Lichtschalter

[Für Carmen]

Endlich schien sich der dämmrige Winter seinem Ende anzunähern. Gefühlt ein halbes Jahr war er ihr bereits lähmend in den Knochen gelegen, hatte sie in Dunkelheit gebannt und ihre Geisteskräfte abgedämmt. Sie hatte von ihm und dem finsteren Tunnel in ihr unbändig genug, sie benötigte weites Licht.

Doch wofür bisher stets Gott*Göttin sich höchstpersönlich ans Werk machen oder sich zumindest die Erde einen mühseligen Tag lang umdrehen musste, schaffte ein neu auf der nebligen Lebensbildfläche auftauchendes „potentielles Gegenstück“. Fünf kümmerliche, aus dem noch gefrorenen Boden entwachsene, Gänseblümchen hatte er für sie gepflückt und mit einem sechsten zu einem kleinen Strauß gewunden. Unbeholfen und scheu lächelnd stand er damit vor ihr und brachte unerwartete, aber angenehm belebende Helligkeitswolken in die ersten diesigen Frühlingstage des Jahres.
Sie und er verabredeten sich zu einem gemeinsamen Waldspaziergang, andere Vergnügungen waren zu jener Zeit nicht gestattet. Sie war froh darüber, denn beim blicklosen Nebeneinandergehen konnte sie, wie es so ihre Art war, allfällige dunkle Schatten auf der Seele des ahnungslosen Begleiters erkunden. Doch obwohl sie die höchste Sorgfalt auf diese Analyse verwendete und definitiv keine sich anbietende Gelegenheit zur herausfordernden Provokation ausließ, konnte sie erstaunlicherweise keine – allzu – menschlichen beziehungsweise männlichen Untiefen in ihm entdecken.
Im Gegenteil, sie machte im Laufe der sich nun sporadisch wiederholenden Spaziergänge durch die aufblühende Natur eine außergewöhnlich erhellende Entdeckung an ihm: Seine durchschnittliche Existenz in Kombination mit den aufblitzenden Augen, dem ungetrübten Herzen, der sonnigen Fürsorglichkeit und seiner alles überstrahlenden Lebensfreude zog sogar Schmetterlinge an. [Ernsthaft.]
Auf all seinen Wegen kamen sie angeflogen. Sie umkreisten ihn freudig, zeigten ihm ihre schönsten Flügelmuster, flogen ihm ein Stück der Strecke voraus, nur um dann wieder die Richtung zu wechseln und ihm entgegenfliegen zu können.
Er nahm das völlig gelassen und kommentarlos hin, da es sein ganzes Leben schon so bei ihm gewesen war. Aber in ihr und rund um sie wurde es immer flimmernder, summender, knisternder und bunter.

Als der Frühling schließlich am Zenit seiner Strahlkraft angelangt war, saßen sie gemeinsam am Waldesrand und waren zufrieden mit sich und der Welt. Er hatte, wie immer, Leckereien dabei und sie genossen Kaffee und Kuchen sowie die pittoreske Aussicht auf die lichtdurchflutete Landschaft des Unteren Mühlviertels. Zu ihren Füßen hockten geduldig ein Schwalbenschwanz, ein Kohlweißling-Paar und mehrere Zitronenfalter – wie üblich.
Eine schimmernde Zeit lag bevor, endlich ein Neubeginn. Sie befand sich in Erwartung eines malerischen Frühlingsausklangs, eines Übergleitens in sinnliche Sommermonate und danach … unerschöpflicher Zeiten behaglicher Bequemlichkeit, aber immerhin.
Der nächste Winter würde keine Macht mehr über sie gewinnen.
Gleißendes Licht.

OFF/AUS.
Der Schalter wurde ausgeknipst. Über Nacht, einfach so.
[Von wem und wer hat das eigentlich bestellt?]

Sie öffnete die Augen, obwohl sie schon wusste, was sie erwartete. Der düstere Tunnel war wieder da, in ihr und überall. Die dumpfen Wände davon lagen genau links und rechts neben ihren Augen, weiter konnte sie nicht sehen. Unter den modrigen Bodenplatten steckten ihre Gefühle fest, taub und stumm. Draußen hatte sich der Frühling verabschiedet, das passierte immer wieder.

Der gutherzige Schmetterlingsflüsterer schrieb ihr lange Zeit sehnsüchtige Nachrichten und schickte Tulpen in allen Farben, doch bedauerlicherweise hatte Churchills „Schwarzer Hund“ die rosaroten Schmetterlinge verschluckt.

[Wieder Winter.]

 

Mai 2021

Anita Winkler

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 21075