich’s g’wusst hab.“ Sie kicherte vor sich hin.

Dann gab sie sich einen Ruck und fragte den Anwalt: „Aber jetzt sagen S’mir doch endlich, warum ich da bin – wollenS’bloß eine Auskunft oder soll ich was erben?“ Obwohl sie mit resoluter Stimme sprach, klang etwas Unsicheres mit – schließlich ist es ja keine Kleinigkeit, nach einem bescheidenen Leben auf einmal mit einer eventuellen Erbschaft aus der reichen Schweiz konfrontiert zu sein.

„Sitzen S’gut, liebe Frau Sauerzopf?“, fragte der Advokat lächelnd „es ist zwar fast kein Geld da, aber – wenn die Formalitäten abgeschlossen sind, ich brauch noch ein paar Unterlagen und von Ihnen die Papiere des verstorbenen Gatten, Sie werden ja alles aufgehoben haben, nicht wahr, und wenn sich nicht noch ein anderer Erbberechtigter meldet – ja, also, dann könnten Sie ein Schloss erben!“

Frau Sauerzopf saß auf einmal stocksteif und kerzengerade, den Blick in die Ferne gerichtet: „Was sagen S’da – ich soll ein Schloss erben – ich, die Frau von ein’ Hernalser Straßenbahner, soll eine Schlossbesitzerin sein?“ Sie drehte sich zur Seite und trank das vorhin abgelehnte Glas Güssinger in einem Zug aus. Ein paar Sekunden saß sie kopfschüttelnd stumm auf ihrem Sessel, schaute bald den geduldig wartenden Anwalt, bald ihre abgearbeiteten Hände an, bis sie wieder reden konnte: „Jetzt weiß ich nicht recht, was ich sagen soll – sowas kommt ja sonst nur im Film vor. Erst gestern hab ich einen neuen Vorzimmerteppich kauft – und morg’n brauchert ich vielleicht schon so neumodische Rollschuh’ für die endlos langen Gäng’ im Schloss. Also, wenn mein Seliger das noch erlebt hätt – der hätt schön g’schaut. Immer wollt er ein Häuserl hab’m am Stadtrand, aber es hat halt nie g’reicht für was Anständiges – und Schulden wollt’  er nicht machen. Und jetzt ein Schloss – aber sagn S’mir, Herr Doktor, wo wär denn das Schloss – in der Schweiz? Weil in mein’ Alter möchte ich nimmer ins Ausland übersiedeln, nein, das haltert ich nimmer aus, so ein alt’s Leut’ ganz allein in der Fremde! Da nutzt mir auch das schönste Schloss nichts!“

Der erfahrene Anwalt hatte taktvoll die Schockminute abgewartet und mit verständnisvollem Nicken den Ausbruch von Frau Sauerzopf begleitet: „Nein, nein, Frau Sauerzopf, da können S’beruhigt sein. Das Schloss liegt im südlichen Niederösterreich, also eine knappe Autostunde von Wien weg. Aber eigentlich ist es kein Schloss, sondern eine mittelalterliche Burg, aus dem 13. Jahrhundert – und für das Alter noch ganz passabel erhalten. Und ein paar Hinweise muss ich Ihnen schon noch geben, weil so unproblematisch ist so eine Erbschaft auch nicht!“ Er hob bedeutsam die rechte Hand mit dem abgewetzten Ehering, um seine mahnenden Worte zu unterstreichen: „Da ist immer wieder was zu reparieren und zu investieren, da sind Auflagen vom Denkmalamt und von der Gemeinde, und schließlich ist ja auch noch das Finanzamt da – gelln’S, Frau Sauerzopf, das sind schon rechte Haifisch’, diese Finanzer. Aber so weit sind wir ja noch gar nicht, ich hab Ihnen g’sagt, was voraussichtlich zu erwarten ist – und jetzt kommt’s zur entscheidenden Frage – nämlich, ob Sie überhaupt interessiert sind, das Erbe anzunehmen. Wie gesagt, es ist noch nichts endgültig spruchreif und entschieden, aber nach meiner Erfahrung schaut’s nicht mehr so aus, als ob sich noch was zu Ihren Ungunsten ändern könnt. Nein, nein, liebe Frau Sauerzopf, Sie brauchen jetzt noch gar nichts sagen. Ich würd Ihnen raten, Sie schlafen ein paarmal drüber, und was das Wichtigste ist – die Frau Srp hat Ihnen da im Kuvert die Adress’ und einen Lageplan hergerichtet, mit einem alten Foto, und wie Sie mit dem Autobus hinkommen. Schaun S’Ihnen die Sache einmal an, sozusagen unverbindlich und ohne dass wer davon weiß. Wenn jemand fragt, können S’ja sagen, dass die Burg nach dem 2. Weltkrieg ein Ferienlager war – das hab ich im Ort von einer alten Bäuerin g’hört – und dass S’als jung’s Mädel zwei Wochen dort war’n und neugierig sind, wie’s jetzt ausschaut. Da nehmen S’Ihnen meine Karte mit – bitte immer bei sich tragen, Sie können mich jederzeit anrufen, ich hab die Büronummer auch am Handy. Also auf Wiedersehen, Frau Sauerzopf – und rufen S’mich in ein paar Tag’ wieder an, wenn Sie einen ersten Eindruck haben! Und vorm Zurückfahren sollten S’unbedingt beim Grabner schräg vis-à-vis von der Autobushaltestelle auf einen Kaffee reinschaun“ – der Anwalt hob wieder die rechte Hand, Daumen und Zeigefinger zu einem Ring formend, und schnalzte leise mit der Zunge „das ist die beste Konditorei auf 40 Kilometer Umkreis!“

Frau Sauerzopf erhob sich, noch etwas benommen von der Neuigkeit (man kann schließlich auch einen Koffer voll Geld mitten auf den Schädel bekommen) und von den vielen gutgemeinten Ratschlägen des freundlichen Advokaten. Sie lebte ja schon seit Jahren allein und war so viel konzentrierte Aufmerksamkeit nicht mehr gewohnt. „Ja, da weiß ich gar nicht, was ich tun soll, Herr Doktor, es ist alles viel auf einmal – ich werd wirklich ein paar Täg’ brauchen, bis ich das begreif. Und danke für die freundliche Beratung – hätt nie geglaubt, dass mir einmal ein Rechtsanwalt sympathisch sein könnt‘!“

Mit diesem zweischneidigen Kompliment gab sie dem Advokaten die Hand und wollte schon die Kanzlei verlassen, als ihr noch etwas einfiel: “T’schuldigen S’, Herr Doktor, Sie haben da so eine kurze Bemerkung g’macht, es ist fast kein Geld da – können S’nicht einmal ungefähr sagen, was das sein könnt?“

Herr DDr. Vlcek drehte sich – schon im Ledersessel vor dem Schreibtisch sitzend – mit Schwung um und sagte, dabei die auf den Lehnen liegende Hände nach oben öffnend: „Das ist noch nicht zu sagen, liebe Frau Sauerzopf, das Bankguthaben ist nicht hoch – und es können noch immer offene Verbindlichkeiten auftauchen – ich möchte Ihnen da wirklich keine Illusionen machen – wär momentan unseriös. Und die Gerichtsspesen und Schweizer Anwaltskosten sind auch noch nicht abgerechnet – ja, also rechnen S’lieber mit sehr wenig bis gar nichts – da können S’nur angenehm enttäuscht werden.“

Das Telefon läutete, und während Herr DDr. Vlcek abhob, wurde Frau Sauerzopf von der Sekretärin, Frau Srp, hinausgeleitet. Ein guter Vorzimmerdrache hat Augen und Ohren überall und tut selbständig und unauffällig seine Pflicht.

So war das nun – Frau Sauerzopf trat aus dem düsteren Treppenhaus in den sonnig-warmen Vormittag und blieb blinzelnd und ratlos auf dem Gehsteig stehen. Nach so einem Ereignis kann man nicht einfach nach Hause gehen und Fensterputzen oder Staubsaugen, als ob nichts geschehen wäre! Nein, dieser Tag war ein besonderer und sollte auch so durchlebt werden. Sie beschloss also – es war so angenehm im Freien – mit dem D-Wagen weiterzufahren bis Nussdorf und sich dort den seit dem Tod des Gatten nicht mehr gemachten Spaziergang zu gönnen: vom Nussdorfer Platzl in die Hackhofergasse, an den Spitzbuben und dem nunmehr geschlossenen Heurigen Stift Schotten vorbei – ewig schade, dieser weiträumige Garten mit den großen Bäumen, und den besten Krautstrudel von ganz Wien gab es dort – links hinauf in die Nussberggasse und deren Verlängerung, den Dennweg, weiter bis zur Kahlenbergerstraße. Dort war das dem Heiligen Severin geweihte Wegkreuz die natürliche Wende, um nunmehr genüsslich langsam mit dem schönen Ausblick auf Wien und die Donau bergab zu schlendern, im Mai ein paar Stammerln Flieder von einem Gartenzaun oder im Juni vor dem Schweizerhäusl – einer alpenländisch gebauten Villa am Weg – eine der fantastisch duftenden weißrosa Rosen zu stibitzen und ein gutes Wort zu reden, fernab von der häuslichen Enge, ohne Druck und Hast. An die 20 Jahre lang war das der wöchentliche Lieblingsspaziergang ihres seligen Anton gewesen – und mit ihm wollte sie nun stille Zwiesprache halten – genau das wollte sie jetzt tun, dort war sie ungestört. Es gibt für jeden Menschen wenigstens einen Platz, wo die Seele Raum zum Atmen hat, wo man Sorgen und Beruf und planendes Denken ablegt, wo man ganz einfach Mensch sein will und darf, wo man Herzbewegendes sagen und Gefühle empfangen kann wie sonst nirgendwo. Für sie war das am Nussberg in Wien. So fuhr Frau Sauerzopf im D-Wagen gemächlich an der Glasfassade der Wirtschafts-Uni in der Augasse vorbei, die Heiligenstädter Straße stadtauswärts – beim Karl-Marx-Hof gedachte sie seufzend der Steffi, einer jung verstorbenen Schulfreundin, die zuletzt dort gewohnt hatte – und schließlich stieg sie am Nussdorfer Platz aus. Es war alles wie gewohnt, als ob die Zeit stillgestanden sei, nur, dass ihr geliebter Mann nicht mehr an ihrer Seite war. „Toni, was sagst – jetzt wär’n wir auf einmal Schlossbesitzer – so was Verruckt’s – jahrzehntelang hätt’st so gern ein Schrebergartenhäuserl g’habt – grad ein paar Obstbäum’ und Rosenstöck’ und ein Fleckerl Wies’n für einen Sitzplatz zum Jausenkaffee oder zum Grillen am Abend – nicht und nicht hat’s g’reicht zu so was – und jetzt das!“

Ja, wie redet man mit einem verstorbenen lieben Menschen – Frau Sauerzopf hatte eine Mischung aus abwechselndem Denken und Murmeln entwickelt, was nicht sonderlich auffiel, wenn niemand in unmittelbarer Nähe war. Sie bog um die mit abbröckelndem Putz und Efeu bedeckte Ziegelmauer des ehemaligen Schotten-Heurigen – „Zwettler Hof, erbaut 1730“ stand auf einer Tafel neben dem Tor – in die Nussberggasse hinauf, welche tatsächlich eine schmale Allee von Nussbäumen war. Im September hatte sie mit ihrem Anton gerne ein paar abgefallene Nüsse zusammengeklaubt, um diesen wohlfeilen Schatz, ausgelöst und kleingehackt, in den nächsten handgezogenen Apfelstrudel zu mischen – ihr Strudel war im Freundeskreis berühmt und begehrt. Auch das kam ihr jetzt in den Sinn, als sie nach ein paar entgegenkommenden Passanten wieder in ihrem einsamen Zwiegespräch fortfuhr: „Ist ja kaum noch wer da, für den ich was bachen könnt – die Charwats sind schon im Altersheim, die Frau Göd vom 3. Stock ham s’vor vier Wochen eingrab’n, und unser Bua kommt höchstens alle zwei Jahr einmal auf Besuch – meiner Seel, ich verlern ja noch ’s Kochen und ’s Reden. Schön wär’s schon, stell dir vor, ich könnt in der Früh in ein’ großen Himmelbett aufwachen, die Sonn’ scheint ins Schlafzimmer, was so groß ist wie mei’ ganze Wohnung, und dann tät ich durch die Verandatür auf die Terrasse mit den Oleanderkübeln gehn und in Schlosspark rausschaun, wo alles so frisch und grün ist und nach Blumen und Gras riecht. Und dann kommt die Wirtschafterin und fragt mich, ob ich draußen frühstücken will, wo die Vogerl singen und wo kein Autolärm und kein Auspuffg’stank is! Da müsst ich mir halt so einen schönen wärmeren Schlafrock kaufen aus dem ganz dicken Frottee – aber nein, Frottee ist ein Armeleut’stoff, es g’hörert einer aus g’fütterter Seide, so ein lichter mit große Blumen drauf!“

Frau Sauerzopf verlor sich in schwärmerischen Gedanken und spann diese behagliche Vision mit Genuss weiter, bis ihr wieder etwas dem Toni Mitteilenswertes einfiel: „Ja freilich, da müsst’n auch ein paar Zimmern herg’richt werdn für unsern Buam und seine ganze Familie – da täten s’gern alle Jahr drei Wochen auf Urlaub kommen – das wär eine Freud und ein Leben in den alten Mauern, und die Zwilling’ könnten die ganzen Ferien bei mir bleiben und Ritter spiel’n und auf d’Nacht im Kamin ein Feuer machen, da lernetens’wenigstens wieder ein g’scheit‘s Deutsch und würden von ihren Schulkameraden beneidet. Allein wär ich da bestimmt nimmer so viel, da hätt ich Besuch, so oft ich wollt’ – aber da brauchert ich natürlich wen, der die ganze Arbeit macht – was hat der DDr. Vlcek g’sagt, ich soll mit kein’ Geld rechnen – ja wie soll man denn ein Schloss – oder in Gott’s Nam’ eine mittelalterliche Burg erhalten ohne Geld – mit meiner Rent’n komm ich zwar selber ganz gut aus, was brauch ich denn schon, aber für eine Burg brauchert ich ja mindestens zehnmal so viel, oder?“ Frau Sauerzopfs vordem euphorische Stimmung fiel zusammen wie ein Germteig im kalten Zug – und zunehmend kamen ihr höchst beunruhigende Gedanken: „Ja, und überhaupt, wer tät’ sich denn um alles kümmern – ich bin schon fast siebz’g, und so ein Schloss ist doch riesengroß – da müsst ich ja eine Hausbesorgerin und eine Putzfrau fürs Grobe und noch eine Wirtschafterin anstell’n, und die Hausverwaltung mit die Reparaturen und die Behörden – wer machert das nachher? Ich kann doch net alles selber machen – und außerdem – bin ich deppert, dass ich mir so ein’ Binkel Arbeit und Sorgen antu in mein’ Alter – da leb ich ja in Hernals in meiner Zimmer-Kuchl-Kabinett-Wohnung viel besser! Toni, was soll ich da machen, ich weiß mir nimmer ein und aus? Was hast immer g’sagt, wenn ich nervös war – ich soll erst einmal bis zehne zähl’n und dann nachdenken, was hintereinander g’macht g’hört – die Übersicht ist das Wichtigste, die Arbeit rennt dann ganz allein. Also gut, eins, zwei, drei, …. achte, neune, zehne – so, also was ist es Wichtigste – Toni, natürlich, vor lauter Luftschlösser bau’n“, hier musste Frau Sauerzopf nun wirklich lachen, „es ist ja gar kein Luftschloss – die Burg steht ja schon seit ein paar hundert Jahr’, hat der DDr. Vlcek g’sagt – also jetzt hab ich’s wieder – ich hab ja noch gar nicht ins Kuvert g’schaut – da ist eh gleich ein Bankerl – vis-à-vis vom Friedhof, das passt grad – jetzt schau ich mir’s einmal an, mein Luftschloss, hihi!“

Und genau das tat sie auch – kramte aus der Handtasche das alte Foto heraus, welches Frau Srp vorsorglich hergerichtet hatte: „Jö, ist das was Romantisches – wie im Film, so eine schöne Burg mitten im Wald auf an klein Kuvert Mugl, mit einer Schlosskapell’n und einer Fahne drauf – ich werd narrisch – so was gibt’s doch net. Toni, das muss ich mir anschaun – wo ist denn das Blatt’l mit’n Autobusfahrplan – wart, da brauch ich die Aug’ngläser, das ist so klein’druckt – also, wo sind die Abfahrtszeiten – da hammas – was ist denn heut – Donnerstag – aha, Montag bis Freitag um 7:30, 10, 12:30 und 17 Uhr – wie spät ist’s denn eigentlich – elfe, da könnt ich noch zum Mittagsbus z’rechtkommen, aber wann geht der z’ruck, und wie lang fahr ich denn da – aha, Ankunft 14:20 – und der nächste nach Wien geht um 16:30 – nein, nein, das wurd’ eine Hudlerei, das mag ich net. Für so was Wichtiges muss Zeit sein, da g’hört es sich vorbereitet und anständig anzog’n, Schirm hab ich auch kein’ mit – und überhaupt, mei’ selige Mutter hat immer g’sagt, früher derwart’ man sich was als dass man sich’s derrennt. Hihi, ein Schloss hätt ich mir mein Lebtag nie derrennt – aber derwart’ hab ich eins! Also, Toni, morg’n geh ich’s an, da schau ich mir’s an, unser Schloss! Muss ich halt z’Mittag wo essen gehn, das muss drin sein, hoffentlich halt es Wetter, g’sagt haben’s es im Fernsehen.“

Mit den letzten Worten erhob sich Frau Sauerzopf – und obwohl der Zweck erreicht war – sie hatte mit ihrem Anton gesprochen und wieder einen klaren Kopf – lenkte sie automatisch ihre Schritte weiter bergan in den Dennweg, wo sie träumerisch links die Häuser – aha, da war auf dem jahrelang verwilderten Grundstück gerade ein Rohbau hingestellt worden, aber viel zu groß für das schneuztüchelkleine Grundstück, dünkte es ihr – und rechts die Weingärten betrachtete, bis sie oben an der Kahlenbergerstraße war und wie gewohnt das Severin-Marterl umrundete zum Abstieg.

Robert Müller
Romanauszug aus „Adele Sauerzopf erbt ein Schloss“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 20064