Trockenmarillen

Der Tag, an dem Lisa Martin im falschen Wald des Schulhofs geküsst hat, ist wie in getrocknete Marillen eingepackt gewesen, nur bitterer. Heiß, zumindest habe ich es so in Erinnerung, die klebrigen Strähnen im Nacken oder der trockene Mund. Wir sitzen nebeneinander in der Klasse an unserem gemeinsamen Tisch, den man nicht einfach so in der Mitte auseinander schneiden kann. Sie ist zu dieser Zeit schon zu groß für diesen Tisch, hat lange Arme und Beine, die unablässig an die Tischkante stoßen und an ihr reiben, und ich habe Angst, sie unabsichtlich berühren zu müssen, ihre heißen und trockenen Arme unabsichtlich berühren zu müssen, mit ihrem blonden Flaum. Ich sehe der Lehrerin zu, wie sie redet, was redet die schon? Denke, dass die anderen mir nichts ansehen dürfen, mir nichts davon ansehen dürfen, dass Lisa Martin im Wald geküsst hat, nicht sehen dürfen, dass ich geweint habe. Ich fasse mir an den Busen, fast ohne es zu wollen, der noch gar kein richtiger Busen ist, sondern eine kleine Beule, kaum fühlbar, die aber wehtut, und deren Nippel ständig entzündet sind, unter dem Unterhemd jucken.

Eine Wand muss ich für die anderen sein, denke ich während der Pause und während der nächsten Stunde, eine breite weiße Wand, die man nicht abgehen kann, so lang ist sie. Nichts dürfen sie mir ansehen, denke ich ganz fest bis zum Schulschluss, und daran, wie ich sie alle hasse, alle in dieser Klasse, und dass sie nichts sehen dürfen, nichts.

Als ich dann die Hefte mit Plastikeinband in den Rucksack packe, der schon übergeht, in den man nichts mehr stopfen kann, stopfe ich trotzdem noch etwas nach, das Geo-Dreieck spießt sich in meine Handfläche. Lisa steht neben mir, geduckt, weil ihr Körper in die Höhe und über ihren Kopf hinaus wuchert, greift neben mir nach ihren Büchern, die sich unter meine gemischt haben, ständig passiert uns das. Ihre Finger, die Martins Hand auf ihren Busen gedrückt haben, als müsste sie ihm zeigen, wo sie hingehört, schieben mein Geografie-Buch zur Seite, ziehen ihr Biologie-Heft darunter hervor. Manchmal wissen wir ja wirklich nicht mehr, was denn nun wem von uns beiden gehört, aber das mit Martin ist etwas anderes, das ist pure Absicht gewesen.

Ich merke ja, während ich zu meinem Platz im Schulbus gehe, wie steif ich gehe, und dass ich die Bücher sehr fest halte, die ich nicht mehr in den Rucksack habe pressen können. Lisa geht hinter mir. Wenn mich nur einer anspricht, wenn nur irgendjemand irgendetwas von mir will, aber niemand will etwas von mir, alle weichen mir aus.

Und während der Fahrt im Schulbus höre ich die anderen tuscheln, und es ist das Einzige, was ich tun kann, eine weiße Wand für sie zu sein, die so breit ist, dass man sie nicht abgehen kann, sollen sie doch reden, sollen sie doch!

Wir steigen aus dem Bus, ich zuerst, Lisa folgt. Wir springen von der letzten Stufe auf den heißen Asphalt, dabei fällt mir der Rucksack schwer in den Rücken, drücken sich die Bänder meiner Sandalen zwischen meinen Zehen in die Haut. Plastiksandalen mit Schmetterlingen, wieso trage ich die noch? Ich mag sie ja, aber warum trage ich sie noch?

Wir gehen die Landstraße entlang durch den Wald, Lisa und ich. Wir schweigen. Wir gehen nebeneinander, der Asphalt ist heiß selbst durch die Sandalen hindurch, und ich trage mein Turnsackerl in der einen Hand und die Bücher presse ich mir mit der anderen an meine kaum noch vorhandene juckende Brust. Die ich Martin nicht berühren habe lassen. Die Hose reibt zwischen den Beinen, die schweißigen Plastik-Schmetterlings-Sandalen reiben an meinen Füßen, ich rutsche in ihnen bei jedem Schritt. Das Turnsackerl dreht sich, schnürt mein Handgelenk ein, und bei jedem Schritt schlägt es mir eine Spitze in die Wade. Ich weiß, dass außerdem die Bücher bei jedem Schritt ein bisschen weiter nach unten rutschen, aus meinem nassen Griff rutschen, aber stehen bleiben? Dann könnte mich Lisa überholen, dann müsste ich sie ansehen, wie sie vor mir geht. Wenn ich es nur bis zum Haus schaffe, nur die Straße durch den Wald bis zum Haus.

Das Biologie-Heft mit seinem Plastikeinband entgleitet mir als erstes und fällt auf den Asphalt. Ich bücke mich nur ein ganz klein wenig, und die anderen Bücher folgen, gleiten mir alle auf einmal aus den Händen, als hätten sie nur gewartet, habe ich sie denn gehalten? Purzeln alle auf den Boden, schlagen mit der Ecke voran auf meine Füße. Meine Arme sind offen und leer.

Vor mir liegen die Bücher ausgestreut, als wären sie einzeln zusammengebrochen, auf dem Rücken, die Seiten verbogen. Als ich den Rucksack ablege, mich bücke, um sie aufzuheben, zieht sich die Hose in meinem Arsch zusammen und zwickt mich, muss ich daran denken, wie lächerlich ich aussehe in dieser alten Hose, die bis zum Nabel reicht, wie ein Kleinkind, rutschen meine Füße wieder auf ihrem eigenen Schweiß, fällt plötzlich auch der zweite Rucksack schwer auf den Boden, bückt sich ungefragt plötzlich auch Lisa. Sie hockt sich zu mir, sie ist ganz nah, ich kann ihren Arm riechen, blonder Flaum, unerträglich. Sie schweigt. Ihr Kopf ist gebeugt. Ihre eigenen Hefte zwischen Knie und Oberkörper eingeklemmt. Muss es sie nicht am Bauch reiben? Ohne zu fragen, lehnt sie sich vor und greift hin.

Ich weiß nicht warum in diesem Moment. Ich springe sie einfach an und. Meine Füße rutschen in den Sandalen. Meine Hände treffen auf ihre Brust, dann kommt der Rest von mir ganz wie von selbst, für einen Moment schlage ich an sie wie gegen eine Wand, sie schnauft. Dabei treibe ich sie schon auf die Füße, nehme sie mit bei meinem Lauf, sie stolpert rückwärts, die Bücher fallen zwischen uns hinab, schlagen gegen meine Hüfte, meine Beine. Ein bisschen stoße ich zu viel, da kippt es. Der Wald kippt, wir kippen, sind leicht, dann nicht mehr, weil wir auftreffen, den Boden wieder verlieren, abwärts rollen. Ich versuche nach ihr zu treten und nach ihr zu schlagen, will ihr auf die Brust schlagen, auf ihren Busen immer und immer wieder einschlagen, der größer als meiner ist aber auch weh tut vom Wachsen, das weiß ich. Einmal, zweimal trifft meine Faust ihre Brust und sie schnauft, aber dann erwischt sie meine Hand, hält mich von ihr weg, hält mich mit den Füßen von ihr weg. Ich kralle meine Nägel in sie, ich erwische ihre Haare und reiße daran. Sie schreit kurz auf, wir rutschen weiter und mein T-Shirt wird hinauf geschoben, Steine, Äste, Erde. Meine Sandalen verdrehen sich und schneiden sich überall in meine Füße, in meine Zehen. Ich ziehe mit den Haaren ihren Kopf in den Nacken, ihr Hals streckt sich mir in einem Bogen entgegen. Sie steigt mit dem Fuß zwischen meine Beine, ich klammere mich an ihrem Hintern fest. Ich rolle mich auf sie, sie rollt sich auf mich, das T-Shirt, von ihr festgehalten, krallt sich in meine Achselhöhle. Wir sind ganz fest umschlungen und ganz still, nur das Atmen und manchmal ein erstickter wütender Laut.

Das Unterholz zerkratzt mir die Arme, etwas sticht in meine Hüfte, ihre Nägel stechen tief in meinen Arm. Ihr Gesicht verkrampft, verzerrt, rot, meine Hand will ich mitten in die Sommersprossen drücken, aber sie hält mich so fest gepackt, dass es weh tut, ein Pochen unter ihrem Griff. Ein Pochen zwischen den Beinen, ich beiße in einen Unterarm und sie schreit kurz auf vor Schmerz, bäumt ihre Hüfte unter mir auf. Bis ich es schaffe, endlich, ihre Schultern auf den Boden zu drücken, mich auf ihren Unterbauch zu setzen, sie biegt sich unter mir. Ich höre, wie ihre Füße über den Waldboden scharren, um Halt zu finden, höre sie auf den Nadeln rutschen. Ich presse ihre Arme auf den Boden, zittere, soviel Kraft brauchte es, sie nieder zu stemmen. Ihr Gesicht krampft sich zusammen, die Sommersprossen fast verschwunden unter der Röte, sie hält die Luft an vor Anstrengung. Mit der Hüfte hebt sie mich, schüttelt mich hin und her.

Da lässt sie sich fallen, gibt nach. Ihre Arme erschlaffen, fast entgleiten sie mir wie Bücher, habe ich sie denn gehalten? Ich rutsche ab, fange sie wieder. Spüre diesmal ihr Pochen unter meinen Fingern. Unser Atem ist laut, die Nadeln sind überall im Gewand, meine Brustwarzen schmerzen von der Reibung. Mein Arm tut weh dort, wo sie mich gepackt hat, alles brennt innen und außen. Sie sieht mich an, mit geöffnetem Mund. Von der Anstrengung rinnen ihr Tränen das Gesicht hinunter, verschmieren sich mit der Erde, mit dem bisschen Blut. Sie sieht mich an, sie sagt nichts, und doch ist ihr Blick. So ernst.

Unser Atem wird langsamer. Die Jeans zieht sich zwischen meinen Beinen zusammen und zwickt, es brennt, als müsste ich ganz dringend aufs Klo, verwirrend zwischen all dem. Verwirrend, dass es fast ist wie sonst, wenn wir raufen. Dass es letztendlich kaum einen Unterschied macht, obwohl es doch einen Unterschied machen sollte, obwohl ich alles Recht habe, wütend zu sein. Aber es ist wie sonst, wenn wir durch den Waldrand brechen, wenn wir durch die Wasseroberfläche brechen. Das Wasser schlägt doch immer über uns zusammen und legt sich doch immer in unsere Ohren und auf unseren Mund und auf unsere Haut, kriecht in jede Höhle. Und wie leicht das ist, unterzutauchen. Und wann lass ich dich los?

Wieso lächelst du nicht, außerdem? Wieso blickst du mich so ernst an? Im falschen Wald hattest du die Augen geschlossen. Du hast Martin geküsst, wie du ein Butterbrot streichst. Deine Hand hat auf seiner Jeans hin und her geschabt, seine Hand hat deinen Busen hierhin und dorthin geschoben. Das kann doch nicht angenehm gewesen sein? Der Wald riecht nach getrockneten Marillen, nur bitterer, und deine Haut fühlt sich rau auf den Lippen an.

Ich stemme dich nieder und halte dich fest. Zu deinen Lippen beuge ich mich hinunter, ein bisschen Luft bleibt noch dazwischen. Die brauchen wir dabei gar nicht, wir müssen gar keine Luft entweichen lassen. Aber du siehst mich zuerst an und dann lässt du doch Luft entweichen, atmest du aus, du atmest in meinen Mund hinein, warme Luft bläst du in meinen Mund. Und dein Mund zittert genau deshalb.

Elisabeth Klar

Auszug aus dem Roman “Wie im Wald”, der im Herbst 2014 im Residenz Verlag erscheinen wird.
Wir bedanken uns bei der Autorin und beim Verlag für das freundliche Einverständnis zur
Vorveröffentlichung auf verdichtet.at.

Nachtrag September 2014: Inzwischen ist der Roman erschienen:
Wir wünschen ihm und der Autorin viel Erfolg!

Rezension: Standard vom 28. November 2014

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