Tod einer Radfahrerin

1)

Manuel stand in der Küche und kochte eine Tomatensuppe. Draußen schien die Wintersonne herein und er hörte an diesem Freitagnachmittag das Ö1-Mittagsjournal und dachte, dass die Welt sich nie ändern würde. Dass alles immer so bleiben würde, die Dramaturgie des Weltgeschehens wiederkehrend wäre, und die Menschen nicht schlauer würden.

Er freute sich auf seine Frau Larissa, die bald von der Arbeit zurück sein müsste. Seit Kurzem arbeitete sie als Assistentin bei einem praktischen Arzt. Sie hatte ihm oft erzählt, dass sie ihre neue Arbeit glücklich mache. Aufgrund ihrer medizinischen Ausbildung dürfe sie nicht nur die Terminvereinbarungen mit Patienten treffen, sondern stünde dem Arzt bei Untersuchungen assistierend zur Seite.
Er wunderte sich, dass sie nicht schon zu Hause war. Mittlerweile war das Mittagsjournal zu Ende und die Küchenuhr zeigte auf ein Uhr. Nachdem die Ordination am Freitag um zwölf Uhr mittags sperrte und nicht weit von ihrer Wohnung entfernt lag, war die Strecke mit dem Rad in gut fünfzehn Minuten zurückzulegen.

Je länger er auf Larissa wartete, desto mehr dachte er an das Telefonat, das er in den letzten Wochen immer wieder verdrängt hatte. Doktor Gronau, der neue Arbeitgeber von Larissa, hatte ihn angerufen, als sie bereits ein paar Tage bei ihm in der Ordination gearbeitet hatte. Der Arzt hatte etwas ausgesprochen, was Manuel nie für möglich gehalten hätte, zumindest konnte er die Zeichen in der Vergangenheit nicht deuten. Er war mit Larissa seit zwei Jahren verheiratet, aber es war für ihn schwer vorstellbar, dass hinter ihrem fröhlichen Wesen noch eine andere Seite existierte.
„Haben Sie schon mal beobachtet, dass ihre Frau heimlich weint, ist Ihnen das schon einmal aufgefallen?“, fragte ihn der Arzt, der seine Mutmaßung ohne Umschweife und ganz direkt aussprach. „Ich bin kein Seelenklempner, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ihre Frau auch eine ziemlich depressive Seite hat, die sie ganz gut kaschieren kann“, sagte Gronau. Er sagte, er hätte ihr Weinen dann beobachtet, wenn gerade keine Patienten in der Praxis gewesen wären, sie alleine hinter dem Anmeldetresen saß, und glaubte, nicht beobachtet zu werden.

Insbesondere fiel ihm ihr trauriges Verhalten dann auf, wenn wenig los war, als bedeutete die Arbeit einen gewissen Grad an Ablenkung für sie. Manuel war überrascht, als er diese Beobachtungen geschildert bekommen hatte. Anderseits aber löste sich ein fragwürdiges Verhalten seiner Frau etwas auf, das er stets zur Seite geschoben, immer wieder verdrängt hatte. Dachte er an seine Ehe, dann kam es ihm vor, dass Larissa immer dann zu Höchstform auflief, wenn bei ihnen zu Hause ein möglichst großes Tohuwabohu vorherrschte. Je mehr Besuch bei ihnen zugegen war, sei es, dass ihre Freundinnen mit ihren Kindern lärmend bei ihnen einfielen oder Larissas Geschwister unangemeldet zu Besuch kamen, umso fröhlicher und extrovertierter wurde sie.
Sie zog sich immer nur dann zurück, oder ging ihm aus dem Weg, wenn es bei ihnen besonders ruhig geworden war. Wenn sie nur zu zweit waren, oder wenn sie an verregneten Sonntagnachmittagen nicht wussten, was sie mit sich anfangen sollten, erinnerte sich Manuel.

2)

Er hörte, wie Larissa die Eingangstüre öffnete, sich ihre Schuhe auszog und ihre Jacke auf der Kleiderablage aufhängte. Sie trat in die Küche ein und riss ihn vollends aus seinen Gedanken heraus. „Na endlich, ich warte schon die längste Zeit auf dich. Die Tomatensuppe ist schon fertig“, sagte er, und während des Sprechens begriff er, dass seine Begrüßung nicht gerade herzlich ausfiel. „Von Arbeit hast du wohl keine Ahnung“, sagte Larissa, die ihre Miene verzog. Er sagte ihr, dass es im leidtue, sie etwas forscher begrüßt zu haben, aber er habe sich eben Sorgen gemacht, wo sie denn bleiben würde. Sie erwiderte ihm, dass er sich seine Entschuldigung auf den Hut picken könne, nämlich das, was gesagt wurde, könne nicht mehr zurückgenommen werden.
Er war ob Larissas Reaktion vollkommen perplex und konnte sich nicht erklären, warum sie so gereizt war. Er fragte sich, ob in der Ordination etwas vorgefallen sei, hütete sich aber, sie darauf anzusprechen. Als ob seine vorherigen Gedanken, seine Erinnerung an das Telefonat mit Dr. Gronau etwas ausgelöst hätten. Vielleicht gab es ja telepathische Gedankenassoziationen, dachte er sich. Einer dachte was, und der andere fühlte sich unbewusst angesprochen.

„Mir ist die Lust auf deine Tomatensuppe eigentlich vergangen“, sagte Larissa, die sich von ihm abwandte und die Küche wieder Richtung Flur verließ, sich eilends Schuhe und Jacke anzog und die Eingangstüre krachend ins Schloss fallen ließ. Manuel konnte es nicht glauben, dass ihr Verhalten so aufbrausend war. Er blickte zum Küchenfenster hinaus und beobachtete sie, wie sie ihr rotes Fahrrad aus dem Radständer hob und in Richtung Bahnhof davonfuhr. Er erinnerte sich daran, dass ihr Lieblingskaffee in der Nähe des Bahnhofs war. Seitdem sie von der Großstadt in die Kleinstadt verzogen waren, waren die Wege für sie beide kurz und nachvollziehbar geworden. Sie musste nur den Bahnübergang queren, und schon würde sie zum Bahnhof mit dem kleinen Einkaufszentrum gelangen.

3)

Manuel löffelte lustlos die Tomatensuppe direkt aus dem Topf und überlegte, was er mit dem Freitagnachmittag anfangen sollte, und ob seine Frau tatsächlich depressiv sei. Der Beginn des Wochenendes hatte für ihn einen fahlen Beigeschmack, und obwohl draußen die Sonne schien, hatte er das Gefühl, dass sich ein grauer Schleier über der Stadt ausbreitete. Er wollte nicht grübelnd mit negativen Gedanken den Nachmittag zu Hause verbringen, denn das würde an der Situation, dass Larissa scheinbar eine Laus über die Leber gelaufen war, nichts ändern.
Er wollte immer schon mal in die Großstadt fahren, um wieder ein paar Runden durch die Altstadt drehen zu können. Er beschloss, das zu tun und mit dem Zug zu fahren. Vielleicht würde er ja Larissa am Bahnhof über den Weg laufen, und sie könnten sich zu einem Versöhnungskaffee zusammensetzen. Das wäre eigentlich sein Wunsch, gestand er sich ein, denn in die Stadt zu fahren, war zwar schön, aber doch nur ein fauler Kompromiss.

4)

Manuel saß im Regionalexpress, der langsam anrollte und in etwa einer dreiviertel Stunde am Ziel sein würde. Er hatte einen Fensterplatz und die Sonne schien herein. Larissa war er am Bahnhof nicht begegnet, was ihn etwas traurig stimmte. Der Zug entfernte sich mit immer schneller werdender Geschwindigkeit aus dem Bahnhofsbereich und näherte sich dem Bahnübergang, den Larissa und er von zu Hause immer nehmen mussten, wenn sie zum Bahnhof wollten. Er wollte gerade aufstehen, um sich seinen Mantel auszuziehen, als der Zug unversehens bis zum Stillstand abbremste. Er konnte sich gerade noch an der Gepäcksablage festhalten, um nicht zu Fall zu kommen.

Der Zug stand nun außerhalb des Bahnhofs, inmitten von einem Gewirr aus Weichen und Geleisen. Es vergingen einige Minuten, die Manuel endlos vorkamen. Seitens des Schaffners gab es keine Information, warum der Zug zum Stehen gekommen war. Die Fahrgäste schauten sich betreten und ratlos an und keiner wusste, wann es weitergehen würde. Er blickte nochmals aus dem Fenster, um sich zu orientieren, wo der Zug zum Stehen gekommen war. Er sah, dass die Lokomotive in etwa bei dem Bahnübergang stand. „Wir bitten um Ihr Verständnis, aber aufgrund eines Rettungseinsatzes kann der Zug derzeit seine Fahrt nicht fortsetzen“, verlautbarte der Schaffner nach einer halben Stunde über die Lautsprecheranlage. Dass aber heute auch gar nichts auf die Reihe zu bekommen ist, dachte sich Manuel, dem es immer noch an die Nieren ging, am Nachmittag im Streit mit Larissa auseinandergegangen zu sein. Draußen hörte man die Signalhörner der Einsatzfahrzeuge und die Reflexe der drehenden Blaulichter drangen in den Zug hinein. Manuel war es mittlerweile vollkommen gleichgültig, wie lange der Zug stillstehen würde, von Bedeutung war für ihn nur, sich mit Larissa so schnell wie möglich wieder auszusöhnen.

Er presste sein Gesicht an das Zugfenster, konnte jetzt die Umrisse des Bahnübergangs schemenhaft erkennen, das verstreute Stehen der Einsatzfahrzeuge, und ein demoliertes und verbeultes rotes Rad, das von einem Feuerwehrmann zur Seite gelegt wurde. Noch ehe er Larissa anrufen konnte, bekam er auf seinem Handy einen Anruf, dessen Nummer als anonym angezeigt wurde.

Wolfgang Dorner

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