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max, der Bauherr – Auf Rosen gebettet

Aus der Wiener Häuslbauer-Serie

max, der Bauherr, hatte wieder einmal kein Geld. Das war an sich der Normalzustand, denn gegen Ende der Rohbauphase geht allen Häuslbauern das Geld aus und der langjährige finanzielle Seiltanz ohne Netz beginnt. Tatsächlich hatte sich max bereits dermaßen an das geldlose Leben gewöhnt, dass ihm komisch zumute war, wenn er einmal mehr als einen Hunderter in der Tasche hatte. Aber diesmal war es ernst, denn übermorgen war Hochzeitstag und da wollte seine Elli ein bisschen verwöhnt werden – ein verständlicher Wunsch, wenn jeder Euro sofort in Zement, Dachziegel, Baustahlgitter etc. investiert wurde. Es soll schließlich auch ein Leben vor dem Tod geben, mit ein wenig Luxus wie Tanzen gehen, Theater, Restaurants, schöne Sachen zum Anziehen und so. Aber woher nehmen? max hatte gerade den Dachdecker ausbezahlt und das bedeutete monatelange finanzielle Dürre, bis wieder ein paar Euro nachwuchsen.

Anfangs war es ja noch lustig gewesen, seine Leute dergestalt zum Essen auszuführen, dass ein Baustoffhändler oder Möbelhaus beim Sommerabverkauf ein halbes Grillhendl mit einem Krügel Bier um fünf Euro feilbot. Einmal hatte der Computerlieferant von maxens Arbeitgeber eine Produktpräsentation mit spanischem Ambiente veranstaltet und so kam Elli in den Genuss einer Paella mit Flamenco-Tanzdarbietung, ein anderes Mal bekam max eine Einladung zu einer „Together-Party“ vor einer beruflichen Fachmesse und schwindelte seine Gattin mit dem Namensschild einer Kollegin in das Nobelhotel ein, was einen lustigen und luxuriösen Abend ergab. Mit der Zeit bekam max eine phänomenale Spürnase für alles, wo es in schönem Rahmen etwas Feines zu schnabulieren gab – Hausmessen großer Firmen, Jubiläumsfeiern, Vernissagen und so weiter. Aber das alles verflacht irgendwann einmal, ewig kann man sich nicht durchschwindeln.

Und dieses Mal war totale Ebbe; max hockte abends auf seiner Rohbau-Schwelle und seufzte vernehmlich. Sein Schräg-vis-à-vis-Nachbar Karl kam mit dem Hund vorbei und setzte sich verständnisvoll schweigend dazu. Er war mit seinem Haus schon fast fertig, weil er einen wohlhabenden Schwiegervater hatte. Und zwischen den paar Häuslbauern in der Umgebung war eine unglaublich gute Gemeinschaft entstanden, die weit über das Nachbarliche hinausging. Man kannte und vertraute einander, besprach seine Sorgen, half sich gegenseitig aus und hatte dieselben Interessen, unabhängig von Alter, Beruf und sozialem Status. „Thema eins oder zwei?“, fragte Karl mitfühlend (Thema eins war das Geld, Thema zwei waren die Frauen). „Kombiniert“, war die leise Antwort von max, „wir haben übermorgen Hochzeitstag.“ Der Nachbar pfiff leise durch die Zähne und dachte dann laut: „Übermorgen ist Sonntag, und du bist pleite, stimmt’s?“ max drehte in einer hilflosen Geste die Handflächen nach oben: „Wird auch vorbeigehen, mir wird schon was einfallen“, sagte er wenig überzeugend, „reden wir von was anderem, was macht ihr morgen?“ „Ich fange morgen mit dem Garten vor dem Haus an, um sieben Uhr früh kommt die Erde, und um acht der Gärtner, aber Helfer hab ich wieder keinen, weil mir der versoffene Kerl abgesagt hat“, ärgerte sich der Nachbar, „ich weiß noch nicht, wo ich da schnell wen bekommen kann!“

Aber dann hellte sich sein Gesicht auf und er sah max erwartungsvoll an: „Kannst du mir nicht helfen? Hättest du Zeit?“ max zuckte gleichmütig die Achseln: „Die Baustelle aufräumen wollte ich, das kostet nichts. Aber das kann ich immer noch. Ja, komm ich halt um achte zu dir.“ Der Nachbar strahlte: „Da ist mir viel geholfen. Aber ich möchte dir was geben dafür, der Hausarbeiter von meiner Firma hätte mich auch 15 Euro pro Stunde gekostet, ich will mich ja nicht bereichern!“ „Kommt nicht in Frage, Karl, wir haben uns immer umsonst ausgeholfen“, lehnte max kategorisch ab. Aber der Nachbar ließ nicht locker: „Schau, wenn ich es zusammenrechne, hast du mir schon öfter geholfen als ich dir. Und außerdem, den ausgeborgten Zement für meine Außenstiege bin ich dir auch noch schuldig, den muss ich aber zahlen, weil ich kaufe ja keinen mehr, das sind zusammen zwei Hunderter, in Ordnung? Kannst gleich deiner Elli eine Freude machen, ja? Beim Häuslbauen sind unsere Frauen eh selten auf Rosen gebettet!“ Er hielt max die Hand hin und dieser schlug erleichtert ein: „Also gut, wegen der Elli, ausnahmsweise!“

Max pfiff den ganzen Samstag vergnügt vor sich hin, der Hochzeitstag war gerettet. Abends besorgte er zwei Theaterkarten und bestellte für nachher einen Tisch im bewährten Restaurant. Aber irgendein „Highlight“ sollte es noch geben, etwas Extravagantes, Überraschendes. „Nicht auf Rosen gebettet“, hatte Karl, der Nachbar, gesagt. Es war Mitte Juni, überall blühten Rosen. Und Elli liebte Rosen, besonders die stark duftenden, wie sie die Schwester vom Karl am Zaun vom Nachbargrundstück stehen hatte, einen Riesenstrauch voll erblühter Rosen. max sprach mit Karl, dieser mit seiner Schwester, und alles war paletti.

Nach dem sonntäglichen Mittagessen fuhr max unter einem Vorwand zur freundlichen Nachbarin und pflückte büschelweise die lose überquellenden Rosenblätter in eine mitgebrachte große Keksdose. Als er diese aber im Auto noch einmal öffnete, um daran zu schnuppern kletterten einige kleine schwarze Käfer heraus! Max erschrak – das hätte noch gefehlt. Er gedachte nämlich Ellis Bettseite vor dem Theaterbesuch heimlich mit den Rosenblättern zu bestreuen, sie einmal im Leben echt auf Rosen zu betten, und wenn da die Käfer herumgekrabbelt wären – entsetzlich. Also leerte er die Dose auf den Nebensitz und füllte nun die Blüten kontrolliert wieder zurück, dabei die ehemaligen Bewohner von den Blättern pustend. Dann den Deckel zu und nach Hause.

Es ging alles gut, er konnte ungesehen sein Vorhaben ausführen. Sie genossen die Boulevardkomödie und anschließend ein lecker-leichtes Abendessen – Elli war selig. Und als sie vor dem Duschen ihr Nachthemd holen wollte, versprach max, es nachzubringen. Als die Angetraute nach der Wäsche rief, kam max ohne diese ins Bad und sagte mit dem gewissen Lächeln: „Wer braucht denn ein Nachthemd?“ Dann hob er – seine Kreuzschmerzen nicht achtend – sein nacktes Weib hoch und trug mit der Bemerkung: „Ich hab dir ja versprochen, dich auf Händen zu tragen“ die nunmehr großäugig Erwartungsvolle ins Schlafzimmer:

Der ganze Raum war erfüllt vom berauschenden Duft der überall verstreuten Rosenblätter. Elli kriegte fast einen Herzinfarkt vor Freude und schrie ekstatisch auf: „Jö, das gibt’s ja nicht, ach max, das hab ich mir immer schon gewünscht!“ Nun konnte max seine Last nicht mehr halten und ließ die hüllenlose Angetraute auf die Rosen gleiten. Aber der Effekt war unerwartet: Ellis erschrockenem Mund entfuhr ein eiskalter Aufschrei „Huhhuhuhuuu“ und sie sprang gänsehäutig wieder auf. Entschuldigend und verschämt erklärte sie dann: „Weißt, es war auf einmal so kalt auf der Haut nach der warmen Dusche, aber du hast mir so auch eine Riesenfreude gemacht. Das war der schönste Hochzeitstag seit Jahren! Und die Rosen heb ich in einem Glasl auf solang ich leb!“

Am nächsten Morgen, als Elli ins Auto stieg, krochen einige kleine schwarze Käfer über ihren Rock. Erschrocken und zornig hüpfte sie wieder heraus, kehrte die Krabbeltiere von Kleidung und Sitz und keifte max gehörig an: „Wo hast denn das Viechzeug her, direkt genier’n müssert man sich, wenn da wer mitfahrt!“ Und sie konnte nicht verstehen, warum max brüllend lachte, bis ihm die Tränen kamen – was denn daran so lustig sei?

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 24090




Schuach

Am zweiten Donnerstag des Monats ist Restmüll-Abfuhr in Bockfließ. Als Max am Mittwoch abends seinen schwarzen Container vors Haus stellte, sah er neben dem hoch gefüllten des alten Sepp, seinem Nachbarn, einen alten Lederpantoffel liegen. Der war wohl beim Transport herausgefallen. Als Max ihn obenauf neben den zweiten legte, sah er unwillkürlich schärfer auf die nun mit der Sohle nach oben liegenden Hof-Schlapfen* hin. Seltsam: Die Abnützungsspuren der Profil-Sohlen waren nicht einmal annähernd gleich! Man sollte wohl meinen, dass ein Mensch zwei gleiche, ja eigentlich idente Füße hat, und demnach der rechte Schuh genauso aufgesetzt und abgerollt wird wie der linke. Aber wieso war da der Absatz des linken Schlapfens ganz hinten deutlich stärker abgewetzt als der rechte? Der Sepp war schon 85, hinkte aber nicht! Dafür war die Innenseite beim Ballen am rechten Pantoffel bis zum Sohlengrund abgetreten, während der linke noch zwei Millimeter Profil aufwies! Woher diese ungleiche Abnützung? Da kam der Nachbar mit dem zweiten Kübel heraus und Max zeigte seine Fundstücke. „Ich hab da“ – erklärte der Sepp und berührte mit der Hand Maxens Kreuzgegend – „einen leichten Knick in der Wirbelsäule, deswegen die ungleiche Gangart. Aber guat, dass d’ mir das ‘zeigt hast, die nagel ich auf meinen Lebensbaum. Komm mit eine auf ein’ Nussern“, lud Sepp seinen Nachbarn ein und nahm die Schlapfen mit ins Haus.

Copyright: Robert Müller

Copyright: Robert Müller

„Lebensbaum, was ist das?“, fragte Max. „Wirst schon sehen“, grinste der Sepp und führte Max ins Vorzimmer. Da war an der Wand mit drei Eisenklammern der raumhohe Torso eines Baumes, längsseits halbiert, nur der Stamm und oben zwei Aststummeln, befestigt. Ganz oben auf den Ästen war jeweils ein beschriftetes Foto der väterlichen und mütterlichen Großeltern genagelt, darunter das von Vater und Mutter. Unter der Gabelung sah man das Babyfoto des Sepp, daneben hing sein erster Schnuller. Es folgte ein Klassenfoto aus der Volksschule und die deformierte Klingel seines ersten Fahrrades. „Ein Steyr Waffenradl“, erzählte Sepp, „da bin ich bei einem Sturz fast unter ein’ Lastwagen kommen, er ist aber nur über die Lenkstangen g’fahren und die Klingel war hin.“ Es folgten etliche Gegenstände und Fotos aus seinem Leben, ganz unten war noch ein halber Meter frei. Der Nachbar holte Nägel und Hammer und nagelte die Pantoffel waagrecht an. „25 Jahr’ hab ich die trag’n. Da kommt noch mein eigener Partezettel drunter, dann war’s das“, erklärte er und lachte leise, „und jetzt trink ma was!“ Er zog an einem rostigen Nagel mitten im Baumstamm, da öffnete sich ein schmales Türchen und dahinter stand eine Flasche schwarzer Schnaps und einige Stamperl. „Wie ich vor 50 Jahr einzogen bin, hat g’rad den alten Nussbaum im Hof der Schlag ’troffen, und ich hab ihn da verewigt“, erklärte Sepp und goss die Gläser voll: „G’sundheit!“ Max trank, hustete dabei (der Schnaps war stark) und verschüttete ein paar Tropfen auf seine Schuhe. Als er sich mit einem Papiertaschentuch zum Abwischen bückte, stutzte er.

„Jetzt schau dir das an“, sagte er zum Nachbarn, „meine Waldviertler sind auch ungleich am Oberleder, aber warum weiß ich net. Die trag ich schon fast 20 Jahr’, vier Doppler sind schon drauf. Am linken ist nach der ersten Quetschfalte parallel die zweite, beim rechten ist die zweite viel schwächer und gabelt sich schräg nach unten.“ Der Nachbar betrachtete die Schuhe: „Hast du vielleicht einmal einen Beinbruch g’habt“? Max nachdenklich: „Nein, nix dergleichen, aber mein linkes Wadl ist stärker als das rechte, das g’spür ich immer, wenn ich die Kniebundhosen anzieh. Da muss ich links immer hochziehen. Komisch ist das schon, gell?“ Der Sepp legte den Kopf nach hinten und dachte nach: „Ich hab einmal gelesen, dass es in der Natur keine zwei Grashalme gibt, die völlig gleich auf’baut sind. Lass ma’s gut sein und trink ma noch ein Stamperl, die schmecken sicher völlig gleich!“

Max und der Sepp grüßen einander nun wärmer und bleiben oft auf ein Tratscherl stehen.

*Hof-Schlapfen: Bequem ohne Bücken schliefbare (daher: Schlapfen) Pantoffel oder Sandalen, mit denen man aus der Wohnung in/über den hauszugehörigen erdigen/grasbewachsenen Hof oder kurz vor das Haus geht.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 24078




Wenn’s einmal aus wird sein. Selbstmord auf Wienerisch

Frühling ist, wenn der Tichy aufsperrt! Egal, wie das Wetter ist, wenn die Türen des (zu Recht) bekanntesten/beliebtesten/größten Eissalons in Wien offen stehen, dann gibt’s trotz Eis keinen Winter mehr. Und die größte Affenhitze lässt sich aushalten, wenn man, genüsslich von einer Tüte Erdbeer-Zitrone (o.Ä.) schleckend, auf einer schattigen Bank vor dem urbaneren Eissalon am Schwedenplatz sitzt. Da schrumpfen alle Sorgen, und man kann so herrlich die Seele baumeln lassen, während beachtenswerte Mädchenbeine wie im Film vorüberziehen und etliche Gesprächsfetzen von der Nebenbank ans Ohr dringen. Und weil – ebenfalls zu Recht – den Wienern ein eher gemütliches Naheverhältnis auch zum Tod nachgesagt wird (wo sonst nennt man ihn harmlos verkleinernd „Gangkerl“?), fing der Verfasser einmal ein in leichtem Plauderton gehaltenes Gespräch über gleich drei Selbstmorde und deren nähere Umstände ein:

Auf der Nebenbank saßen, gemächlich aus ihren Bechern löffelnd, zwei ältere Damen, von denen die dickere, dominante das Gespräch führte, während die schmächtigere, einfacher gekleidete (vermutlich eine entferntere Bekannte) kaum mehr als gelegentlich erstaunte, beipflichtende oder erschrockene Bemerkungen in den Satzpausen (während ein Löfferl Erdbeereis geschaufelt wurde) einfügte.

Zuerst wurde der mittels Schlaftabletten durchgeführte Suizid einer Nichte abgehandelt: Diese hätte nach ihrer Scheidung zwar ein Jahr später ihren Mann wieder zurückbekommen, es aber nicht verwunden, dass dieser sein schlampertes Verhältnis zum Scheidungsgrund noch aufrecht hielt. Ja, und so hätte sie das Leben nicht mehr gefreut und sie hätte beschlossen, nach Einnahme von zwölf Schlaftabletten nicht mehr aufzuwachen. Und nun zu den Details: Da besagte Nichte gelesen hatte, dass manche Menschen den giftigen Abschiedstrunk nicht vertragen und ihn wieder erbrechen, war ihr die Idee gekommen, vorher eine Haferschleimsuppe einzunehmen, damit der Magen beruhigt sei. Die Polizei hätte vorerst nicht an Suizid gedacht, weil die Nichte ja auch Kreislaufprobleme gehabt hätte. Aber der Hausmeisterin, welche die Tür geöffnet habe, wäre der Topf mit der restlichen Suppe aufgefallen und deshalb habe sie die Polizei informiert, dass da was nicht stimmen könne, weil der Nichte doch nachweislich seit ihrer Kindheit vor Haferschleimsuppe gegraust hätte. Und so sei das eben herausgekommen.

„Entsetzlich, gelln’s, so ein junger Mensch, das ist doch so ein teppert’s Mannsbild gar net wert, net?“, so die Monolog-Partnerin.

Die Erzählerin schwieg eine halbe Minute, weil sie in ihrem Nocciolone-Eis eine Haselnuss gefunden und daran gekaut hatte, dann kam sie zum Teil zwei:

Es sei dann kaum ein halbes Jahr vergangen, bis sich ein Cousin wegen seiner enormen Spielschulden nicht mehr aus noch ein gesehen hätte, und der zwielichtige Geldverleiher, an den er sich zuletzt in seiner Not gewandt habe, hätte ihm bei Terminverlust eine Schlägertruppe in Aussicht gestellt. Das sei alles in einem flüchtig hingekritzelten Abschiedsbrief gestanden. Und als es dann an seiner Türe stark geklopft habe, da hätte er das Fenster aufgerissen und sich aus dem fünften Stock in die Tiefe gestürzt. Er sei sofort tot und damit schuldenfrei gewesen. Dabei war es doch nur der Hausmeister, weil eine Partei Gasgeruch gemeldet hätte. „Und jetzt stellen S’ Ihnen vor, wenn der Cousin noch eine letzte Zigarette geraucht hätte, dann hätte das ganze Haus in die Luft fliegen können. Das wär ja gar nicht auszudenken!“

„Da hätt er ja dann gar nimmer Selbstmord machen brauchen, gelln’s?“ gab da die entzückend naive Gefährtin zu Protokoll, worauf die Erzählerin einen Lachkrampf bekam und beinahe den Eisbecher fallen ließ.

Dann setzte sie fort, dass es immer die Falschen träfe, er sei so ein harmloser und gutgläubiger Mensch gewesen, alles hätte man von ihm haben können, er wäre wirklich zu gut für diese Welt gewesen. Und dass dafür den größten Gfrastern ein langes Leben beschert sei.

Die Monologpartnerin widersprach zaghaft, dass aber der Wiener Kardinal König, der wohl unbestritten ein sehr wertvoller Mensch war, doch schon fast 100 Jahre alt geworden wäre.

Jaja, das sei natürlich die Ausnahme, welche die Regel bestätige, stimmte die Erzählerin zu, aber eben eine seltene. Da wäre zum Beispiel ein Schwager zweiten Grades, der knapp zwei Jahre später auch nicht mehr leben wollte. Dieser habe nämlich mit seiner mühsam aufgebauten Firma Konkurs anmelden müssen und hatte nicht den Mut, es seinen Angestellten zu sagen, und außerdem fürchtete er die Ächtung durch seine Geschäftsfreunde und seine Familie, weil er sich entgegen dem Rat seines Schwiegervaters selbständig gemacht hätte. Und so habe er sich – weil er vom Freitod des Cousins wusste – ebenfalls aus dem Fenster gestürzt, aber weil er nur im dritten Stock gewohnt hätte, habe er mit geknickter Wirbelsäule und mehreren Beinbrüchen überlebt. Noch ein Jahr sei er im Rollstuhl gesessen, bis ihn ein Schleimschlag erlöst habe.

„Gelln’s, da sieht man, was zwei Stockwerke ausmachen“, war die erschütterte Reaktion der Zuhörerin.

„Wie ich schon g’sagt hab, es trifft immer die Guten“, setzte die Erzählerin fort, und dass sich ihr Seliger darüber auch sehr gekränkt habe. Außerdem sei der zuletzt Verblichene sein ständiger Tarockpartner gewesen, und nun sei die Partie zerfallen, weil kein Ersatz aufzutreiben gewesen sei.

„Also da tun S’ mir aber schon leid“, bemerkte nun die Zuhörerin, „Haben S’ da überhaupt noch wem, wenn sich Ihre Verwandten so schnell hintereinander verabschieden? Das muss ja furchtbar sein, da kommen S’ ja gar nicht aus dem schwarzen G’wand ausse!“

„Nein, nein, die waren ja alle von seiner Seit’n“, beruhigte die Erzählerin, und sie selber hätte noch genug Verwandte, weil in ihrer Linie fast alle drei, vier Kinder hätten. Da würde ihr die nächsten Jahre bestimmt nicht fad!

Tja, die besten Geschichten schreibt immer das Leben. Oder dessen Ende.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 24047




Der Elefant

Er war immer schon „der Elefant“, von der Entbindungsstation bis zur Pension. Eins-neunzig hoch, mit einem Gewicht, das zwischen 110 und 120 Kilo schwankte, gutmütig, eher bedächtig in Rede und Gedanken, mit einem breitflächigen, aufmerksamen Gesicht. Seine schaufelartigen Hände, die seine Rede mit Gesten begleiteten, waren wohlgepflegt, aber doch irgendwie naturbelassen wie die Beine eines Elefanten, eines richtigen. Auch seine Bewegungen, sein ganzes Gehabe waren schwerfällig, aber nicht wirklich langsam, er strömte ganz einfach ruhig dahin wie ein breiter Fluss, der die Kraft hat, zwanzig Mühlen anzutreiben.

Schon bei der Geburt wog er über fünf Kilo! Seine Mutter, eine schmächtige kleine Frau, erzählte später, sie habe nie geglaubt, dass sie ihr Riesenbaby auf normalem Weg zur Welt bringen könne. „Es hat mich fast zerrissen, ich hab gefürchtet, ich springe auf wie eine Nussschale“, sagte sie nach der mühsamen Entbindung, „und was er allerweil für einen Hunger gehabt hat! Gott sei Dank war im Bett neben mir eine dicke Wirtin, die immer zu viel Milch gehabt hat, so hat er schon im Spital eine Zusatzration bekommen. „Geben S’ her den klein’  Elefanten“, sagte sie bei seinem ersten Brüllkonzert und legte ihn an die Brust, „na schaun S’, jetzt lacht er!“

Ich selber kannte den Erwin schon von der Volksschule her, er besuchte die Klasse über mir und wohnte drei Gassen weiter. Wir waren nicht eng befreundet, trafen einander aber oft auf der Straße, unterhielten uns fallweise über Bezirks- und Schulangelegenheiten, und ein paarmal hat er mir bei Mathematik-Hausübungen geholfen. Rechnen konnte er immer gut, und später ist er auch Buchhalter in einer großen Firma geworden. Nach der Schule haben sich unsere Wege wohl getrennt, aber die Nachbarschaft ließ uns immer wieder einmal zusammenkommen.

Erst mit 27 hat er, nach sehr kurzer Bekanntschaft, ein jüngeres, quicklebendiges Mädchen geheiratet, und trotz ihrer total verschiedenen Temperamente und Neigungen lief ihre Ehe sehr gut. Sein geliebtes „Annamirl“ war schlank, knapp eins-sechzig, hatte rötliches Haar und ein Tempo, das ständig auf 100 war. Fröhlich, lebhaft, arglos, immer neugierig und optimistisch, kam sie allen Menschen offen entgegen und machte aus jedem Tag ein Fest, während er, der Erwin, sein Tagwerk und sein Leben gelassen und eins nach dem anderen mit hartnäckigem Fleiß bewältigte. Sie ergänzten einander ideal: Ihre vorschnellen unbedachten Entscheidungen bügelte er geduldig hintennach immer wieder aus, ihre bühnenreifen Auftritte hinterlegte er mit seiner breiten Anwesenheit, Verlässlichkeit und respektablem Charakter. Es hatte eben alles, was er sagte und tat, Hand und Fuß, weshalb er bei Bekannten und Kollegen gut angesehen war.

Er hieß Erwin Doppler, was ältere Menschen an die Zweiliter-Weinflaschen erinnert, aber in Hinsicht auf seine Körpermaße durchaus passend war. Bei einem zufälligen Zusammentreffen im Café Hummel in Wien ergab sich einmal ein längeres Gespräch, wo er mir auch über seine erste Beziehung erzählte:

„Ich hab sie, da war ich 25, bei einer Vernissage am Cobenzl kennengelernt, wir haben uns sofort gut verstanden. Es hat eben ganz einfach gefunkt. Warum es nicht lange gehalten hat? Weil, wir waren einander zu ähnlich. Ich hab immer gewusst, was sie gerade braucht, und die Hannelore hat genau dieselben Vorstellungen vom Leben gehabt wie ich. Es war schön, es war harmonisch, aber halt manchmal ein bissel fad – wie ein altes Ehepaar. Dabei war sie, als Frau, verstehst’, verdammt gut, und hat super ausg’schaut, immer gepflegt, aber dezent, und sehr g’scheit. Mit der Hannelore hast überall hingehen können! Aber das Spontane, Lebendige hat halt gefehlt, weißt eh, ich brauch das, weil ich ja selber ein ruhiger Typ bin. So ist das nach ein’ halben Jahr wieder auseinand ’gangen. Ja, schon auch schade. Und weißt’, was das Interessante war? Sie hat mir dann auch g’sagt, sie möchte mit einem flotteren Burschen beinand sein, was sie mitreißt. Komisch, gell?“

Gewohnt haben der Erwin und sein Annamirl dann am Stadtrand von Wien. Er hat dort sein geerbtes Gartenhäuserl schön ausgebaut. Das war auch irgendwie ungewöhnlich. Der Erwin hat kein Handwerk gelernt, nie praktisch gearbeitet, aber die ganze Holzarbeit hat er selber gemacht. Jedes Brettl, was der abgeschnitten hat, war gerade und hat auf den Millimeter gepasst, jede Schraube ist wie von selber ins Holz gerutscht, und auf der Baustelle war nie ein Chaos. Dafür hat man im Zimmer vom Annamirl (sie hat nebenbei ein bissl geschneidert) einen Kompass gebraucht, um wieder rauszufinden. Dort hat auch ihr Liebling, der schwarze Kater Mohrli, untertags geschlafen, und jede Nacht neben ihrem Bett.

Ja, so haben die zwei sehr glücklich dreiundreißig Jahre miteinander verlebt, bis das Annamirl plötzlich an Krebs erkrankt ist. Der Erwin ist verfallen, er hat sich frühpensionieren lassen und ist jeden Tag bei ihr im Spital gewesen. „Ich möchte immer bei dir sein“, hat sie da bei seinem letzten Besuch gesagt, „versprich mir das, ganz nah bei dir!“ Der Erwin hat geweint und gesagt: „Na freilich, du kommst zu mir, nix kann uns mehr trennen.“ Tags darauf ist sie gestorben und Erwin hat dann ihre Urne mit Sondererlaubnis in eine Nische seiner Gartenmauer gestellt.

Und wie vom Teufel bestellt, musste knapp danach auch sein Mohrli eingeschläfert werden. Da ist der Erwin zu mir gekommen: „Bitte, fahr du morgen mit ihm zum Tierarzt, ich bring das net z’samm“, hat er mich mit Tränen in den Augen gebeten. Er hat den Kater ja auch sehr gern gehabt, und gerade jetzt hätte er was zum Liebhaben gebraucht. Ich habe noch mit ihm Kaffee getrunken und wir haben über vieles geredet, auch über seine stärker gewordenen Herzprobleme.

Da ist er auf einmal eine Minute still, schaut mich geradeaus an und sagt: „Du, wir kennen uns schon ewig, kannst du mir einen großen Gefallen tun? Bitte sag ja, es ist mir sehr wichtig: Mein Annamirl, du weißt ja von der Urne im Garten, soll einmal gemeinsam mit mir bestattet werden. Würdest du sie mir dann in den Sarg legen? Am liebsten hätte ich ja den Mohrli auch dabei, aber das geht halt nicht.“ Ich habe es ihm versprochen, ja, ich mach das, wenn ich ihn überlebe.

Die Geschichte hat mir keine Ruhe gelassen, ich hab von Erwins Begräbnis geträumt, und da kam mir eine Idee. Der tote Kater wurde, in Plastik geschweißt, von mir bis zum Tag X eingefroren. Ein halbes Jahr danach ist Erwin an seinem Herzleiden gestorben, er hat mich zum Testamentsvollstrecker ernannt. Der besuchte Bestatter hat zugestimmt, die Urne beizupacken. Gut. Beim Hinausgehen habe ich gesehen, wie sein Gehilfe in der Werkstatt aus einem versteckten Doppler getrunken hat – den konnte ich wohl anreden! Ich habe mit einem Geldschein gewachelt und ihn gefragt, ob er mir heimlich helfen würde. „Ja, klar, bringen S’ den Kater am Begräbnistag um halber achte, der Chef ist eh erst um achte da.“

So haben wir den Mohrli heimlich unter Erwins Füße geschoben. Ich weiß nicht, was Erwin in seiner letzten Stunde gedacht/geträumt hat, aber da war in seinem Gesicht dieses verschlagene Grinsen, wie als Bub, wenn ihm was gelungen war. Vielleicht hab ich mir das auch eingebildet. Jedenfalls wurde es ein würdiges, schönes Begräbnis mit vielen Besuchern, weil den Erwin haben alle Bekannten geschätzt, und das lustige Annamirl hat jeder gerne gehabt. Der Pfarrer hat in berührenden Worten gesagt, dass wir nicht auf den Himmel warten, sondern uns schon zu Lebzeiten ein Stück Paradies schaffen sollen, wie es uns der Verstorbene und seine Frau vorgelebt haben. Ich habe dann ein zerkrümeltes braunes Katzenstangerl ins Grab geworfen und in die Hand mit dem Erd-Schauferl einen kleingefalteten Schein geschoben. Der Totengräber und ich haben verstohlen gelächelt, und Erwin oben wohl auch.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 23170




Liebe über den Wolken

Max ist seit heut’ verschossen – in ein paar Sommersprossen
Die süß und wie die Sterne schön – um ein gar liebes Naserl steh’n
Von weizenblondem Haar bedacht – und hellem Augenpaar bewacht
In deren Graublau er möcht’ sinken – und ohne Gegenwehr ertrinken

Ganz arglos, morgens um halb sieben – hat Max die Lufthansa bestiegen
Und, weil ihm vor dem Fliegen bangt – zur Pille ein Getränk verlangt
Die Dose reicht ihm lächelnd hin – die hübsche Flugbegleiterin
Ein Mädchen wie der junge Tag – da traf es Max wie Donnerschlag

Er schluckt und dankt und schaut zurück – ein Knistern kam in seinen Blick
Sie fragt geübt (und lächelt fein) – „Sie werden doch nicht ängstlich sein?“
„Ja, doch der Job lässt keine Wahl – ich flieg seit Jahren nur mit Qual
Doch seit ich Sie gesprochen – ist wohl der Bann gebrochen!“

Den ganzen Flug ist Max verklärt – er hält die Zeitung gar verkehrt
Sie hat es schmunzelnd registriert – als sie den zweiten Drink serviert
Er dankt und strahlt ganz wie ein Kind – das unterm Baum den Teddy find’t
Da spricht auch schon der Kapitän: – „Wir landen bald, auf Wiederseh’n!“

„Wie sag ich ihr’s? Jetzt, Maxi, denk – denn nach der Landung wird es eng!
Wär doch sehr peinlich, vor den Leuten – mein Seelenleben auszubreiten.“
Die Menschen drängen durch den Gang – Max aber wird die Zeit nicht lang
Er stellt sich so, als ob er schliefe – und hörte nicht, dass man ihn riefe.

Und er erreicht mit dieser List – dass sie zu ihm gelaufen ist
„Ich bitte Sie, nicht bös’ zu sein – mir fiel so schnell nichts and’res ein
Wer mutig ist, greift nach den Sternen – ich möchte Sie gern kennenlernen
Hier bitte, meine beiden Karten. – Ich werd auf Ihren Anruf warten!“

Sie nimmt sie scheu, mit tiefem Blick – und lässt den Max verwirrt zurück

In zagem Hoffen, süßem Bangen – so hat die Sache angefangen.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 23156




Die weinende Krähe – Begegnung im November

Am Allerseelentag bog Sebastian – von der Heiligenstädter Brücke kommend – in die Anton-Bosch-Straße ein und ging, entlang der Gärten zwischen Karl-Marx-Hof und dem erhöhten Gleiskörper der U4, vorwärts zur Station Heiligenstadt. Es war ziemlich kalt und windig, der Frühnebel lichtete sich gerade. Da saß auf einem der Bäume eine Krähe und krächzte ziemlich laut und anhaltend. Sebastian hielt an, denn irgendetwas an diesem ohrenkratzenden Geschrei war anders, er konnte nur nicht sagen was. Krähen krächzen oft genug, es ist ein unangenehmes Geräusch. Warum aber so durchdringend?

Er sah hinauf: Der Vogel saß auf einem unteren Ast und schrie ununterbrochen. Irgendwie tat er ihm leid, also öffnete er seine Tasche, riss ein Bröckerl seines Jausenbrotes ab und warf es ihm hin. Aber die Krähe reagierte überhaupt nicht darauf. Und dann sah er – am Rasen neben dem Baumstamm – eine zweite Krähe liegen. Offenbar noch nicht lange, der Vogel war noch glänzend sauber und ganz. Also das war’s. Er erinnerte sich, gehört oder gelesen zu haben, dass die Rabenvögel in lebenslanger Einehe leben. Jetzt trauerte der Überlebende um den Gefährten. Sebastian vermeinte nun in der rauhen Stimme den Schmerz, das Weinen des Verlassenen herauszuhören, seine Totenklage.

Es fiel Sebastian ein, dass die Raben als Totenvögel galten, ja verrufen waren. Und dass sich seinerzeit im britischen Tower wohl deshalb eine Kolonie von ihnen ansiedelte, weil bekanntlich in der Zeit der englischen „Weltherrschaft“ und der Intrigen am Königshof ein britischer Henker selten arbeitslos war und somit den Raben oft genug eine schmackhafte Leiche zur Verfügung stand bzw. hing. Vermutlich bedeutete die alte Weissagung, dass es mit dem Reich zu Ende gehen würde, wenn es dort keine Raben mehr gäbe (d.h. wenn dessen imperiale Interessen nicht mehr mit allen Mitteln, auch durch brutale Beseitigung der Feinde = „Rabenbraten“, verfolgt würden), genau das.

Aber die Rabenvögel (zoologische Familie) waren auch – neben der Eule – die Vögel der Weisheit und Botenvögel. Der germanische Gott Odin umgab sich mit ihnen, in vielen Sagen und Märchen kommen sie vor. Und wer wollte so einem Tier, das auch als klug und gelehrig gilt, das ein ausgeprägtes Sozialleben hat und immer in der Gruppe lebt, Gefühle absprechen? Dass die „Rabeneltern“ ihre Jungen im Stich lassen, ist ein dummes Märchen – richtig ist, dass ein Rabe seine Jungen auch unter eigener Lebensgefahr schützt.

Sebastian jedenfalls tat der Vogel leid, er fuhr in richtiger Allerseelen-Stimmung zum Friedhof. Und jedesmal, wenn er Krähen sieht, denkt er an dieses Erlebnis.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 23135




Marmelade

Mögen Sie Marmelade? Ich schon, ich esse gerne ein Marmeladebrot zum Frühstück, oft auch nachmittags zum Kaffee. Und eine Biskuitroulade mit pikanter Marmelade ist einfach was Gutes. Betonung auf „pikant“, denn nur süße Masse ohne ausgeprägten Fruchtgeschmack mag ich nicht. Mein Schatzerl auch nicht.

Also was ist Marmelade? Im Wesentlichen sind das entkernte Früchte, mit Zucker und Geliermittel verkocht. Siehe auch Konfitürenverordnung vom 26.10.1982 der EU-Behörden! Wenn noch Fruchtstückchen darin sind, nennt man es oft Konfitüre, wenn es nur verdickter Saft ist, nennt man es Gelee. Undefinierte, bröckelige Konsistenz wird oft als „Fruchtaufstrich“ verkauft. Wie auch immer, Marmelade ist süß, färbig und schmeckt. Zumeist. Und wenn man nicht „haglich“ (heikel) ist.

Na ja, ich bin zwar nicht „haglich“, aber mir schmeckt nicht alles, wo Marmelade oder Jam draufsteht. Insbesondere diese „billigen“ Sorten, wo vermutlich mehr chemisch verdickter, gesüßter Rübensaft mit Aromen und Farbstoff drin ist als die am Etikett angegebenen Früchte. Schlimm ist ja auch, dass ich als älterer Jahrgang noch den „Originalgeschmack“ von selbst gepflückten Heidel-, Stachel-, Him- und Brombeeren und Ribiseln kenne; auch die Fruchtsäure der baumreifen Marillen „Ungarische Beste“ sowie die heimtückische Süße der gestohlenen grünen „Kriecherln“. Heimtückisch, weil stark verdauungsfördernd! Der Heimweg sollte besser kurz sein! Im Starkl-Gartenkatalog nennt man sie „Kirschpflaumen“.

Dafür mag ich heute noch den karamelligen Powidl. Unsere alte Gartennachbarin meiner Jugendjahre, die Frau Stipics, kochte zur Zwetschkenzeit oft nächtelang in dicken Steinguthäfen diesen schwarzen Klebstoff, der immer wieder umgerührt werden musste, um nicht anzubrennen. Sie schliefe ohnehin schon so schlecht, erzählte sie meiner Mutter, dass sie allemal nach ein, zwei Stunden aufwache und dann halt an den Herd gehe. Ihre jährlichen drei großen Gläser Powidl gehörten meinem Vater und mir allein, denn weder Mutter noch Schwester mochten ihn. Dafür habe ich ihr immer den Rasen gemäht.

Seit man in den Geschäften Gelierzucker und preiswerte Marmeladegläser mit gut schließenden Blechdeckeln bekommt, ist Marmelademachen viel leichter geworden. Marillen einkochen kann jedes Schulkind. Abgewogene Menge entkernter Früchte in den Topf, etwas Wasser am Boden, und wenn es weich wird, den entsprechenden Gelierzucker dazu, fertig.

Das Entkernen von Beerenfrüchten artet in Arbeit aus. Die gute alte „Flotte Lotte“, das händische Passiergerät mit gelochtem Einsatz, lange zu drehen und immer wieder das Sieb zu reinigen, ist zeitraubend. Der Passier-Aufsatz am Kenwood (Küchenmaschine zum Teigrühren) zahlt sich nur bei größeren Mengen aus – und wenn man nicht aufpasst, schwimmt die Küche im roten Saft. Was soll’s, Einkochen ist ohnehin nur einmal im Jahr. Und wenn man im Winter ein Glas „Beerenmix“ (Himbeeren, Stachel-, Johannis- und Josta-Beeren mit 1:3 Zucker) öffnet, steigt der Geruch des Gartensommers in die Nase. Und erst der pikant-säuerlich-süße Geschmack! Das ist die ideale Marmelade auf die Linzertorte. Oder ein Ersatz der Preiselbeeren zu Rindsbraten, oder ein guter Löffel ins Joghurt gerührt.

Ein einziges Mal haben mein Schatzerl und ich uns über die Schlehen-Marmelade getraut. Weil wir zufällig beim Winterspaziergang an einen voll tragenden Strauch gekommen sind. „Da wäre doch schade drum“, dachten wir und holten von zu Hause zwei Plastikkübel. Gute sechs Kilo haben wir – mit erfrorenen, blutig gekratzten Händen – nach Hause gebracht. Weil Schlehen Frost brauchen, um ihre Herbheit zu verlieren, wurden sie zuerst eine Woche tiefgekühlt, dann gekocht und passiert. Hier mein Geheimtipp zur Arbeitserleichterung: Man nehme eine alte (stabile) Grammel- oder Erdäpfelpresse zur Hand, fülle den heißen Fruchtbrei ein und presse über einem hohen Stahlreindl. Was rausrinnt, ist Marmelade, was in der Presse bleibt, kommt in den Kompost. So waren die Schlehen in wenigen Minuten entkernt. Dann mit 1:2 Gelierzucker verkocht, etwas Vanillezucker dazu und eingefüllt. Für die Zunge von Blaufränkisch-Trinkern ein himmlischer Genuss.

Aber unsere liebste Marmelade ist die von gelben „Kriecherln“! Sie ist – bei Mischung mit 1:3-Zucker – von einer satten Süße des Fruchtfleisches, die sich mit der feinen Säure der Schalen auf der Zunge vereinigt.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 23151

 




Blaue Mitzi

Wer hat die „Blaue Mitzi“ vergiftet?
Obwohl der Theologe Gerhard Lohfink sagt, dass man einen Krimistoff „ganz sicher nicht“ in Gedichtform schreiben kann.

Es war beim letzten Pfarrcafé – beliebt bei den Senioren
Da hat Maria Wanzenböck – ihr Lebenslicht verloren
Der „Blauen Mitzi“, wie sie hieß – weil sie stets Blau getragen
Hat nach viel Bäckereigenuss – sich umgekehrt der Magen
Ihr scharfes Auge trübte sich – in ihrer letzten Stunde
Die Zunge, die gefürchtet war – hing bleich aus ihrem Munde

Der alte Doktor hat sofort – die Brauen hoch geliftet:
„Das war kein Tod durch Herzinfarkt – die Mitzi ist vergiftet!“
Man holt sie ab und montags ward – die Mitzi obduzieret
Der Pathologe hat sofort – ein Pflanzengift erspüret
Es brodelte im ganzen Dorf – an jenem Montagmorgen:
„Wer war der Blauen Mitzi feind? – Wer wollte sie entsorgen?“

Wer hatte die Gelegenheit? – Und Gift aus welcher Pflanze?
Wer war zur Zeit am rechten Ort? – Und wie geschah das Ganze?“
Der Täter musste kundig sein – die Zeit war knapp bemessen
Es ist in einer Stunde tot – wer von dem Gift gegessen
Und wie, um Himmels Willen, kam – es dann in Mitzis Magen?
Den Gästen von dem Pfarrcafé – stellte man viele Fragen

Die Todesdroge fand man bald – in Mitzis Blumengarten
Je schöner hier der Blütenflor – je giftiger die Arten
Vom Seidelbast zum Fingerhut – der Eisenhut und Eibe
Sie pflegte mit viel Sachverstand – was man sonst besser meide
Daneben pries man weit und breit – Marias Mehlspeisküche
Es schwamm das Dorf zur Festeszeit – in süßen Wohlgerüchen

So buk sie auch zum Pfarrcafé – die guten Anisbögen
Ein zartes Biskuit-Gebäck – das viele Leute mögen
Die Mitzi hatt’ beim Pfarrkaffee – noch etliche gekostet
Und gut gelaunt der Gästeschar – mit Süßwein zugeprostet
Wie ist nun diese Tat gescheh’n – wer ist der böse Mörder?
Die Sache muss ans Tageslicht – und lange eing’sperrt g’hört er

Vom Fingerhut den Samen hat – vorm Aufbruch Mitzis Gatte
Mit Honig auf das Stück geklebt – das sie gekostet hatte
„Jetzt steh net rum und hilf mir trag’n – es is schon halber viere!“
So herrschte sie den Gatten an – und schloss sogleich die Türe
Das Maß war voll, seit vierzig Jahr – trug er der Ehe Bürde
Nun kauft er einen Jaguar – und ist ein Mann mit Würde

Doch hat des Schicksals hohe Macht – die Untat nicht vergessen:
Er hat sich mit sein’ Jaguar – drei Wochen drauf derstessn!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um … | Inventarnummer: 23108




Das Sonntagsgeschirr

Sonntag! Das ist der wöchentlicher Höhepunkt und sollte auch so empfunden und gelebt werden! Endlich Sonntag! Länger schlafen, am schöner gedeckten Tisch ein genießerisch langsames, reichhaltigeres Frühstück, anschließend die Sonntagszeitung durchblättern und über die aktuellen Themen plaudern. So sollte der Erholungs- und Familientag beginnen.

Es war knapp nach der Silberhochzeit, als Max mit seiner Elli im Rahmen einer ländlichen Feier auch den dortigen Flohmarkt besuchte. Nicht, dass sie etwas gebraucht, ja auch nur in irgendwie interessiert gewesen wären; man schlendert halt so durch und wundert sich, was es alles gibt, das man wirklich nicht braucht.

Bis Elli einen spitzen Schrei tat, zwei Standeln weiter vorne: „Jö, Max! Schau her, sowas g’fallert mir schon lang!“ Der Gerufene schlenderte zu ihr und fand sich an einem Tapezierertisch mit Glas und Porzellan. „Was wär denn das? Wir sind doch eh komplett versorgt und haben kaum Platz mehr“ – so Max verwundert. Aber die Elli zeigte auf ein Kaffeeservice mit bunter Bauernmalerei; „Lilienporzellan“ stand unten drauf, und „Alpenflora“. Ja zugegeben, es sah gut aus. Max zog ratlos die Schultern hoch, worauf Elli erklärte: „Wir haben doch kein g’scheites Sonntagsgeschirr – ich mein, es muss ja nicht alle Tage das Gleiche sein, net? Im Sommer, wenn wir Besuch haben, schaut sowas viel schöner aus. Max, das möchte ich haben, frag einmal was das kost’!“

Max suchte die Verkäuferin, eine hiesige Heurigenwirtin, und erfuhr neben dem mäßigen Preis auch, dass das zugehörige Speiseservice noch originalverpackt im Haus wäre. Es habe vor Jahren zur Aussteuer einer Nichte gehört, die es aber nicht in die Schweiz mitgenommen habe. Max bekam das Kaffeegeschirr und die Adresse der Wirtin, er wolle das Speiseservice am folgenden Tag als Überraschungsgeschenk für seine Frau abholen. Die Wirtin lachte: „Mach ma!“

Der nächste Sonntag kam, und Elli hatte den Tisch mit den neuen Kaffeetassen und einem dazu passenden Blumenstrauß gedeckt. Es sah wirklich gut aus, einladend und irgendwie fröhlich. Da bekam man gleich gute Laune, wenn man sich an den Tisch setzte. Und dann kriegte Elli fast einen Herzinfarkt vor Freude, als Max noch das Speiseservice auspackte. „Unser Sonntagsgeschirr!“, sagten Max und Elli gleichzeitig, mit Stolz und Freude.

Ja, und so blieb es auch, ungebrochen bis heute, jeden Sonntag des Jahres. In guten und weniger guten Zeiten, bei Sorgen und Krankheit, wenn sie allein waren oder angenehmen Besuch hatten: Das Sonntagsgeschirr hob die Stimmung und gab dem Tag eine freundliche Note. Gibt es einen schöneren Start in den Morgen? „Und wenn wir einmal ins Altersheim kommen, dann nehmen wir uns zwei Tassen mit, für den Sonntag“, sagte Elli. „Nimm lieber drei mit, und die Zuckerdose“, meinte Max.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23091