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Von meinen Wundervölkchen

Bist du auch einer dieser Leute, die einem Kind nicht glauben wollen, nur weil es ein Kind ist? Wenn dem so ist, brauchst du dir meine Geschichte gar nicht anzuhören, denn ich bin erst dreizehn – und für die meisten Leute bedeutet das: ein Kind. Aber solltest du wiederum jenen anderen angehören – ich meine damit diese, die sich zumindest nicht abwenden, wenn ein Kind spricht, wenn es versucht, etwas ihm Wichtiges, etwas, das ihm tief im Herzen liegt, mitzuteilen – wenn du einer von diesen Leuten bist, möchte ich dir von meinem Geheimnis erzählen …

„Wer nicht lesen kann, muss alles glauben, was einem gesagt wird“, hatten meine Eltern immer gesagt, als ich dasselbe gerade in der Schule lernte – eines der einzigen Dinge, in denen sie sich einig waren. Heute streiten sie nur mehr, stehen kurz vor der Scheidung, aber davon möchte ich gar nicht erzählen …

Jedenfalls hatte ich darum begonnen zu schreiben.

Auch außerhalb der Schule: „Was für Kinder in meinem Alter nicht so selbstverständlich war“, hatte unsere alte Nachbarin, Oma Socke – sie war nicht tatsächlich meine Oma, aber ich hatte es mir als Kleinkind angeeignet, sie so zu rufen –, einmal gemeint und mich angelächelt. Mittlerweile muss ich gestehen, dass mir der Name „Socke“ etwas peinlich ist – aber Oma Socke ist einfach Oma Socke: „… und daran wird sich so schnell auch nichts ändern“, hatte sie ein anderes Mal geäußert. – Ja ich schrieb, und ich schrieb viel. Über dies und das, manchmal über jenes, oft auch über etwas anderes.

Eines jedoch hatten meine Geschichten immer gemein – sie waren alle wahr.

Hörst du? Das ist wichtig, um alles Folgende zu verstehen – sie waren alle wahr!

Eines Abends also – es ist noch nicht so lange her – saß ich in meinem Zimmer auf dem Bett und erträumte mir neue Geschichten, wie ich es oft an den Freitagen zu später Stunde zu tun pflegte, da ich am nächsten Tag keine Schule hatte. Sie handelten von Elfen, Drachen, Baumwesen, Feen und vielen weiteren sonderlichen Gestalten, die zusammen die tollsten Abenteuer erlebten, Flüsse durchquerten, Gebirge überwanden, Burgen eroberten – und das alles in meinem Kopf.

Bis ich es zu Papier brachte.

Plötzlich glitten sie hinab, die Wundervölker, von meinem Kopf, über meinen Arm und die Finger, hin zu meinen Stift und schließlich auf dem Papier mündend – es war wie Zeichnen oder so wie wenn man Musik machte, die im Akt des Schreibens nur man selbst hören konnte. Sie waren mein Geheimnis, und ich schrieb sie auf, damit sie wahrhaftig wurden, damit auch meine Eltern und andere – jeder, der sich dafür interessierte – teilhaben durfte an den vielen Abenteuern. „Wer nicht lesen kann, muss alles glauben“, und darum schrieb ich über sie! Damit man mir glaubte, dass sie existierten, und das nicht nur in meinem Kopf, wie meine Eltern behaupteten.

Aber an jenem Abend war es dann wieder so weit gewesen …

Meine Eltern hatten die Stimmen gegeneinander erhoben. Das passierte in letzter Zeit so häufig. Und es war nicht eine dieser Auseinandersetzungen, die im Schweigen des jeweils anderen endeten, nein, diesmal war es richtig schlimm. Zuerst hatte es nur gebrodelt, wie es eben meistens so war, aber sobald jemand etwas Falsches sagt, irgendeine Kleinigkeit erwähnt, dann eskaliert es. Sie werden laut und lauter, schreien einander an, und wenn es nicht im Schweigen endet, so kann es passieren, dass einige Dinge in unserem Haus zu Bruch gehen, dass mein Vater handgreiflich wird …

Und an jenem Abend war es solch eine Auseinandersetzung.

Ich weiß nicht genau, was da unten in der Küche geschah, aber was ich hörte, gereichte mir für Tränen. Da fielen sie, von meinen Augen aufs Papier, zwischen die Worte und all die Namen meiner Wundervölker. Ich vermochte ihre Hilfeschreie zu hören, während sie in meinen Tränen ertranken: „Hilfe! Aufhören!“, drangen ihre unzähligen Stimmchen an mein Ohr, aber ich konnte nichts machen.

Ich konnte nichts machen.

Weg, weg! Ich wollte weg! Doch wohin? Bei Oma Socke würden mich meine Eltern sofort finden, und sie sollten mich nicht finden – zumindest eine Zeit lang nicht. Während ich so überlegte, war ich bereits von meinem Bett gesprungen, aus meinem Zimmer und die Treppen hinabgestürmt und, ehe es meine Eltern bemerken konnten, aus der Haustür geeilt.

Die Wundervölker hatte ich in meinem Zimmer zurückgelassen.

Draußen war es bereits dunkel, nur ein paar Straßenlaternen zerstreuten ihr Licht auf meinem Weg durch jene nebelige Frühlingsnacht. Zuvor hatte geregnet. Da lief ich nun über den feuchten Asphalt meiner Siedlung, und während die tobenden Stimmen meiner Eltern in meinem Kopf in den Hintergrund rückten, mehrten sich die Tränen in meinen Augen. Wie die Brotkrümelchen im Märchen mit der Hexe im Knusperhäuschen, verlor ich sie auf meinem Weg, weg von Zuhause.

Im Unterschied, dass ich durch sie nicht zurückfinden wollte.

Die asphaltierte Straße wandelte sich zu einem Feldweg, der parallel zum dunklen Acker an einem Wald entlang verlief. Früher waren wir hier immer spazieren gewesen als Familie – an sonnigen Wochenenden. Damals noch mit Mäxchen, unserem Hund, bevor er …

Ach, weg, weg! Ich wollte weg!

Vom Feldweg bog ich durch das Gestrüpp in den pfadlosen Wald hinein. All die hohen Bäume in ihrer finsteren Gestalt zogen an mir vorbei, doch kam es mir so vor, als laufe ich am Stand. „Unerwünscht … du bist hier unerwünscht!“, wisperte es von ihren Kronen herab, ein mir hinterherjagendes Gemenge zischender Stimmen. Das Geäst knasterte, die Blätter raschelten, und nur mehr die Sterne und der Mond erleuchteten mir meinen Weg durch den nächtlichen Wald.

Irgendwann brach ich zusammen und landete im feuchten Moos, nahe einem Teich.

Dort weinte ich. Zusammengekauert und allein. Selbst die Bäume schienen sich von mir abzuwenden. Meine Tränen tränkten das Moos und mein stockender Atem verblies in der Nacht …

Das wäre ein ziemlich trauriges Ende für meine Geschichte gewesen. Den meisten Leuten entkommt an diesem Punkt ein mitleidiges Seufzen, sie klopfen mir auf die Schulter, streicheln meine Hand, aber das müssen sie nicht – ja sie sollen das nicht tun. Denn wäre das das Ende gewesen, würde es sich ja um kein Geheimnis handeln. Zumindest um keines, das es wert wäre, so zu nennen. Aber das, was dann passierte, was auf mein Zusammenbrechen im Wald folgte, das ist eines der Geheimnisse, die man auch wirklich so rufen darf:
Denn als ich so im feuchten Moos lag, zogen die fremden Stimmen fort, und das war als lichteten sich dunkle Wolken, an einem Tag, an dem du es gar nicht mehr erwartet hättest. Meist siehst du dann einen Regenbogen, manchmal sogar zwei, und genauso fühlte sich der Moment an, als mir freundlichere Stimmen an mein Ohr drangen, Stimmchen gar, vertraut und fürsorglich. Ein Kichern, ein zärtliches Schmunzeln, lautlos, aber irgendwie hatte ich auch das gehört. Etwas strich an meinen Haaren vorbei, irgendwas spürte ich auch an meinen Beinen – etwas Kleines, Zerbrechliches vielleicht – auf einmal zupfte mich etwas an meinem Ärmel, an der Schulter, und an den Socken! Das war schon ziemlich absurd, befand ich. Aber nicht falsch verstehen!, ich fühlte mich nicht bedroht oder ängstlich, nein, es war ein Gefühl der Geborgenheit, das ich empfand. So öffnete ich meine dem Moose zugekehrten Augen und sah auf … und was ich erblickte, glich einem Wunder …

Elfen tanzten um mich herum, dort an dem Baum, da an dem Teich und gleich hier am Moos; und neben ihnen her: eine Schar von Feen, die kleiner und etwas ungestümer sogar durch die Luft segelten. Sie neckten einander, erfreuten sich ihres Lebens und zupften an meinem Gewand herum, dass auch ich lachen musste.

„Hallo ihr“, begrüßte ich die kleinen Wundervölkchen, und sie erwiderten mir ein Lächeln. „Sei nicht traurig“, bedeutete mir der Tanz der Elfen: „Wir sind für dich da“, der Flug der Feen. Ihre Sprache drückte sich nicht mit Worten aus, so wie die meine, nein, sie kommunizierten eleganter, mit ihren Bewegungen, ihren Gesichtsausdrücken, den verschmitzten Blicken …

Da bemerkte ich, dass da noch mehr waren! Aus dem Unterholz und dem Gestrüpp traten sie hervor, die Baumwesen, in ihren knorrigen Gestalten und friedfertigen Gesichtern. In einem entschleunigten Tempo wandelten sie geruhsam hinab zum Teich, ließen sich nieder und tauchten ihre Wurzelfüße ins kühle Wasser. Von dort aus winkten sie mir zu und genossen ihre Wahrhaftigkeit. Ihnen folgten die Drachen, die größer waren als ich erwartet hatte: Sie legten sich neben mich zur Ruh, dabei sie ab und zu aus ihren Nüstern in die frische Nachtluft schnaubten.

„Seid ihr alle meinetwegen gekommen?“, fragte ich sie glücklich, und mir war es, als antworteten sie mit: „Ja.“ Das ließ mich innehalten und all den Schmerz vergessen, Tränen der Trauer wandelten sich zu jenen der Freude. Meine Wundervölkchen um mich versammelt … schlussendlich also waren sie doch am Leben, und nicht nur stumme Schriftzüge auf einem Papier. Meine Eltern würden mir das nie glauben …

Meine Eltern …

Ich überlegte kurz, und wandte mich mit einer neuen Frage an meine Wundervölkchen: „Sagt, wollt ihr mich nach Hause begleiten? – Zu meinen Eltern? Ich möchte, dass sie euch kennenlernen!“

Da sahen die Wesen einander an, sowohl Elfen und Feen als auch die Baumgestalten und Drachen. Auch sie überlegten. Und das nicht kurz, möchte ich anmerken! Aber nach einer Weile einigten sie sich und beschlossen, mich zu begleiten.

Ich hätte mich nicht mehr freuen können!

Zuerst setzten sich die Baumwesen in Bewegung. Langsam erhoben sie sich und stapften im gemächlichen Gange los. Dann formierten sich die Elfen – gleich einem Tanz wehten sie daraufhin durch den Wald. Ich selbst sprang auf den Rücken eines der Drachen und führte meine Völkchen, umgeben von umherschwirrenden Feen, an.

Ein Lied … ein Lied hätten wir nun singen können.

Doch ihr Anblick und das Gefühl, das mir meine Völkchen gaben, waren so als ob man Musik machte, und damit mir Lied genug.

Bald hatten wir den Wald hinter uns gelassen. Und zurück am Feldweg wurde mir erst unsere Anzahl bewusst, Scharen um Scharen tauchten zwischen den Bäumen hervor. Nun waren es nicht nur mehr Elfen, Feen, Baumwesen und Drachen, nein, hinzu traten Greifen, Einhörner, schillernde Vögel, die ihre Farbe wechseln konnten und ich deswegen „Purpuren“ getauft hatte, und und und …

Das ganze Gefolge meiner Wundervölkchen. Sie waren alle gekommen.

Die Straße nach Hause war menschenleer, da es bereits spät in der Nacht geworden war. Nun wimmelte es da von meinen Wesen. Zuhause angekommen, läutete ich selbstbewusst an der Tür. Es dauerte nicht lange, bis sie geöffnet wurde und meine besorgten Eltern heraustraten.

„Wo bist du gewesen?“, umarmte mich meine Mutter erleichtert.

Als ich zu meinem Vater aufsah, bemerkte ich, dass sein Blick woanders ruhte. Staunend musste er meine Wundervölker gemustert haben, denn kein Wort entkam seinen Lippen. Auch meine Mutter hielt inne, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte.

Und beide lächelten sie.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16095




Von Münze und Zigarre IV

Wien war nicht auf sieben Hügeln erbaut worden.

Der Junge mit der Matrosenmütze wusste das allerdings nicht.

Wahrscheinlich hatte er auch noch nie darüber nachgedacht.

Ihm schien lediglich bewusst zu sein, dass die Stadt die Stadt war und er Teil einer Skizze, die er nicht überblickte. Es lag nicht an der Größe seines Körpers oder der seines Geistes …; wenn er das also verstanden hatte, bedeutete das schon viel. Weshalb die Dinge nun so waren oder ob es andere Dinge gab, die diese wiederum hätten ändern können, interessierte ihn nicht. Diese Straßen, jene im Hier und Jetzt; wo? – na im Dort und Da! – hießen ihn >Willkommen<, da gewohnt des Kindes Augen an ihren Anblick, und im Sonnenuntergang hatte es sogar etwas Romantisches so zwischen all den toten Gebäuden verlorener Ideen.

Der Junge mit der Matrosenmütze schleppte sich missmutig nach Hause. Der Tag hatte ihm Aufstieg und Fall beschert, unglücklicherweise auch in dieser Reihenfolge.

Die ihm geschenkte Zigarre: gestohlen!

Gestohlen von einem Mädchen mit einer Fliegerkappe auf dem Kopf. Der Junge schämte sich so sehr! Der Streichhölzer hatte er sich entledigt. Im hohen Bogen geworfen, hatte sie die weiße Schlange Wiens gefressen. Nur ein kleines Plätschern hatte die Schachtel von sich gegeben, die zuvor so große Wellen geschlagen.

Die Silbermünze hingegen hielt er immer noch in seiner Hand.

Manchmal spielte er mit seinen Fingern damit, ließ sie dahin- und darübergleiten, manchmal musterte er sie einfach. Wie wertlos sie ihm erschien im Gegensatz zu seiner Zigarre.

Wertvoller mag einem immer das erscheinen, was man nicht besitzt.

Wenn er nur gewusst hätte, dass er mit dieser Münze fünf derselben Zigarren beim richtigen Anbieter hätte kaufen können …

Aber er war nur ein Junge – mit einer Matrosenmütze auf dem Kopf.

Was konnte er schon wissen?

Auf seinem Weg begegnete er einem alten Bettler, der dort bei der Kirche sein Plätzchen (sowie später vermutlich auch sein Grab) hatte. Ausdruckslos beäugten sie einander, der eine so im Dasitzen, der andere so im Vorübergehen.

Einer der beiden warf dem Anderen eine Silbermünze hin.

Da nimm, dachte derselbe, ohne je einen weiteren Gedanken an das silberne Tauschmittel zu verlieren. Die Geschichte war für ihn beendet.

Wien lag im Schatten seiner selbst. Die Sonne benetzte nur mehr die Gipfel der höchsten Gebäude mit ihrem dünnen Licht, alles darunter füllte sich langsam, aber stetig mit Dunkelheit.

Vorbei am einsamen Reiterdenkmal des Heldenplatzes, den ehemals so schönen Gärten und berühmten Museen, trieb es den Jungen in Richtung Schönbrunn, wo einst die Affen laut durch die Nächte geschrien hatten, anstelle deren Toben nun ein stummes Loch klaffte, das jegliche Geräusche in seiner Umgebung verschluckte.

Lediglich die eigenen Schritte folgten den Klängen der nächsten …

Zumindest zu Beginn. Denn irgendwann spuckte das schwarze Loch einen Schatten aus, in Gestalt eines Fremden, der auflauernd auf jemanden zu warten schien. Im Zwielicht vermochte der Junge mit der Matrosenmütze das Gesicht desselben nicht auszumachen; – aus Angst verlangsamte er stetig sein Tempo.

Irgendwann blieb er deswegen sogar stehen.

Die beiden Figuren betrachteten einander, jener stumm, jener gebannt. „Lassen Sie mich in Ruhe“, sprach der Junge zögerlich, doch mutig.

Der Fremde lächelte.

Daraufhin wich der Junge ein Stück zurück. Wohin konnte dieser Tag noch führen? Der Fremde antwortete mit einer entgegenkommenden Bewegung, wobei er etwas an der Wand entlangschabte – kurz durchzuckten Funken die Finsternis! – und dasselbe Etwas fing wie durch Zauberhand an zu rauchen.

Es handelte sich um eine Zigarre.

Der Fremde hatte sie sich tatsächlich ohne Streichhölzer entzündet. Genüsslich paffte dieser nun, blies eine große Rauchschwade in die Richtung des Jungen mit der Matrosenmütze, schmunzelte.

„Genuss“, sprach der Fremde leidenschaftlich. Dem Akzent nach war er ein Russe. „Das ist Genuss“, wiederholte derselbe und demonstrierte vielsagend die rauchende Zigarre als wäre sie ein Schatz. Es folgten ein weiterer Zug, Rauch – der Fremde hob ab, um zwischen fernen Sphären zu schweben – ein gelassenes Lächeln  …

„Probiere einen Zug!“, bot er dem Jungen mit der Matrosenmütze an: „Hier, Bursche, nimm!“, versuchte er: „Nimm und lerne“, und der Bursche nahm.

Unsicher hielt er sie in den Händen. Seine Finger schienen auch zu klein für das große rauchende … Ding. Irgendwie roch sie komisch. Der Junge verzog das Gesicht und der Russe musste lachen. Daraufhin nahm sich der Junge mit der Matrosenmütze zusammen.

„Kein Genuss für kleinen Mann?“, fragte noch der Russe, als der kleine Mann die Zigarre ansetzte und tatsächlich an dem rauchenden Rohr zog, bis ihm die Ohren rot wurden.

Der Russe verstummte – der Junge hustete und prustete.

Trotzdem zog er ein zweites und drittes Mal an dem rauchenden Ding. Fürsorglich klopfte ihm der Russe währenddessen auf den Rücken, als gelte es hier etwas Wichtiges zu gewinnen oder zu beweisen.

Insgesamt betrachtet waren es aber nur ein Russe und ein Junge mit einer Matrosenmütze auf dem Kopf, rauchend im nächtlichen Wien; ähnlich einer väterlichen Szene in etwa.

Hätte sie jemand gesehen, hätte man sich vielleicht gewundert. Vielleicht wäre man aber auch einfach nur an ihnen vorbeigegangen, sie keines zweiten Blickes würdigend.

Wer weiß das schon?

Es ging ja niemand vorbei.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 15111




Von Münze und Zigarre III

Die Donau ruhte wie eine große, weiße Schlange in der Stadt, dieselbe entzweiend.

An ihren Ufern stand ein Junge mit einer Zigarre im Mund. Schwer hing sie ihm zwischen den Lippen, die streng er zusammenzwickte (dabei auch sein rechtes Auge unwillkürlich zugedrückt war). Seinen Blick setzte er auf der gegenüberliegenden Seite aus. Dazwischen: Fluten silberner Strömungen, die all den Schmutz hinab gen Süden und irgendwann weiter gen Osten spülten – irgendwohin.

Bäh, entkam es dem Jungen mit der Matrosenmütze auf einmal und erlöste seinen angespannten Mund von der durch seinen angesammelten Speichel befeuchteten Zigarre. Eigentlich bräuchte ich Feuer, meinte er zu sich selbst und überlegte, woher er welches bekommen könnte. Vor ein paar Monaten wäre das noch kein Problem gewesen, erinnerte er sich und spähte weiter hinüber.

 

Eine Brücke verband die beiden Seiten der Stadt miteinander. Sie hatte die schwere Zeit der letzten Jahre überdauert – als eine der letzten.

 

Ein kleines Mädchen mit einer Fliegerkappe am Kopf überquerte gerade dieselbe. Von dem Friedhof seiner Eltern zurückkehrend, war ihm der Junge mit der Matrosenmütze schon von weitem aufgefallen. Als es losgegangen war, hatte der Junge noch nicht dort gestanden.

            Wie eine Statue kam er ihm vor, aber als der Blick desselben den seinen traf, entstand eine zweite Verbindung zwischen den beiden Ufern des reißenden Stroms.

            Neugierde wurde geweckt.

 

Und so kam es, dass sich das Mädchen mit der Fliegerkappe und der Junge mit der Matrosenmütze begegneten …

„Was machst du da?“, fragte das Mädchen mit der Fliegerkappe.

„Ich sehe hinüber“, antwortete der Junge mit der Matrosenmütze, ohne sich ablenken zu lassen.

„Und warum tust du das?“, fragte das Mädchen weiter.

Der Junge überlegte kurz, wunderte sich, weshalb ihn die Sonne auf einmal so blendete und erwiderte: „Ich weiß auch nicht.“ Dann hob er erneut die Zigarre an, und steckte sie sich in den Mundwinkel. Abermals verzog diese Geste sein halbes Gesicht.

Das Mädchen kicherte: „Was ist das denn?“, erkundigte es sich.

„Luxus“, meinte der Junge.

Daraufhin beäugte das Mädchen die Zigarre genau und, nachdem es mit dem Prüfen fertig war, entgegnete es: „Wirklich? Ich glaube nicht, dass das Luxus ist“, – jetzt hob es seine Silbermünze hoch und demonstrierte sie stolz – :„Das ist Luxus!“

Da wandte der Junge mit der Matrosenmütze endlich seinen Blick vom gegenüberliegenden Ufer ab und musterte das Dargebotene: „Und wenn schon“, erwiderte er, seinen Neid unterdrückend, während er die abermals zu schwer gewordene Zigarre aus dem Mund nahm. „Dann ist sie eben alles andere.“

„Alles andere?“, fragte das Mädchen erstaunt wie verwirrt: „Was bedeutet das?“

„Weißt du, dass du nervst?“, reagierte der Junge und warf seinen Blick erneut hinüber: „Sie ist bloß kein Luxus, weil ich kein Feuer habe.“

„Feuer?“, wiederholte das Mädchen mit der Fliegerkappe sich wundernd: „Feuer ist gefährlich“, resignierte es, da es ihn an den Tod seiner Eltern erinnerte. „Ich habe Feuer!“, fiel dem Mädchen da ein, woraufhin es seine Streichholzschachtel hochhielt, entzückt.

Der Junge traute seinen Augen kaum.

„Damit kann man Feuer machen!“, freute das Mädchen mit der Fliegerkappe sich.

„Ich weiß!“, sagte der Junge mit der Matrosenmütze: „Gib sie mir!“, verlangte er.

„Aber die habe ich mir verdient“, verteidigte sich das Mädchen und hielt die Streichholzschachtel schützend an seine Brust: „Ich musste dafür arbeiten.“

„Und für die Münze nicht?“, konterte der Junge.

Das Mädchen aber schüttelte den Kopf: „Die gab’s geschenkt.“

„Wie-auch-immer“, meinte er: „Gibst du sie mir jetzt, oder nicht?“

Das Mädchen überlegte.

„Wenigstens ein Streichholz?“, versuchte es der Junge.

Sein Gegenüber lächelte und nickte schließlich.

Immerhin hatte es ja sieben in seinem Besitz.

Nachdem das Mädchen mit der Fliegerkappe dem Jungen mit der Matrosenmütze eines der sieben Streichhölzer geschenkt hatte und denselben nach wiederholtem Hin und Her dasselbe  auch an der Schachtel entzünden ließ, hielt der Junge das brennende Streichholz selbstsicher an seine Zigarre, die wieder in seinem Mund steckte. Kurz glühte das Ende, dann erstarb das rote Leuchten abrupt, gleichzeitig erlosch auch das Streichholz.

„Hat es funktioniert?“, wollte das Mädchen mit der Fliegerkappe, das den gesamten Vorgang gespannt mitverfolgt hatte, wissen.

Der Junge besah die Zigarre, drehte und wendete sie, und kam rasch zu dem Schluss, dass es nicht funktioniert hatte. „Gib mir noch eins“, erwiderte er nur.

Das Mädchen jedoch verzog das Gesicht: „Nein“, entgegnete es: „Du hattest schon eines!“

„Na und? Das hat eben nicht funktioniert. Ich brauche ein anderes“, erklärte ihm der Junge und griff nach dem Mädchen. Dasselbe wich mit einem entschlossenen „Nein!“ zurück.

Der Junge resignierte, wandte sich ab, dachte nach. Irgendwann meinte er: „Aber deine Streichhölzer sind ohne meine Zigarre nutzlos.“

Das Mädchen musterte ihn forsch: „Aber deine Zigarre ist ebenso nutzlos ohne meine Streichhölzer“, konterte es.

„Richtig. Lass‘ uns also um das Eine wie um das Andere spielen“, schlug der Junge listig vor.

„Und wie?“, wollte das Mädchen wissen.

„Ganz einfach. Du besitzt doch diese Münze“, sagte der Junge und wies auf dieselbe in der Hand des Mädchens hin: „Wir werfen sie und wetten. Kopf oder Zahl. Der Gewinner erhält den Besitz des anderen.“

Das Mädchen erwog das Risiko. Schließlich meinte es: „Und meine Münze?“

„Die interessiert mich nicht“, erwiderte der Junge schlicht.

Und damit waren sie beide einverstanden.

Die Besitztümer wurden weggesteckt, die Silbermünze blieb das Einzige in der Kinder Hände.

„Ich möchte werfen“, wandte der Junge mit der Matrosenmütze zuletzt ein.

„Nimm sie mir aber nicht weg“, entgegnete das Mädchen mit der Fliegerkappe, und überreichte die Münze.

„Nun gut“, läutete der Junge das Ritual ein: „Ich werfe, du sagst an. Kopf oder Zahl?“

Kopf“, entschied sich das Mädchen mit der Fliegerkappe aufgeregt.

Die Donau rauschte – der Junge warf.

Elegant hatte er sie mit seinem Daumen hochgeschnippt – die Technik war ihm von seinem Großvater bekannt gewesen – nun drehte und drehte sich der Silberling in der Luft wie ehemals das Riesenrad im Prater oder die Schallplatte im Keller der Franzosen. Gebannt folgten die Blicke der beiden Kinder seinen Weg hinauf und wieder hinunter, als der Junge mit der Matrosenmütze sie auf einmal schnappte und auf seinen Handrücken klatschte. Vorsichtig hob er die Hand, die Münze trat hervor ins Licht …

Das Ergebnis lautete: Zahl.

„Hab‘ ich gewonnen?“, erkundigte sich das Mädchen gespannt.

„Nein“, erwiderte der Junge: „Deine Wahl war Kopf. Damit ist meine automatisch Zahl“, erklärte er: „Ich habe gewonnen“, endete er stolz: „Deine Streichhölzer gehören mir.“

Das Mädchen mit der Fliegerkappe begegnete dem Jungen mit der Matrosenmütze mit einem bösen Blick: „Das ist nicht fair“, sagte es beleidigt: „Sie gehören doch mir.“

„Jetzt nicht mehr“, bestimmte der Junge: „Du hast sie in einem fairen Spiel verloren.“

„Das war kein Spiel, sondern Zufall“, jammerte das Mädchen und holte widerwillig die Streichholzschachtel hervor.

„Zufall ist fair“, erläuterte der Junge bloß.

„Zufall ist Chaos!“

„Chaos ist fair.“

Das Mädchen sah mit Tränen in den Augen auf die Stadt hin, die blind ihren Blick erwiderte. Dann reichte es dem Jungen mit der Matrosenmütze die Streichholzschachtel, die gerne und hastig entgegengenommen wurde.

„Jetzt ist Zeit für Luxus“, freute sich der Junge, die kühle Luft der Donau aktiv einatmend. Erst nach einigen Augenblicken des Verweilens, kehrte er sich ein letztes Mal zu dem Mädchen mit der Fliegerkappe um, um ihm zu sagen, dass es fortgehen solle, da es nun störe.

„Luxus ist das sicherlich nicht“, schniefte daraufhin das Mädchen.

„Das ist mir egal“, erwiderte der Junge mit der Matrosenmütze nur.

Und das Mädchen, in Tränen ausbrechend, lief davon.

Wohin das Mädchen mit der Fliegerkappe jetzt auch lief, ein wahres Entkommen vor dem Kreislauf der Dinge schien mit jedem weiterem Schritt unmöglicher zu werden.

Die Szene endete.

Zuletzt bloß verzog sich das ruhige Gesicht des Zurückgebliebenen unter der Matrosenmütze zu einem Lächeln. Denn in des Jungen Hand befand sich immer noch die Silbermünze.

Das Mädchen mit der Fliegerkappe hatte sie einfach vergessen, oder sie war ihm nicht mehr wichtig gewesen.

Triumphierend zückte er nun eines der verbliebenen sechs Streichhölzer aus der gewonnen Schachtel, bereit einen weiteren Versuch zum Entfachen der Zigarre zu wagen, und griff in seine Tasche, um dieselbe hervorzuholen.

Die große, weiße Schlange vor ihm züngelte harsch, denn zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass die Zigarre fort war.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 15110




Von Münze und Zigarre II

Ein kaltes Nieseln wusch Wiens letzte Farben dessen Straßen hinab, Straßen, die ehemals große Geister auf ihrem Weg zum Ruhm bewandert hatten, heute jedoch nirgendwo mehr hinführten. Kleinere Gestalten schlichen nun umher, die Nasen rümpfend, pendelten sie rastlos zwischen den Gebäuden, um Unterschlupf in Häusern zu finden, deren Erbauer längst vergessen waren.

Manch einer war sicherlich an dem alten Keller vorbeigekommen, jenem jenseits des Praters, aus dem man an manch so grauem Tag manch einem Musikspiel lauschen konnte. Niemand aber hätte jemals auch nur gewagt, einen Fuß auf die hinabführenden Ziegelstiegen zu setzen, in ein Reich fernab von all den Kümmernissen dieser Stadt – ja so bescheiden war Wien -, dasselbe nun erfüllt war von goldenem Jazz:

Ehemals der Schlupfwinkel einer amerikanischen Runde, die entweder den Weg in ihrer Trunkenheit nicht mehr gefunden hatte oder abgerüstet war, nun die Herberge eines französischen Stammtisches, der sich täglich um die Dämmerungszeit dort einfand, um sich in der amerikanischen Idee von Wien, die beseelt von schrillen Trompetentönen, einzulullen.

Ursprung dieser Musik war eine sich immerwährend drehende Schallplatte, die ein Liebhaber des schwarzen Jazz vor der Besatzung von Übersee hatte mitgehen lassen. Dieselbe drehte und drehte sich, und noch ehe sie zu Ende gespielt war, hob ein kleines Mädchen mit einer Fliegerkappe auf dem Kopf – das es sich für ein Streichholz pro Wiederholung zur Aufgabe gemacht hatte – die Nadel und setzte sie behutsam am äußeren Rand der Platte ab, damit die Musik von vorne beginnen konnte und die Zeit niemals stillstand.

…. ein kurzes Scharren wälzt sich aus dem Grammophon. Für einen Moment scheint das Herz des Kellers aufhören zu schlagen. Und nach der mächtigen Stille erklingt er wieder: Der Jazz. Und wieder. Und wieder …

Das Mädchen mit der Fliegerkappe hatte ein neues Streichholz verdient.

Einem der Franzosen musste die gewissenhafte Arbeit des kleinen Mädchens aufgefallen sein, denn, sich aus seinem Qualm erhebend und seine übrigen Kameraden verlassend, wankte er ihm entgegen – in die Mitte des kühlen Kellers mit den säftelnden Wänden, wo das dort aufgebaute Grammophon vor sich hin trällerte.

„De tous mes disques, celui-ci est mon préféré“, nuschelte er, den Blick zwischen dem Mädchen und der sich weiterdrehenden Platte pendelnd: „Tout Vienne devrait les entendre“, meinte er mit wirbelnden Händen: „Tout Vienne – enivré!“

Das Mädchen mit der Fliegerkappe sah den angeregten Franzosen verdutzt an. Sie verstand kein Wort.

Der trunkene Mann hingegen lachte, amüsierte sich und lallte weiter: „Tout Vienne peuvent aller se faire voir. Le jazz reste ici. Il est à moi“, – verächtlich blickte er zu den Übrigen hinüber-: „Mais ne le dis pas à ceux-là.“

„Merci“, erwiderte das Mädchen mit der Fliegerkappe. Es war das einzige Wort, das sie auf Französisch kannte. Gerade eben war es ihr wieder eingefallen.

Der Franzose fand dies unglaublich lustig, lachte laut und zückte nach Abschwellen seines Lautpegels entzückt eine Silbermünze: „Regarde, ma fille, c´est pour toi“, sagte er und drückte dieselbe etwas ungeschickt in die kleine Hand des Mädchens: „Fais attention à ne pas être volée.“

Das Mädchen mit der Fliegerkappe beäugte die im schummrigen Glanz der alten Lampen schimmernde Münze und wiederholte überrascht: „Merci.“

Der Franzose lächelte kurz und, als seine Kameraden nach ihm riefen, zog er friedlich ab.

Das Mädchen mit der Fliegerkappe hingegen blieb vergnügt sitzen – seine Augen leuchteten, die zierlichen Finger umwanden die Münze, irgendwann hielt es sie an seine Brust. Mit einem Schlag gewann das wenige Silber an mehr Wert als all die Streichhölzer, die das Mädchen mit der Fliegerkappe jemals verdient hatte. Bereits vergaß es, dass ihm noch zwei schuldig waren.

Aber wozu auch darüber weiterhin den Kopf zerbrechen?

Silber! Echtes Silber!

„Scher‘ dich jetzt fort. Ich habe keine Streichhölzer mehr!“, schimpfte jemand plötzlich lautstark hinter der Bar.

Das Mädchen mit der Fliegerkappe fuhr unweigerlich zusammen. Die Silbermünze fest in der einen Hand umschlossen, sprang es sodann von seinem Sitz und lief über die Kellerstiegen hinaus ins kalte Wien.

Wofür alles ich die Münze verwenden könnte …, überlegte sich das Mädchen mit der Fliegerkappe, während es über die weiten Straßen spazierte. Vorbei an Schutthalden, Plätzen unaufgeräumter Gewalten, kam es bis hinüber zum Prater.

Die Aussicht mochte von dort oben toll gewesen sein, stellte sich das Mädchen vor dem abgebrannten Riesenrad vor. Es erinnerte es an die Schallplatte aus dem alten Keller, bloß, dass das hier sich nicht mehr drehte und drehte.

Schade, meinte es und zog weiter.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 15109




Von Münze und Zigarre I

Wien zeigte sich in der damaligen Zeit nur als Skizze. So wie Wien sein sollte, mochte dem einen oder anderen Passanten, der durch die Innenstadt schlenderte, bloß als Idee durch den Kopf geistern. Die großen Gebäude blickten eher wie Gräber auf dieselben herab und wirkten weniger lebendig als die zerstörten, auf die der Krieg seine wüste Pratze hatte niedergeschmettert. Niemand wusste zu sagen, ob die Stadt jemals wieder so werden würde wie früher.

Andererseits war sich auch niemand sicher, ob er das auch gewollt hätte.

Über dieses oder ähnliches dachte ein Junge von etwa elf Jahren, der mit einer Matrosenmütze auf dem Kopf leichten Fußes über das Pflaster des ersten Bezirkes flanierte, nicht nach.

Ganz im Gegenteil.

Vorbei an den großen Museen trieb es ihn, durch Gärten vergessenen Ästhetizismus, hinüber bis zum Heldenplatz, aber was kümmerten ihn die gewaltigen Gebäude und wer sich darin, umherirrend, die Haare raufte? Zur Donau wollte er und dieses Unterfangen war auch im Moment das Einzige, auf das er Lust hatte.

Alles andere kam nachher.

Das Wetter war rau an jenem Februartag, der Wind hatte bereits frühmorgens durch die Straßen zu fegen begonnen. Der Junge mit der Matrosenmütze zitterte in seinen zerfetzten Kleidern und ausgetretenen Schuhen.

Wenigstens schneit es nicht, dachte er und damit hatte er Recht.

Denn die Zeit hing irgendwie in Stille. Niemand bemühte sich, aus der Asche der Stadt ein neues Feuer zu entfachen. Man sah hierhin – es war grau; man blickte dort hinüber – es war schwarz; und die Menschen befanden sich irgendwo dazwischen, in der akzeptierten Gefahr verweilend, dass sie bald selbst in der Skizze der Stadt zu einfachen Strichen schwänden.

Der Junge schien dies alles nicht zu bemerken, als er über den Heldenplatz spazierte. Sich umsehend, gewahrte er jedoch – neben einer Gruppe von Amerikanern am Reiterdenkmal – vier Fahnen sich Seite an Seite im Winde drehen. Der Junge wusste nicht, was sie bedeuteten, aber sie erschienen ihm wie Flügel, die, erregt flatternd, sich doch nicht forthoben.

Plötzlich: ein Pfeifen.

Der Junge mit der Matrosenmütze blickte irritiert um sich; woher mag dieses Pfeifen im stillen Wien denn auf einmal hergekommen sein, wunderte er sich.

Abermals der schrille Ton!

Anschließend ein: „‘Ey, boy!“

Durch jene Worte schließlich konnte der Junge mit der Matrosenmütze einen der Amerikaner unter der Reiterstatue als denjenigen ausmachen, der auf sich aufmerksam machen wollte.

Derselbe winkte ihn nun zu sich hinüber.

Der Junge mit der Matrosenmütze verstand und folgte. Die Gruppe von Amerikanern lachte, (ob über einen Witz oder über ihn …), als der Junge sich ihnen näherte, gleichzeitig teilte sie sich vor ihm auf, bis er, in ihrem heiteren Halbkreis angekommen, vor demjenigen stand, der ihn gerufen hatte.

„A boy with a hat like that?“, sprach derselbe Amerikaner und belächelte den Jungen von oben herab.

Der Junge erwiderte einen erwartenden Blick.

„The boy has balls, fellows“, meinte der Amerikaner in die Runde: „I like that.“

Die Gruppe lachte abermals.

Jetzt hockte sich der Amerikaner hin, um auf Augenhöhe mit dem Jungen zu sein.

„Look at that gram face of his“, musterte er ihn: „Real solder, aren’t ya? Haven’t seen boys like you back home. Maybe it’s somethin‘ in the air“, sagte er, zu den vier Fahnen hochblickend: „A little Mozart maybe?“, schmunzelte er und begann die Melodie der >Kleinen Nachtmusik< zu summen.

Der Junge mit der Matrosenmütze jedoch blieb ohne Reaktion, derselbe wartende Blick ruhte auf dem vor ihm hockenden Soldaten.

„Maybe this time’s gone – maybe another time has come, for other people …“, sagte dieser und kramte in seiner Gürteltasche. Hervor holte er eine Zigarre, die er dem Jungen mit der Matrosenmütze herzlich hinreichte. Dabei meinte er weiter: „C’mon take it. It’s your’s.“

Der Junge besah lange Zeit diese Geste, ehe er annahm. Und während er die Zigarre nervös zwischen seinen Kinderfingern zu drehen begann, wandelte auf den Gesichtern der Soldaten ein ihm unangenehmes Lächeln.

Der Amerikaner erhob sich schließlich: „It’s a special one, boy, very precious. A gift“, beschmunzelte er den Kleinen, der auf einmal anfing zu zittern. Die übrigen Soldaten gewahrten neidisch das Geschenk. Da klopfte der Große dem Kleinen auf die linke Schulter: „And now run.“

Der Junge mit der Matrosenmütze hatte keines der fremden, so seltsam klingenden Worte verstanden.

Dennoch lief er nun so schnell er konnte davon.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

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IDEAL II

„Project >Gläserner Mensch< ist schon lange kein Skandal mehr“, antwortete P3 (Participant, Number 3).

„Ich stimme Ihnen vollkommen zu“, pflichtete P5, der für die Statistics zuständig war, bei: „Die Criminalrate sank auf beinahe 0%.“

„Es handelte sich lediglich in den Jahren der Entwicklung um einen Fast-Skandal, nur solange wir es nicht unter den Schutz eines Projects zusammenfassten, und das wissen Sie“, fügte P3 noch hinzu und wechselte mit P5 selbstgefällige Blicke: „Everybody has the right to know everything“, zitierte er den Slogan.

„Wir sind den Menschen absolute Transparenz in einer Welt der Zukunft schuldig“, meinte P20.

„Oh yes! Und die Menschen wollen das so“, meldete sich auch P2 zu Wort: „Mit den Social Networks hat alles seinen Anfang gehabt – Sie erinnern sich? Die SI war nur eine Frage der Zeit gewesen, die Draufgabe unseres Jahrhunderts auf das letzte. Wie viele Menschen haben dadurch bereits zusammengefunden? Und wie viele nicht?“, sagte er, dabei er auf P5 mit seinen Statistics hinwies: „Aber nicht nur das!“, setzte er wohlgestikulierend fort: „Mehr und mehr Companies schließen sich dem Project an. Bald sind wir global.“

Die übrigen 18 Köpfe in der Runde nickten fleißig über ihren Black-Suits.

„Und ich könnte nicht stolzer auf unsere Corporations sein“, erwiderte P1 und stützte sich Bürden-gebuckelt auf den Seminartisch: „Dennoch – als Supervisor dieses …-“, er hielt kurz inne: „-globalen Projects muss ich jede Begebenheit durchleuchten. Je mehr wir uns um die absolute Transparenz bemühen, desto gefährlicher werden Geheimnisse und seien sie noch so klein …“, stellte er in den Raum wie einen großen philosophischen Ansatz.

Die schönen Gesichter sahen einander – natürlich zustimmend – an.

„Andere Frage“, wechselte P1 das Topic, da er keinerlei hilfreiche Reaktionen seiner MitarbeiterInnen mehr erwartete: „Wieviel Freiraum sollten wir den Companies in ihrer SI lassen? Immerhin sind sie es, die die Welt regieren, etwa nicht? #Advertisement zum einen, zum anderen – wie sieht es mit den Androids der first and second class  aus, die sich ausschließlich über die SI verständigen? And on … and o-… “ Seine Stimme verzerrte sich.

„Sorry? Können Sie das evt. wiederholen?“, erkundigte sich P13: „Ich … ic-“ – auch er stockte.

Dann begann etwas zu rumoren.

Zuletzt meinte jemand: „I-… glaub-…, die Conn … -ection bric-… …-b.“

BANG! Es verzogen sich auf einmal die schönen Gesichter. Faceless! Die stylischen Suits spreizten sich ins Unermessliche – limitless!

Plötzlich zuckte ein Flackern in dem Raum für wenige Sekunden …

… bis es starb und sich alles mit einem Mal in 1 und 0 auflöste.

Blackout, ärgerte sich P1 und nahm das Oculus ab, womit er den gecrashten Cyberspace endgültig verließ und seine SI ablegte.

#home-sweet-home

Von seinem VB (Virtual Body) entkleidet, schob sich P1, der nunmehr Jeff hieß, eine Blue und eine Green (Pill) in den Mund, um seinen realen Körper bis zur nächsten realen Nahrungsaufnahme zu befriedigen. Fuck the system, hing, auf sein T-Shirt geprintet, als Statement über seinem dicken Bauch und den geschwollenen Männerbrüsten.

Dies war sein Ideal.

Darum nahm er auch keine Pink zu sich, die ihn zusätzlich von seinem Gram befreit hätte.

Stattdessen trank er eine Tasse Kaffee.

Danach setzte er sich seine GG (Google Glass), die sich mit seinem Chip connectete, auf, gab die Address des nächsten Hypermarkets ein und begab sich trübsinnig auf den Weg.

Eigentlich hatte er vorgehabt, mit seinem E-Bike zu fahren, doch als er kaum den Fuß aus seinem Wohnhaus gesetzt hatte, war ihm seine Freundin entgegengekommen, die wohl auf die Form ihres Bodys achtete und ihn zu Fuß begleiten wollte.

Er nannte sie seine >Beauty<.

„Wie lief das Meeting?“, fragte sie ihn, während sie durch die bemenschelten Straßen gingen.

„Bescheiden“, erwiderte er: „Der Cyberspace brach zusammen, wir verloren die Connection und das Meeting wurde unterbrochen.  Ich hoffe, die fixen das bis zum Nachmittag und dass keiner an die Daten des Projects kommt.“

Auch wenn in der >heutigen Welt der Zukunft< sicherlich niemand danach suchen würde, raunte er sich in Gedanken selbst zu. Dabei beäugte er die an ihm vorbeiziehenden Menschenschlieren. Und obwohl die Facedetection-App seiner GG die SI eines jeden, dessen Gesicht er erblicken konnte, wie ein E-Book entfaltete, misstraute er ihnen wie nie zuvor.

Denn Glas war zerbrechlich.

„Fängt es jetzt auch noch an zu regnen?“, merkte Jeff genervt an, als er aus seiner Konzentration gerissen einen Tropfen auf seinem fast kahlen Kopf gespürt hatte, und sah nach oben.

„Oh – das stört mich nicht“, meinte Beauty.

 

Danach ging alles sehr schnell.

 

Jeff stolperte, stürzte und fiel, verlor seine GG, die nun im hohen Bogen gen Randstein flog und bei ihrer Landung in tausend Einzelteile zersprang.

BANG!  Durch den Verlust der Facedetection-App verwandelten sich all die bekannten Gesichter auf der Straße in fremde. Faceless! Die Navigation zum Hypermarkt verschwand! Limitless! Und auch Beauty verschwand abrupt, erlöst durch eine in die Luft steigende Schwade aus 1er und 0ern …

 

Blackout, blitzte es dem am Boden liegenden Jeff im Kopf, den er früher auch gern seinen >Cyberspace< genannt hatte. Nun sah er sich um. Aber der Schleier der Vertrautheit hatte sich mit dem Verlust seiner GG aufgelöst.

Auf einmal …

… war er verloren.

 

Doch damit nicht genug! Er stammelte, fuhr herum, riss an den Passanten, die mit ihren GG wie Geister an ihm vorbeizogen. „Fat ass“, verwünschte ihn jemand, ein anderer stieß ihn beiseite.

Wo war er? Wo war Beauty! Wer war er?

Schlussendlich wandte sich ein Android FC (first class) nach ihm um und sprach: „Nehmen Sie ihre Pillen – Sie stören die Ordnung.“ Danach zog auch er weiter.

 

Der Regen prasselte unaufhörlich. Aber nur – so schien es – für Jeff.

#Disconnect

Dabei befand sich der Hypermarkt einen Blog weiter.

Und seine Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at |Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 15099




Inszenierung

Es ist der 3. Juli und wir befinden uns heute im Theater, vorletzte Aufführung, die Karten sind – wie an den Abenden und Wochen davor – restlos ausverkauft, das Stück schreitet zum dritten Akt voran, im Publikum: erregte Ungeduld.

Plötzlich! – Licht unzähliger Scheinwerfer flutet die Bühne, ein schwarzgekleideter Mann mit Hut tritt auf: Es ist der Gevatter. Beifallsschwanger badet er in der nicht auszuhaltenden Spannung des Publikums, bis er Ruhe gebietend Folgendes vorträgt: „Wo im Theater mögen wir die Grenze zwischen Wirklichkeit und Illusion ziehen?“

Aber keine Zeit zum Nachdenken lässt er den Zusehern, nein, – scheinbar – durchbricht er wortwörtlich die vierte Wand, springt herab von der Bühne! – und findet im Auditorium einen unfreiwilligen Freiwilligen.

In das Rampenlicht wird er geholt, allein vor all die Leut‘ gestellt: Sein Name lautet K. – wir belassen es dabei.

„Nun Herr K., welches Spiel führen Sie uns zur Schau?“, fragt der Gevatter, kaum noch zu entdecken im dunklen Hintergrunde.

„Nicht nur schauen sollen die Leut‘, doch sehen“, gibt Herr K. zur Antwort.

Der Gevatter, der springt, wagt sich dennoch nicht zurück ins Licht: „Und wo würden Sie die Grenze ziehen?“

Herr K., der sichtlich sich beengt auf der leeren Bühne fühlt, zuckt zwar mit den Achseln, äußert aber: „Man würde wohl die Schwelle des Podests als jene bezeichnen.“

Oh! – Der Gevatter freut sich, als habe er diese Antwort erwartet. Auf ein Zeichen fragt er erneut.

Gleichzeitig: Reges Geraschel im Publikum.

Herr K. findet sich augenblicklich vor einem Meer aus Masken wieder.

„Und jetzt?“, neckt der Gevatter.

„In diesem Falle: Ich wüsste nicht, wo die Wirklichkeit beginnen sollte“, antwortet K.: „Entmenschlicht starrt Ihr mich an, gleich allen Dingen, fern von den Gefilden der Berührung. Denn zu fassen, aber nicht zu erfassen vermag ich sie. Somit bleibt die Erkenntnis eine Annahme und die Wirklichkeit bloß Illusion. Wo ist die Liebe? Rettet mich.“

„Niemals“, entgegnet der Gevatter.

„Ich sterbe am Versuch zu überleben. Verliere mich beim Annähern in der Distanz. Berührung – Erlösung? Ich weiß es nicht. Am Versuch soll es nicht scheitern. Aber was halten Sie davon, dass Wirklichkeit und Illusion einander überlappen? Aufeinandergelegte Dimensionen, unmöglich voneinander zu trennen.“

Musik … Jetzt müsste Musik einsetzen. Und der Gevatter? – Der erwidert nichts mehr, geht ab.

K. bleibt nun wahrhaftig allein auf der Bühne stehen, er und das Publikum schweigen mit ineinander tröstlich versunkenen Blicken. Und dann – ja dann setzt auch K. eine Maske auf. Was für ein Ende …

– Und was soll das bedeuten? Mit Theater hat das aber alles nichts mehr zu tun. Ich sehe es jetzt schon – Publikum: verwirrt.

– Hast du eine bessere Idee für den Schluss?

– Und ob! Genug geprobt für heute. Feierabend!

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15098




Titellos

Das Dorf, von dem ich erzählen möchte, ist kein besonderes.

Man könnte es sogar als „ein wenig verschlafen“ bezeichnen, eingeschneit im Wandel der Zeit. Aber ich möchte weniger über das Dorf an sich berichten, sondern vielmehr über die Kinder, die darin lebten. Es handelt sich dabei um ganz gewöhnliche Kinder, die vormittags in die Schule gingen und sich nachmittags draußen auf dem Dorfplatz versammelten, um miteinander zu spielen.

Die Geschichte begann an einem 1. Advent, als die Schulglocken läuteten und die Kinder aus ihren Klassenräumen stürmten, um draußen zu spielen, wie sie es jedes Mal taten. Der erste Schnee fiel vom Himmel herab und küsste sacht die Wangen der Kinder, dass diese rot wurden, während das Lachen derselben den Platz mit einer herzlichen Wärme erfüllte.

Alles war wie immer.

Scheinbar …

Sie alle hatten es im ersten Moment gar nicht bemerkt, weder die aufmerksamen noch die unaufmerksamen, doch stand da wahrhaftig – mitten auf dem Dorfplatz – ein Klavier, schwarz und einsam im sanften Schneegestöber. In seinem weißen Umfeld, erschien es den Kindern einem dunklen Auge gleich. Ein Auge, das sie unheimlich anstarrte, womöglich mit bösen Absichten.

Keines der Kinder wagte es, näher heranzutreten – unruhiges Gemurmel ging umher, Gewisper und Geflüster.

Da trat ein kleiner Junge hinter dem Klavier hervor. Seine Haare waren schwarz wie das Holz des Instruments, seine Haut weiß wie die Tasten. Er trug einen pelzigen Mantel, der bis hin auf den Boden fiel, und irgendetwas – so wirkte es auf die Kinder – schien ihn mit dem dunklen Auge zu verbinden. Tatsächlich setzte er sich auf den Hocker davor und begann zu spielen …

Zuerst langsam. Einzelne Noten – winzig und leise. Doch als sodann die kleinen Finger zu den tieferen Tasten liefen, brauste ein klingendklängend Sturm jedweder Töne aus dem Inneren des Klaviers – eine Melodie, abstrakt und ungestüm.

Die Kinder ringsum fürchteten sich vor dem, was sie da hörten und sahen. Sie beschlossen daher, den fremden Jungen und sein schwarzes Monster in Ruhe zu lassen, und sich wieder dem eigenen Spiel zu widmen.

Der Tag verstrich rasch und die Nacht zog über das Dorf. Die Kinder verabschiedeten sich voneinander und gingen nach Hause – der unheimliche Junge klappte den Deckel über seine Tasten und ging dorthin, wohin niemand wusste. Vielleicht sollte der Spuk am darauffolgenden Tag ein Ende haben und alles so sein wie immer …

Am nächsten Morgen jedoch stand das Klavier an derselben Stelle und, nachdem die Kinder aus der Schule kamen, saß auch der unheimliche Junge wieder dort und spielte seine Melodie.

Heute hörte man sie friedfertiger.

Dennoch ließen die Kinder den Jungen in seiner grotesken Welt allein und spielten ihr Spiel in der eigenen.

So verwehte die Zeit des Advents, ein Tag glich dem anderen, keine Veränderung zog einher …

Und dann war es endlich soweit: Die Sonne, am Morgen des 24. Dezembers, stieg empor, und die Kinder eilten auf den Dorfplatz, um die Zeit bis zu Heilig Abend ein letztes Mal miteinander zu verbringen. Heute war schon keine Schule mehr und darum – so erklärten es sich die Kinder – saß auch noch niemand beim schwarzen Klavier in ihrer Mitte.

Vormittags war der unheimliche Junge nie da gewesen.

Sie spielten, so herzhaft wie niemals zuvor, während Schnee von den seidenen Wolken herabfiel und das schwarze Klavier mit einer dünnen Schicht überzuckerte.

Dann, als die Kirchenglocken zur Mittagsstunde läuteten und die Kinder normalerweise Schulschluss hätten, horchten alle auf.

Und es begegnete ihnen die Stille. Eiskalte Stille.

Unschlüssig hörten die Kinder auf zu spielen und blickten hinüber zum Klavier. Doch kein kleiner Junge saß dort und spielte seine Melodie. Das dunkle Auge, das gar nicht mehr so dunkel schien, stand einsam und verlassen da, und sein Blick war traurig.

Zumindest empfanden es die Kinder so. Sie alle schwiegen, befangen und beschämt.

Da trat eines aus ihren Reihen hervor und näherte sich dem Instrument. Die anderen zögerten zuerst, aber nach ein paar verstrichenen Augenblicken folgten einige, und gleich darauf alle, bis jedes Kind um das Klavier herum stand. Nach wie vor sagte niemand etwas. Und niemand getraute sich, eine der verschneiten Tasten niederzudrücken.

Tränen glitzerten, der Schnee fiel unaufhörlich, aber die Melodie kehrte nicht zurück.

Denn der Junge war fort.

Da löste sich aus der Erinnerung ein Funken, der zu einem gewaltigen Feuer könnte auflodern, ein kleiner Funken, der große Hoffnung in sich barg.

Die Hoffnung, dass der Junge nächstes Jahr wieder kam, um seine Melodie auf dem schwarzen Klavier zu spielen, und alles so war wie immer …

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15097




Duett

Gestern war Antoinette noch ganz auf sich allein gestellt gewesen.

Heute sieht man sie auf einer Bank gegenüber vom größten Tanzsalon Paris’ sitzen und warten.

„Ich bin adoptiert worden“, sagt sie grinsend. Der Stolz lässt sich kaum in ihrer Stimme verkennen.

„Hmpf“, grunzt ein Mann, der neben ihr sitzt. Sein Interesse könnte nicht weniger geweckt werden, daher möchte er sich nicht angesprochen fühlen.

„Gerade hatte ich meine erste Tanzstunde. Jetzt warte ich auf meine >Mutter<“, erzählt Antoinette weiter, nicht weniger begeistert.

„Das ist eine Bushaltestelle“, erläutert der Mann, bemüht sich jedoch nicht, sie direkt anzusprechen. Ebenso hätte es sich um eine Feststellung handeln können, um – zum Beispiel – seine Ungeduld zu beschwichtigen oder seine Abneigung kundzugeben.

„Ich muss nun nimmer mit dem Bus fahren. Ich werde immer abgeholt“, erwidert sie, den Mann neben sich neugierig beäugend: „Bloß aus Gewohnheit warte ich hier.“

Der Mann sieht auf die Uhr.

„Wie spät ist es denn?“, fragt Antoinette.

„Fünf Minuten zu spät.“

Der Mann holt ein Handy hervor und hält es, nach Wählen einer Nummer, an sein Ohr.

„Ich verspäte mich“, spricht er.

„>Zeit ist relativ<“, erläutert Antoinette: „Das hat mein >Vater< gestern zu mir gesagt.“

„Ich komme immer zu spät? Wer ist denn Schuld? Der Bus. Ja – der Bus!“

„>Auf nichts und niemanden darf und kann man sich verlassen!<“

„Vielleicht geht deine Uhr ja falsch!“, gebärdet sich der Mann und legt auf.

„>Für alle Zeit der Welt nicht! Ich möchte nur, dass es so ist wie früher<“, spielt Antoinette zur Schau: „Das war das Letzte, was ich von ihm hörte.“

Wortlos erhebt sich da der Mann. Der Bus kommt an und er steigt ein. Zwei, drei Augenblicke später, weg ist er.

„Was er damit wohl gemeint hat?“, wundert sich Antoinette nun allein: „Ich werde ihn morgen einfach fragen“, beschließt sie schließlich, in dem Moment ihr ein Schmetterling ins Blickfeld flattert, der sie wie eine alte Freundin begrüßt.

Antoinette kichert und sieht ihm eine Zeit lang nach.

Als sie dann auf die Uhr der Bushaltestelle blickte, um nachzusehen, wie spät es denn tatsächlich war, bemerkte sie, dass die Zeiger im Uhrzeigerunsinn voranschritten. Gerade war es noch jetzt, einen Moment danach: Vorher.

Eigentlich hätte ihre >Mutter< bereits kommen müssen.

Gestern war Antoinette noch ganz auf sich allein gestellt gewesen.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15074