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Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil III

Nicht so schnell! Haben Sie schon Teil 1 und Teil 2 gelesen?
Dies ist der finale Teil der Geschichte.

Hinweis der Redaktion: Dieser Text kann verstörend wirken, er enthält Gewaltszenen.

Sie setzte sich in ein Café auf dem Kapuziner-Boulevard und bestellte ihr Lieblingsgebäck mit Erdbeermarmelade. Dazu trank sie eine Brause.
Ein junger Mann warb lauthals für bewegte Bilder, die im „Grand Café“ präsentiert wurden. „Die siebte Kunst“ nannte man diese nagelneue Erfindung der Brüder Lumière. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Jeannes Truppe viele Besucher in ihrem Varieté. Meistens waren es die Reisenden, die neue Erfahrungen sammeln wollten, um davon ihren Familien und allen in ihren Heimatorten prahlerisch zu erzählen. Aber es gab auch ein paar Ansässige, die immer wieder vorbeikamen.
Aber jetzt, wo es etwas Neueres gab, verringerte sich die Anzahl geradezu drastisch. Der Patron machte sich schon Sorgen.
„Ich kann die Faszination dieser Leute nicht teilen“, sagte er und stieß dabei einen tiefen Seufzer aus. „Was ist daran so interessant? Es sind schwarz-weiße flache Bilder der gewöhnlichsten Menschen. Ist das Leben an sich nicht lebendig und bunt genug? Der Teufel soll sich diese infernale Maschine zurückholen!“ Er spuckte verächtlich auf den Fußboden.
Jeanne spürte, dass er enorme Angst hatte, Angst, diesen endlich errungenen Halt zu verlieren.

Sie wurde neugierig, und da die verbliebene Zeit es ihr erlaubte, kaufte sie eine Eintrittskarte zu der Kinovorführung und betrat den umgebauten Billardsaal, der rappelvoll war.
Nach langer Suche fand sie einen freien Platz und quetschte sich zwischen zwei korpulente, stark nach Parfum und Schweiß riechende Frauen, die sich offensichtlich keine Mühe gaben, Jeanne ihr Hinsetzen zu erleichtern. Sie hörte jemanden munkeln, die Gebrüder hätten die Idee von einem Amerikaner während ihrer Reise durch den Traumkontinent geklaut. Dann ließ sie ihren Blick im Raum schweifen. Vor sich sah sie eine weiße Leinwand. Dann drehte sie sich um und bemerkte zwei fast gleich aussehende Männer an der hinteren Wand, die an einem hoch gestellten, quadratischen Apparat geschickt herumhantierten. Als sie schließlich fertig waren, traten sie vor das Publikum. Sie wirkten wie eineiige Zwillinge. Der einzige Unterschied war, dass einer von ihnen eine Brille trug. Man konnte unmöglich bestimmen, welcher der ältere und welcher der jüngere Bruder war. Jeanne fand es ziemlich amüsant.

Der ohne Brille bedankte sich für das große Interesse an ihrer Erfindung, erklärte kurz, aber verständlich, wie der Apparat, den er Filmprojektor nannte, funktionierte, und teilte mit, dass zehn Filme gezeigt würden. Der andere wünschte allen viel Vergnügen an diesem wunderschönen Abend. Sie gingen wieder zu ihrer „infernalen Maschine“ und schalteten sie ein. Ein schwacher Lichtstrahl wurde zu der Leinwand ausgesandt. Die Saallichter wurden gelöscht und man konnte jetzt deutlich Staubkörner und Zigarettenrauch im Strahl des Projektors schweben sehen. Eine Weile passierte nichts. Anscheinend gab es einen kleinen technischen Fehler, an dessen Behebung bereits tüchtig getüftelt wurde. Währenddessen dachte Jeanne an den seltenen Namen Lumière, der „Licht“ bedeutete. Sie fand es vielsagend, sogar transzendent, dass ausgerechnet die Personen mit diesem Namen unmittelbar mit dem Licht zu tun hatten.
Sie waren für diese Aufgabe vorherbestimmt, war sie sich sicher.

Hier und da ertönte schon nervöses Gekicher und Getuschel. Jemand legte mit einem melodischen Pfeifen los. Jeanne schaute noch mal nach hinten. Der Bebrillte fing an, eine kleine Kurbel zu drehen. Ein leises Rattern entstand. Es ging los.
Fast alle Zuschauer gaben simultan ein Geräusch des Staunens von sich. Ein Mann im Bild versuchte, auf ein Pferd zu steigen, dabei fiel er mehrmals herunter. Alle lachten hell und prächtig.
Der Film war damit zu Ende und schon fing der nächste an.
Ein Gärtner bewässerte den Garten. Ein Jugendlicher schlich sich an ihn heran und stellte sich auf den Schlauch. Der Wasserstrahl hörte auf zu fließen. Der ratlose Gärtner schaute in die Öffnung des Schlauchs und wurde von einer unerwarteten Fontäne bespritzt, da der Jugendliche seinen Fuß vom Schlauch genommen hatte. Dann lief er weg, wurde aber von dem rasenden Mann eingefangen, am Ohr gezogen und bekam den Hintern versohlt.
Das Publikum krümmte sich vor Lachen. Einige mussten sogar hinauslaufen, denn sie kriegten schlecht Luft.
Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein. Die Zuschauer in dem linken Teil des Saals wurden langsam unruhig und gerieten in Panik. Es entstand ein Angstgeschrei. Manche bückten sich, manche sprangen zur Seite, um sich vor der nähernden Dampflokomotive zu retten.
Von einer Maschinerie produziertes Echo des Lebens  faszinierte wie ein Zauber. Die ganze Vorstellung dauerte ungefähr zwanzig Minuten. Beim Hinausgehen hatte Jeanne das Gefühl, in einer anderen Welt gewesen zu sein. Gleichzeitig machte sie sich auch Sorgen um die Zukunft ihres Varietés.

In ihrer bescheidenen Kammer im Theatergebäude angekommen, setzte sie sich vor den Spiegel und betrachtete eingehend ihre unweiblichen Gesichtszüge. Ihr markantes Kinn und die etwas zu breite Stirn gefielen ihr nicht. Mit dem Anflug leichter Selbstverachtung rümpfte sie die Nase. Dann löste sie ihr nussbraunes Haar und fuhr mit ihrer Hand hindurch. Sie wollte es schon seit Langem ganz kurz schneiden lassen, aber der Patron war entschieden dagegen.
Heute war sie nach der Nummer mit dem Feuerspucker dran. Sie musste an den jungen Andre mit seinen goldenen Locken denken. Er hatte vor zwei Jahren seinen ersten Bühnenauftritt bei ihnen gewagt. Er war sehr aufgeregt. Jeanne wusste noch ganz genau, was sie ihm damals gedanklich gewünscht hatte: ‚Bitte, verbrenn nicht dein schönes Gesicht.‘ Er hatte ihr verwirrt zugelächelt, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Leider passierte etwas noch Schlimmeres. Er war mit der Vorstellung fast durch, alles lief perfekt und auf einmal machte er einen gravierenden Fehler. Er atmete die Flammen ein und verloderte seine Lungen. Er war an Ort und Stelle tot.

Jeanne hatte die ganze Nacht geweint. Wie es schien, hatte sie immer noch einige Tränen für ihn übrig, denn zwei feuchte Schmerzensperlen rollten ihr rasch die Wangen hinunter.
Es wurde Zeit, sich vorzubereiten. Mit eiskaltem Wasser wusch sie sich das Gesicht. Ihr blutrotes Kleid legte sie ab. Stattdessen zog sie ihr schwarzes Kostüm an. Es bestand aus einem einfachen, ärmellosen Oberteil mit einem tiefen V-Ausschnitt und einem ziemlich kurzen Rock. Der Patron wollte, dass man ihre langen, attraktiven Beine sehen konnte. So erhoffte er, mehr Erlös zu erzielen. Sie war damit einverstanden. Sie hätte es ihm schlecht abschlagen können, da sie bereits ein unmoralisches Angebot von ihm abgelehnt hatte. Er hatte ihr vorgeschlagen, nach dem Auftritt ihre Verehrer als Freier in ihrem Zimmerchen zu empfangen, wie es die meisten Frauen der Truppe bereits liebend gerne taten. So, wie Marie „das Puppengesicht“, die ihre Moneten nicht nur mit ihrem schönen Antlitz verdiente. Es wurden nur die Männer aus der höheren Gesellschaft zugelassen, denn das Etablissement hatte einen guten Ruf zu verlieren. Außerdem platzten ihre Portemonnaies von der schweren Last.

Obwohl Jeanne auf diesen Weg viel schneller ihren Traum von Amerika verwirklichen hätte können, hielt sie nichts davon. Lieber wartete sie länger, aber blieb so rein, wie es nur möglich war, in dieser lasterhaften Welt.
Nach dem Umziehen holte sie ein längliches, jadegrünes Köfferchen unter dem Bett hervor und machte es auf. Darin befand sich der Degen von Pierre. Sie hatte nie versucht herauszufinden, was die Inschrift bedeutete. Sie ließ sich lieber im Glauben, dass es eine nicht entzifferbare Zauberformel war, die ihr Leben schützte. Sanft strich sie mit ihrer Hand entlang der perfekten Klinge, dabei murmelte sie vor sich hin. Es hörte sich an wie das Wispern einer innig verliebten Frau, gerichtet an ihren tief schlummernden Geliebten.
Sie durchtränkte einen Wattebausch mit Essigessenz und reinigte damit die Klinge, damit sich keine Patina ansetzte. Dann polierte sie ihn mit einem weißen seidenen Tuch bis auf Hochglanz.

Es klopfte an der Tür. Der Patron trat ein.
„Bist du bereit?“
Sie nickte. Dabei fiel ihr auf, wie schnell er gealtert war. Er tat ihr plötzlich sehr leid.
„Warum schaust du mich so an?“, fragte er verwundert. „Hast du noch nie einen Adonis gesehen?“ Er lachte herzlich. Sie konnte nur schwach lächeln.
Mit dem Degen in der Hand ging sie auf die in der Mitte beleuchtete Bühne und stellte sich in das Rampenlicht. Ein leiser Applaus weniger Anwesenden schallte im verdunkelten Raum. Der vertraute, abgestandene Geruch des Saals. So wehmütig anmutend.
„Für Pierre“, sagte sie verhalten.
Mit dramatischer Begleitung einer Djembe, gespielt von einem bejahrten Afrikaner, durchzog sie ihre Nummer, deren jede Bewegung sie sich tief eingeprägt hatte. Sie fühlte sich wie eine Zuschauerin, während ihr geübter Körper seine schwierige Aufgabe mit bewundernswerter Leichtigkeit erfüllte. Es war, als ob sie die Kontrolle vorübergehend einem unsichtbaren Wesen überließ, das sie liebevoll leitete. Bald war dieser mystische Akt zu Ende.

Mit schwirrendem Kopf ging sie zurück in ihre Kammer, wo sie den Degen kurz reinigte und ihn dann ins Köfferchen zurücklegte. Der Dolch blieb hinten an ihrem Kostüm angelegt.
Wieder ertönte ein Klopfen, aber keiner kam unaufgefordert herein.
Anscheinend ein Fremder. Sie stand auf und machte die dünne, hölzerne Tür auf. Die Angeln knarrten. Vor ihr stand ein sauber rasierter, älterer Mann in einem blutroten Frack. Seine stämmige Figur verriet, dass er einst ziemlich stark gewesen war.
„Darf ich?“, fragte er mit einer Höflichkeit, die ein mulmiges Gefühl hervorrief.
„Ich weiß nicht, was Sie gehört haben, aber ich mache so was nicht. Sie müssen zu den anderen Mädchen gehen“, sagte Jeanne entschieden und war im Begriff, die Tür vor seiner Nase zuzuschlagen, aber er hielt sie mit einem Arm auf.
„Ich muss mit dir reden.“ Ein diffuses Licht blitzte in seinen Augen auf.
„Kennen wir uns?“
„Bitte“, sagte der Mann mit Nachdruck.

Sie trat zur Seite und gewährte ihm den Eintritt, obwohl ihre Vernunft Alarm schlug.
Er stellte sich in die Mitte des Zimmers und schaute sich alles genauer an. Indes machte Jeanne die Tür zu und beobachtete ihn angespannt.
„Darf ich mich hinsetzen?“, fragte er und ohne die Antwort abzuwarten, ließ er sich auf den einzigen Stuhl nieder.
Wie eine Somnambule setzte sie sich ihm gegenüber aufs Bett. Die alte Federkernmatratze knarrte.
Jetzt starrte er sie mit einem lüsternen Blick an. Ein anzügliches Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.
Endlich kroch es ihr ins Bewusstsein, wer vor ihr dasaß. Ihr Stiefvater.
„Was willst du?“, fragte sie mit dem Beiklang des Schreckens, der ihm natürlich nicht entging. Ihre Knie zitterten wie frisch gefangene Frettchen in einem engen, dunklen Käfig. Mit aller Willenskraft versuchte sie, es zu verbergen.

Sein durchdringender Blick musterte sie von Kopf bis Fuß. Ihr war, als würde er ihr bis in die Eingeweide hineinschauen. Sie empfand den Anflug einer längst vergessen geglaubten Pein wieder.
„Wer ist dieser Pierre, dem du deinen Auftritt gewidmet hast? Ist er dein Liebhaber, versteckt er sich irgendwo?“ Höhnisch schaute er sich um.
Am liebsten hätte sie ihm jetzt den Kopf abgeschlagen. Keiner durfte Pierres Namen in den Dreck ziehen, besonders der da nicht. Dieses Schwein!

Als sie noch bei ihm und ihrer Mutter wohnte, war er ein angesehener Anwalt. Damals trug er einen Vollbart. Wie ein Bär sah er in seinem maßgeschneiderten, teuren Anzug aus. Ein Muskelpaket, dazu noch verschlagen wie ein Fuchs. Kein Wunder, dass sie ihn in seiner neuen Aufmachung nicht sofort erkannt hatte. Sie tat alles, um ihn aus ihrem gequälten Gedächtnis zu löschen, aber je mehr Mühe sie sich gab, desto lebhafter wurde sein Schatten, der sie noch lange nach ihrer Flucht verfolgte. Erst als sie endgültig entschied, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nur noch nach vorne zu schauen, ließ der Quälgeist sie allmählich in Ruhe.

Er hatte sie oftmals als Jugendliche entehrt. Ihre Mutter wusste Bescheid, denn wie könnte es ihr nicht aufgefallen sein, dass ihr braver Ehemann fast jede Nacht ihr breites Ehebett verließ, um nach einer Stunde, erschöpft und nach ihrer Tochter duftend, unter die Decke zu kriechen und tief einzuschlafen?!
Sie erinnerte sich an das erste Mal, als er unangekündigt in ihr Schlafzimmer trat, unter dem Vorwand, mit ihr etwas Wichtiges besprechen zu wollen. Es war Mitternacht. Sie lag in ihrem Schlafrock unter der Bettdecke und bebte am ganzen Leib vor einer vagen, unheilvollen Vorahnung. Dann dauerte es nicht lange, bis er sich mit seinem bleischweren Körper zwischen ihre Schenkel gelegt hatte und vor Anstrengung tierisch keuchte. Die schneidenden Schmerzen breiteten sich wie Höllenfeuer in ihrem Unterleib aus. Sie glaubte, sie müsse sterben. Sie wollte sterben, aber sie überlebte. Als er endlich ging, betete sie zu Gott, dass sie es nie wieder über sich ergehen lassen musste. Aber er kam erneut. Gott war anscheinend altersbedingt schwerhörig geworden. Der Gestank der Lüsternheit eines alternden Mannes blieb an ihrer zarten Haut haften. Er hatte ihren Türschlüssel abgezogen und eingesteckt.
Sie konnte nicht mehr gut schlafen. Sie wartete auf sein Erscheinen, denn sie wollte nicht im Schlaf überrumpelt werden. Die ersten Sekunden seines Näherkommens nutzte sie, um sich auf das Leid einigermaßen vorzubereiten, das im Begriff war, sie gänzlich zu verschlucken. Die Flammen der Drangsal hinterließen nur die Asche. Ihre Machtlosigkeit drückte auf sie wie ein eiserner Sargdeckel. Sie wusste keinen Ausweg, bis sie die ungewöhnliche Truppe auf dem Marktplatz erblickte. Wäre sie geblieben, hätte sie sich das junge Leben genommen.

Er trug jetzt keinen Ehering mehr.
Mutter ist wahrscheinlich schon tot, egal!, dachte Jeanne. Die Mutter hatte ihre Rolle versäumt und es wäre unverzeihlich dumm von Jeanne, die ihre gewissenhaft auszuführen.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Kleine“, sagte er im Aufstehen. Dann breitete er seine Arme aus.
„Komm, hol dir dein Geschenk.“
Nach kurzem Zögern ging sie entschlossen auf ihn zu und umarmte ihn widerwillig.
„Gut so, gut so“, wisperte er, über ihre Haare streichelnd. Indes glitt ihre rechte Hand zum Dolch und ergriff ihn fest.
Blitzartig rammte sie ihn tief in den Rücken des Verhassten.
Er stöhnte auf und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Sie trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihn. Es war vollendet.

Sie ging auf das kleine Waschbecken zu. Bevor sie sich gründlich wusch, betrachtete sie ihr Abbild im kleinen ovalen Spiegel. Dieser Anblick bereitete ihr anscheinend eine große Freude, denn sie lächelte verzückt vor sich hin. Nach dem Waschen zog sie sich um und packte schnell ihren Koffer. Sie öffnete die Matratze am Fußende und zog einen kleinen dunkelbraunen Beutel heraus, der ihre gesamten Ersparnisse beinhaltete. Das Köfferchen mit dem Degen vergaß sie auch nicht.
So, mit Sack und Pack, schaute sie sich den Toten an. Sie wollte sich dieses Bild des verdient ereilten Elends gut einprägen. Die erfüllte Rache wärmte ihr pochendes Herz.
Sie verließ den Raum und schlich durch den verdunkelten Korridor zum Hinterausgang, der auf eine ruhige Gasse hinausführte. Gedanklich bedankte sie sich beim Patron für alles. Das war ein perfekter Abschied, denn sie war unerwartet erschienen und so wollte sie auch verschwinden.
An der Hintertür angelangt, blieb sie kurz stehen, um sich ein Versprechen zu geben. Von nun an würde sie ihren Geburtstag stets feiern.
Sie trat in die kühle Nacht hinaus. Die Welt war breit und tief genug, um Jeanne wie ein scharfes Schwert aufzunehmen. Ihre aufrechte Gestalt löste sich in der behütenden Dunkelheit auf.

2019

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21129




Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil II

Halt! Kennen Sie schon Teil 1 dieser Geschichte?

Es geschah im Spätwinter. Sie war erst vierzehn. Unausgeschlafen trottete sie durch die grauen Straßen. Das Einzige, was sie wahrgenommen hatte, waren ihre trüben Gedanken und Ängste vor der kommenden Nacht. Und vielen darauf folgenden. Plötzlich war ihre Abwesenheit durch eine schrille Stimme durchdrungen worden. Ihre erwachte Aufmerksamkeit lenkte sich auf eine Menschenmenge auf dem Marktplatz vor zwei Pferdefuhrwerken, die mit khakifarbenen Abdeckhauben versehen waren und ziemlich ärmlich wirkten. Die Stimme schien aus der Mitte der Versammlung zu erklingen. Sie folgte ihr sofort, denn sie hatte etwas Verheißungsvolles an sich. Während sie sich durch die Masse an Körpern drängte – wobei sie jede Menge spöttische und sogar hasserfüllte Bemerkungen erntete –, hörte sie den Wörtern des noch unsichtbaren Sprechenden zu:
„… etwas noch nie Gesehenes und Erlebtes. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen versprochen, Ihre kostbare Zeit nicht zu vergeuden, und ich halte stets mein Wort.“ Da räusperte er sich. Nach viel Ellbogenarbeit gelangte Jeanne endlich zu der ersten Reihe und konnte sein pausbäckiges Gesicht mit den vor Kälte roten Wangen sehen.
„Hier und jetzt werden Sie Zeugen von den unglaublichen Fähigkeiten faszinierender Individuen, die in der Lage sind, fantastische, unbeschreibliche Handlungen durchzuführen.“

Jeanne war von der Art seiner Ausdrücke gefesselt. Sie war sich sicher, dass gleich etwas auf sie zukam, was ihren Lebensverlauf ändern würde. Sie wusste bloß noch nicht, inwiefern.
Da kamen sie zum Vorschein. Einer nach dem anderen traten sie aus dem vorderen Fuhrwerk hervor: ein schnurrbärtiger Mann, der dicke Ketten mit der bloßen Kraft seiner massiven Oberarm- und Brustmuskeln zerriss. Eine übernatürlich biegsame Frau, die bäuchlings liegend, mit ihren zierlichen Füßen einen roten Ball in den Nacken legen konnte. Und zuletzt ein Schwertschlucker, der erst einen Dolch und dann einen langen Degen in seiner Kehle verschwinden ließ, sodass nur noch der elfenbeinerne Griff aus seinem Mund hochragte. Indes hing sein Pferdeschwanz gerade herunter, als sei er zu der nun unsichtbaren Klinge geworden.

Der Sprecher, der allem Anschein nach auch der Patron der Truppe war, trat mit seinem kugelförmigen Körper wieder vor und bat ergebenst um Spenden, damit ihre Gruppe weiterbestehen könne. Die Artisten hatten sich aufgereiht und verbeugten sich mehrmals vor dem Publikum. Jeanne war begeistert, während die Menge nur wenige Centimes entbehrte und sich zusehends auflöste. Die Münzen prallten auf das Pflaster und erzeugten dabei ein leises Klirren, das von dem erneut entstandenen Stimmengewirr des Marktplatzes verschluckt wurde. Alle gingen weiter ihren Obliegenheiten nach und die magische Vorstellung war sofort vergessen. Die Künstler schienen nicht besonders enttäuscht zu sein. Es war eindeutig nicht das erste Mal, dass sie so ungeschätzt blieben. Was sie aber nicht ahnen konnten, war, dass sie ein junges Mädchen von einer düsteren Zukunft erlöst und ihm Hoffnung gegeben hatten.
Ohne eine Notiz von ihr genommen zu haben, verschwanden sie in demselben Gefährt.

Jeanne ging beiseite, setzte sich auf eine steinerne Treppenstufe der Kirche und wartete. Es war sehr kalt. Ihr Atem, eine winzige Wolke, stieg empor. Sie schlug die Arme um ihren Oberkörper, um sich zu wärmen, und drückte ihre bebenden Beine fest zusammen. Es half nichts. Sie musste aushalten.
Irgendwann wird es wieder warm, sagte sie sich und nickte überzeugt. Sie legte eine Entschlossenheit an den Tag, die man von einem so jungen Wesen nicht erwarten würde. Aber ihr psychisches Alter war weit fortgeschrittener als ihr physisches, wie es immer der Fall ist, wenn ein Kind frühzeitig und auf eine brutale Weise mit dem hässlichen Gesicht des Lebens konfrontiert wurde.
Und dann geschah es. Der Muskulöse entstieg dem Pferdewagen – er hatte einen dicken Pelzmantel um die breiten Schultern geworfen – und trug die Sachen, die sie beim Auftritt gebraucht hatten, in das kleinere Fuhrwerk, das dahinter stand. Dann setzte er sich an die Zügel. Der Patron erschien an den Zügeln des anderen Pferdes, setzte sich bequem hin und nahm sie in seine kleinen Hände. Langsam fuhren sie ab.

Jeanne lief ihnen nach und wartete auf einen günstigen Moment, um von Passanten ungesehen hineinzuklettern. Jetzt oder nie!, blitzte der Gedanke in ihrem schwirrenden Kopf. Schon befand sie sich zwischen einer Truhe aus Eichenholz, einigen Stapeln Kleidungsstücken und einem Korb mit Proviant. Sie hüllte sich in die Kleider. Es fühlte sich an wie in einem warmen Traum.
Ich hab’s gemacht, ich hab’s tatsächlich gemacht, bestätigte sie sich.
Sie bereute nicht, ihre wenigen Habseligkeiten zu Hause gelassen zu haben. Am liebsten hätte sie auch ihre Vergangenheit abgekappt und vergessen.
Nach einer Weile wagte sie, die Truhe aufzumachen. Bedächtig hob sie den schweren Deckel und schaute hinein. Die Truhe enthielt nur die Requisiten. Eine davon war der Degen des Schwertschluckers. Er war in ein blaues Satintuch eingewickelt. Sie holte ihn heraus, wickelte ihn aus und betrachtete sorgfältig seine Eigenschaften, während sie sein Gewicht auf ihren Handtellern wog.
Der Griff aus Elfenbein war wunderschön. Eine Rarität, deren Anfertigung an ein Wunder des menschlichen Könnens grenzte. Dann sah sie eine Inschrift entlang der Klinge eingraviert, die in einer ihr unbekannten Sprache verfasst war. Als sie mit ihrer Betrachtung fertig war, wickelte sie den Degen wieder ein und legte ihn zurück in die Truhe, deren Deckel sie beim Heruntersetzen etwas zu laut zuschlug. Ängstlich schaute sie zum Rücken des Fahrers. Zum Glück hatte er nichts gehört. Die samtene Berührung des Tuches blieb noch lange an ihren Fingerkuppen haften. Bald bekam sie riesigen Hunger. Im Proviantkorb befanden sich unter anderem zwei Tafeln dunkler Schokolade, die sie mit schlechtem Gewissen verzehrte.

Der Pfad wurde holperig. Sie befanden sich im Wald. Allmählich wurde ihr von dem ganzen Geholper unwohl im Magen. Ein Gefühl von Übelkeit bemächtigte sich ihrer, bis es nicht mehr zum Aushalten war. Sie beugte sich über das Holztürchen des Wagens und übergab sich reichlich, aber das Geräusch der rollenden Räder übertönte es. Erschöpft sank sie zurück und schlief tief ein. Als man sie entdeckte, waren sie bereits weit weg von Avignon. Sie sagte nur ihren Vornamen. Erstaunlicherweise wurde sie herzlich aufgenommen.
Sie hatte keine besonderen Talente, aber sie machte sich nützlich, indem sie bei allem Möglichen half.

In den folgenden Jahren lehrte der Schwertschlucker – sein Name war Pierre – sie gründlich seine Kunst. Nur eines gab er nicht preis, nämlich was die Inschrift an der Klinge bedeutete. Am Anfang musste sie mit dünnen, langen Karotten so viel üben, dass sie einen wunden Gaumen und Hals bekam, aber diese Übungen waren notwendig, um den Brechreiz unterdrücken zu können. Denn das war das A und O dieses Berufs. Ein Würgen im falschen Moment könnte die Speiseröhre aufschlitzen. Bald darauf war sie so weit, mit scharfen Gegenständen anzufangen. Sie wurde sehr gut darin.
„Du wirst mich eines Tages ersetzen“, sagte Pierre ihr voller Stolz. Dass dieser Tag so bald heranrücken würde, verschwieg er leider. Denn bei einem Bühnenauftritt – sie hatten sich mittlerweile hochgearbeitet – verletzte er sich lebensgefährlich. Sie konnte seinem letzten an sie gerichteten Blick ablesen, dass er es absichtlich gemacht hatte, würde sein Geheimnis aber nie verraten. Sie nickte ihm leicht zu. Er starb hinter den Kulissen mit einem zufriedenen Lächeln im faltigen Gesicht.
Das alles schien jetzt so lange her zu sein.
Zeit ist seltsam, dachte sie wehmütig.

Es bleibt spannend: Mit Teil 3 geht es ins Finale der Geschichte.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21128

 

 

 

 




Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil I

Jeanne hielt vor dem farbenfrohen Plakat an, das sie schon auswendig kannte. Gedanklich ging sie noch einmal die Künstlernamen durch:
Marie, „Das Puppengesicht“
„Goliath“, der stärkste Mann des Jahrtausends
Drillings-Akrobaten aus Mumbai
Lorette, die schmalste Taille der Welt
Esmeralda, die einbeinige Flamenco-Tänzerin aus dem sonnigen Spanien
Abdulwahab Hassen Adem Al Khaled, der Schlangenbeschwörer –
und noch viele mehr. Dazwischen war auch sie selbst: „Jeanne d’Arc“, die Schwertschluckerin.

Es war ihr Geburtstag, aber keiner wusste es. Sie hatte es niemandem gesagt. Sie verstand das große Aufheben um dieses Thema nicht. Was war schon dabei, geboren zu werden? Zwei Menschen verschiedenen Geschlechts kamen kurzzeitig zusammen, Frau wurde schwanger, trug das Kind im optimalen Fall neun Monate in ihrem Inneren herum und gebar es schließlich in die Welt, in die man nicht eingeladen wurde. Ihrer Ansicht nach gab es nichts zu beglückwünschen.
Ich bin der Beweis der Sünde meiner Eltern, dachte sie ohne jegliche Gemütsbewegung.
Es war Mitte Januar, für diese Jahreszeit war es erstaunlich warm. Sie trug eine dunkelbraune Nerzstola, ein schlichtes blutrotes Kleid und eine kleine weiße Handtasche, die sie in einem Ramschladen gekauft hatte. Von den eleganten Hütchen, Gesichtsschleiern, seidenen Abendhandschuhen und anderen angesagten Damen-Accessoires hielt sie im Gegensatz zu ihren Artgenossinnen nichts.

Langsam wurde es dunkler und allmählich leuchteten die Kohlenfadenlampen der Straßenlaternen mit einem leisen Surren auf. Sie mochte es zu beobachten, wie die Fäden in der Lampe sich anfangs glimmend erhitzten.
„Elektrizität.“ Dieses knisternde Wort ließ sie auf ihrer Zunge genüsslich zergehen.
Schon seit Jahren lebte sie in Paris, der Stadt ihrer Kindheitsträume. Sie war enttäuscht, denn sie hatte viel Elend und Unglück anderer beobachten können. Selbst hier, im vermeintlichen Zentrum des Universums. Sie hatte einen Mann in einem Rinnstein bewusstlos liegen sehen, befleckt von seinem eigenen rosafarbenen Erbrochenen, sie sah ein schmutziges, barfüßiges Kind sich unter die Räder einer vorbeifahrenden Kutsche werfen. Auf dem Pont Neuf sah sie ein Ehepaar heftig streiten und den Mann weggehen, während die Frau stehen blieb und sich ernsthaft überlegte, in die eiskalte Seine zu springen. Dann bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde und ging raschen Schrittes fort.

Tagtäglich erblickte sie ausgemergelte Hunde, die umherstreunten, in der immerwährenden Hoffnung, einen Bissen, ein kleines Zeichen der Liebe irgendwo in der großen Stadt zu finden. Überall wühlten ältere Menschen im Müll nach etwas Essbarem, ohne jegliche Aussicht auf die ersehnte Erlösung. Katzen mit verzweifelten Augen huschten stets umher, schlüpften in schmutzige Winkel und jagten nach ein bisschen Leben, das ihre abgemagerten Körperchen unentwegt verließ.
Jede Tonlage der seelischen und körperlichen Qual war ihr mittlerweile vertraut geworden.

Sie wusste, was für ein Glück sie hatte, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben. Aber es genügte ihr nicht, um selig zu sein.
Wie kann jemand sein Leben in vollen Zügen genießen, wenn er von so viel Not und Kummer umgeben ist?, fragte sie sich manchmal, aber nie fand sie eine Antwort darauf.
Jetzt hegte sie einen neuen Traum – Amerika. Selbst der Klang dieses Wortes erfüllte sie mit der Zuversicht, dass es einen Ort auf dieser Erde gibt, wo keiner leiden muss. Ein Paradies auf Erden. A-merika, Am-eri-ka, Am-erika, Ame-rika, Ameri-ka. Sie spielte damit, wie ein Kind mit einem Welpen spielt, einem Welpen, der groß und kräftig wachsen und das Kind mit seinem Leib beschützen wird.
In der Provence aufgewachsen, träumte sie öfter von der magischen Hauptstadt, die damals so fern und unerreichbar schien. Aber jetzt war sie ja da.
Ich kann alles, was jemand schon vor mir geschafft hat, sagte sie sich beruhigend.
Jede Gasse, jede Nebenstraße und jeden Durchgang kannte sie bereits. Sie hatte jede Ecke dieses Monstrums abspaziert, und es schien ihr nichts mehr anbieten zu können. Sie musste nur noch ein paar Monate ausharren, dann hätte sie genug Geld gespart, um auf einen Dampfer zu steigen und diesem verfaulten Kontinent ein Adieu ins schmutzige Gesicht zu werfen.

Sie hatte noch mehrere Stunden Zeit bis zu ihrem Auftritt. Mit ihrem männlichen Gang schlenderte sie durch das abendliche Montparnasse. Der Himmel tauchte die ganze Umgebung in ein sanftes Violett. Im Schaufenster einer neuen Gemäldegalerie las sie den ihr gut bekannten Namen: Vincent van Gogh. Daneben war sein Selbstporträt.
Dieser Mann war ihr stärkster Eindruck gewesen, als sie ein Neuankömmling in Paris war. Sie erinnerte sich sehr lebhaft an die Szene:
Es war auf der Rue d’Odessa. Ein rothaariger Mann mit rostfarbenen Bartstoppeln und einem entrückten Blick. Seine Hände ruhten in den Taschen einer abgetragenen Leinenhose. Sein Kopf war tief gesenkt, als ob er sich zwischen seinen schmächtigen Schultern verstecken wollte. Sie blieb stehen und schaute ihm nach. Zweifellos war er eine sonderbare Erscheinung. Plötzlich hörte sie jemanden seinen Namen rufen.
„Van Gogh, Sie haben Ihre Bilder vergessen!“ Ein älterer Mann im marineblauen Anzug lief ihm hinterher, ein Gemälde in jeder Hand.

Die Gestalt, deren Namen sie jetzt kannte, hielt an und drehte sich halb um. Sein Gesichtsausdruck vermittelte totale Müdigkeit und Lustlosigkeit gegenüber allem.
Ein Abgrund von einem Mann, hatte sich Jeanne sofort gedacht.
Der Mann im Anzug ging mit großen Schritten auf ihn zu und hielt ihm seine Gemälde hin. Aber Van Gogh schüttelte wortlos den Kopf.
„Nehmen Sie sie, ich habe Ihnen doch gesagt, ich kann nichts damit anfangen!“, sagte der Mann gereizt.
Van Gogh schaute zu ihm auf, denn er war fast einen Kopf kleiner.
„Ich auch nicht.“ Dann drehte er sich um und ging. Diese besondere Stimme mit ihrem entrückten Klang blieb für immer in Jeannes Gedächtnis haften. Es war wie ein leiser Schrei, der im Getöse und in kranker Betriebsamkeit des menschlichen Alltags so leicht überhört wird.
Der ältere Mann blieb einige Zeit stehen und schaute dem Gehenden nach, dann sah er sich beide Bilder an, murmelte etwas unzufrieden vor sich hin und ging resigniert zurück in seine Galerie.

Nach einigen Monaten hatte Jeanne den Galeristen aufgesucht, denn sie konnte keine Ruhe finden. Sie wollte unbedingt wissen, was aus Van Gogh geworden war. Sie betrat die Galerie mit einem Herzklopfen, als ob ihr eigenes Schicksal davon abhinge. Von dem Galeristen erfuhr sie, dass Van Gogh sich kürzlich das Leben genommen hatte.
„Ich hoffe sehr für ihn, dass es keine Hölle gibt. Er hat hier genug gelitten“, sagte der Mann voller Reue. Aber was änderte das schon für den Verkannten …
„Und die Gemälde, was haben Sie damit gemacht?“, fragte Jeanne schockiert.
Der Mann schaute ihr mit seinen wässrigen, hellblauen Augen tief in die Seele hinein.
„Sie sind fort, ich habe sie sofort entsorgt.“ Er ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Dabei haben sie schon einen großen Wert. Ich möchte gar nicht daran denken, was sie nach Jahren kosten werden.“ Das war es also, was ihn am meisten bedrückte, sein Gewinnverlust!
Jeanne verließ wütend das Gebäude und verlor sich in der Menschenmenge.

Vor seinem Selbstporträt stehend, fing sie an, verachtungsvoll zu lachen, über all jene, die sein Talent nicht rechtzeitig erkannt hatten und zu spät begannen, ihn zu vergöttern.

Es dauerte Jahre, bis sie mit der Truppe in diese „Festung“ namens Paris hineinkutschierte, denn der Patron wartete zögernd auf die richtige Aufstellung. Er wollte mit seinen außergewöhnlichen Figuren die Herzen der Bewohner dieser Stadt, vor der er große Ehrfurcht hegte, schlagartig erobern. Erst als er endlich mit der Konstellation zufrieden war und genug Mut und Überzeugung aufbrachte, gab er halb scherzhaft den Befehl: „Auf zum euch gebührenden Ruhm, meine Krieger!“
Bis dahin waren sie viel durchs Land gereist. Bourgogne, Normandie, Bretagne. Sie durfte anf den Stränden von Cannes und Nizza spazieren und ihre vergänglichen Fußabdrücke in den Sand zeichnen. Sie aß im Hafen von Le Havre Brötchen mit Matjesfilet und Zwiebelringen, während wie verrückt gewordene Möwen sie kreischend angriffen.

Nur ihren Heimatort, Avignon, aus dem sie zuvor geflüchtet war, besuchten sie nie wieder. Sogar jetzt wusste sie nicht, ob es nur ein Zufall war oder es sich zwischen ihr und dem Patron um eine unausgesprochene Vereinbarung handelte. Aber sie war ihm für die Ersparnis dieses Ärgernisses sehr dankbar, denn sie hätte auf gar keinen Fall dahin zurückkehren wollen. Nicht mal als eine junge erwachsene Frau, die durch die Welt reiste, neue Freunde und Weggefährten gefunden hatte, die sie ohne Zweifel bis zum Letzten beschützen würden. Sie fürchtete, sie hätte selbst den zufälligen Anblick ihres Peinigers nicht ertragen können, sich vor ihm wieder wie ein machtloses Kind gefühlt und wäre vor Schmerz vergangen. Dies alles blieb ihr erspart.

Sie erinnerte sich öfters ihrer Flucht und musste voller Selbstzufriedenheit schmunzeln. Es war ein großer und richtiger Schritt gewesen, um die Herrin ihres eigenen Lebens zu werden, um das sie sonst vollständig beraubt wäre. Ein Teil davon war sogar für immer fort. Sie wollte den Rest retten und tat es auch.

In Teil 2 der Geschichte erfahren Sie, wie es weiterging.

Giorgi Ghambashidze

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Guten Appetit, ihr Ratten - Teil II

„Wo ist die Liebe?“

Ich stand im kalten Treppenhaus und wartete, bis Linda die Tür aufmachte. Dann, als es endlich passierte, schlug ich ihr während unseres Gesprächs vor, zusammenzusein, aber sie schlug es aus.
Du lebst nicht!
Sie war kalt wie ein Fisch, anscheinend war ich pervers, weil ich sie liebte.
Ihr Gesicht war ganz blass, und ich fragte sie, was mit ihr los war.
„Ich habe meine Tage“, sagte sie ohne jegliche Scheu.
Sie sah mich nicht wie einen Mann an. Ihre Augen wie zwei Eisberge, und noch mehr Kälte in deren Tiefe. Mit Verachtung lachte ich über mich, weil ich so verzweifelt war, zu ihr zu kommen.
Ich wollte von ihrem Balkon springen oder sie runterschmeißen. Vielleicht würde sie auch mit mir springen wollen? Aber da sie mit mir nicht leben wollte, würde sie auf keinen Fall mit mir sterben wollen.
Diese Welt ist zu kalt, dass Liebe wachsen und blühen kann.

Einmal ging ich alleine zum Mittagsbuffet im Chinesischen Restaurant. Bevor ich meine Wohnung verließ, bildete ich mir ein, dass ich riesige Willenskräfte hatte, größer als das Haus, und als ich das Restaurant betrat, glaubte ich, dass ich seine Wände mit meiner persönlichen Energie zerstören könnte, aber plötzlich bemerkte ich, dass fast an allen Tischen schöne Mädchen saßen, die vermutlich zu einer Modelagentur gehörten. Nur in einer Ecke sah ich einen älteren Mann mit einer Zeitung. Weder war er an den Mädchen noch sie an ihm interessiert. Sie folgten mir mit ihren Blicken, und ich spürte, wie meine Kräfte wie ein müder Pimmel zusammenschrumpften. Kaum konnte ich einen Tisch in der anderen Ecke erreichen. Ich sah den Mann an, der mir mit seinem warmen Lächeln verständnisvoll zunickte. Er hatte schon die Ängste der Jugend durchlaufen.

Ich saß in der Ecke, wie eine gefangene Ratte, und wurde von der Existenz der Mädchen immer mehr unterdrückt. Dann musste ich unbedingt auf die Toilette. Ich machte Schritte, hatte aber den Eindruck, dass ich an der selben Stelle stehen blieb, wie in einem Albtraum. So schlabbrig waren meine Beine.
Mit kaltem Wasser wusch ich mir mein Gesicht und schaute mir mein bleiches Spiegelbild an. Der Typ im Spiegel tat mir leid, er war schwach, bedauernswert, ekelerregend.
Ich versuchte, mir wieder einzubilden, dass ich stark und allmächtig wäre. Tatsächlich verspürte ich die Energiewelle wieder, allerdings war sie mit dem Tsunami, mit dem ich meine Wohnung verlassen und alles auf meinem Weg verwüstet hatte, nicht zu vergleichen.

Ich nahm einen Teller und machte ihn mit verschiedenen Gerichten voll, aber als ich zu meinem Tisch kam, hatte ich ein Kloßgefühl in meinem Hals. Der Mann mit der Zeitung schaute mich besorgt an. Ich warf mich auf den Stuhl und versuchte mich zu zwingen, etwas zu essen, aber es wollte nicht runter. Ich fühlte mich wie eine Kuh, die immer wieder das Essen zerkaute.
Ich schaute die Mädchen absichtlich nicht an, trotzdem spürte ich ab und zu ihre Blicke.
Auf einmal wurde mir ganz übel, und mit aller Kraft rannte ich aus dem Gebäude, verfolgt von der chinesischen Kellnerin, die mit lustigem Akzent schrie.
„Bezahlen, bezahlen!“
Und das Schlimmste daran war das kollektive Lachen, das ich beim Flüchten hörte.

Ich habe das alles deswegen erzählt, weil ich das selbe Ritual vollbrachte, bevor ich heute rauskam, und mich jetzt wieder wie ein NICHTS fühlte.
Früher mochte ich keine belebten Orte, aber bei einigen Menschen ging es mir komfortabel. Heutzutage fiel es mir schon schwer, mich mit einem zu unterhalten. Wenn es so weitergeht, werde ich mich selbst beim Alleinesein als einer zu viel betrachten.
Ich verließ die Frau für immer und schweifte auf den Straßen rum, dabei versuchte ich mich an etwas zu erinnern, was mir keine Ruhe ließ.
Ich fand keine Liebe in den Menschen, deswegen suchte ich sie in Gegenständen, indem ich sie berührte. Verkehrsschilder und Laternen waren eisig, Bäume dagegen viel freundlicher.

Mein Vater dachte immer ans Geld. Er kaufte die Wohnung auf Kredit und jeden Monat sagte er, wieviel noch abzubezahlen wäre. Er verteilte sein ganzes Leben auf Raten. Immer diese gesichtslosen, schrecklichen Ziffern.
Vermutlich hatten er und meine Mutter absolut trockenen Sex. Mein Vater hatte vielleicht den Eindruck, dass er mit einem Schleifpapier kopulierte, und meine Mutter dachte wahrscheinlich, dass es gleich sei, ob sie mit ihm oder mit einer Luftpumpe schlief. Beide sind gleich tot, und ich wohne jetzt alleine in der Wohnung, in der sie so unglücklich waren.
Die Seelen im Gefrierfach.

Ich kannte einen Mann, der Frauen nie ins Gesicht schaute, stattdessen hatte er nur ihre Beine, Pos und Brüste im Kopf, deswegen war er immer alleine, weil das Gesicht der Mensch ist, aber er bevorzugte das Fleisch, das nicht lieben kann.
Eine Frau fragte mich:
„Willst du mein Sklave werden?“
Ich lutschte die Brüste einer Frau zu lange, und sie fragte mich:
„Hältst du mich etwa für deine Mutter?“
Sex – ein gescheiterter Versuch, in verlorene Sorglosigkeit zurückzukehren.

Ich hatte ein sehr niedliches Mädel und ich sagte zu ihr.
„Ich liebe es, wenn du mich mit deinen Lippen anlächelst.“
„Mit welchen?“
„Allen!“
Am Ende ging sie trotzdem, wie alle. Ich weiß nicht warum, sie vermutlich auch nicht. Da ist eine Kraft in der Luft, die uns auseinanderbringt. Moleküle der Zeit. Liebkosung des Todes zerstört alles in dieser Welt.

Mein Verhalten erschien den Leuten auf der Straße merkwürdig, und jetzt laufe ich weg von dem großen Polizisten. Ich laufe nicht, weil ich schuldig bin, sondern weil ich es möchte. Ich laufe fort von Menschen, die einander nicht zuhören und nicht sehen, von Menschen, die nicht wissen, was sie aus ihrem Leben machen wollen. Ich laufe fort von mir, der Angst hat, sich zu bewegen, um etwas zu ändern, der Angst hat, laut zu atmen, um damit nicht jemanden zu stören, von mir, der von seiner Vergangenheit gequält, von der Gegenwart verwirrt und von der Zukunft erschreckt wird, von mir, der von den sinnlosen Träumen verfolgt wird oder der nicht genug Verstand besitzt, die verborgene Botschaft darin zu verstehen. Ich laufe fort von Fehlern, aus denen ich keine Lehre rausholen konnte, wobei ich mich weiterhin täusche, dass ich sie nie wieder begehen werde. Ich laufe weg von dem Nachbarn, der mich anlächelt, aber dem ich in Wirklichkeit egal bin, weg von der Dunkelheit, in der ich mich früher so gerne aufhielt.
Ich laufe schnell, und mir entgegenwehender Wind befreit mich stückweise von meiner alten Haut, die wie Herbstblätter langsam und in Kreisen auf den kalten Asphalt abfällt, und ich fühle mich wie Gott, der in allen Dingen und gleichzeitig frei ist.

Diese Straße, dieser Polizist, diese Geräusche, dieser Duft aus der Bäckerei, das alles bin ich, und auch mehr. In Wirklichkeit gehöre ich woandershin, ich bin nur auf der Durchreise hier, ein Gast für eine Weile, für einige Jahre, die wie Sekunden vergehen. Ich bin gekommen, um mir diese Absurdität anzusehen, um mich über diesen Schwachsinn, der sich in den Mantel der Wahrheit gekleidet hat, zu Tode zu lachen.
Ich strecke meine Arme zur Seite und laufe so. Von der Seite muss ich lächerlich aussehen. Ich sehe mich mit den Augen der Katze, die auf der Fensterbank sitzt und mich mit ihrem allessehenden Blick erstaunt anschaut. Ich sehe mich mit den Augen der alten Frau, die auf der Gartenbank sitzt und die Tauben mit dem trockenen Brot füttert, das sie vorhin selbst mit dem Tee zu essen versucht hatte, wobei fast ihre Zahnprothese zerbrochen wäre. Ich sehe mich mit den Augen des Polizisten, und ich muss von hinten noch lustiger aussehen, als ob ich kein Gesicht hätte. Zuletzt sehe ich mich mit den Augen der Krähe, die mich bemitleidet, weil sie weiß, dass ich nie fliegen werde – nie?

Alles ist ganz schnell geschehen. Entweder habe ich die Bremsen gehört oder ich habe mir danach eingebildet, sie gehört zu haben. Die Tatsache ist, dass ich von einem Auto angefahren wurde, und jetzt liege ich auf der Erde ganz alleine. Ich spüre überhaupt nichts, und ich denke, dass es ein schlechtes Zeichen ist. Ich betrachte die Welt aus der Sicht eines Wurmes. Vor Kurzem war ich wie der Schöpfer, aber jetzt hat sich meine echte Essenz enthüllt.
Ich erinnere mich, wie einer meiner Lehrer mir von einem überfahrenen und von Menschen umzingelten Hund erzählte, den er gesehen hatte. Es gibt keine größere Einsamkeit, dachte mein Lehrer, zu sterben, während um dich herum Müßiggänger wie Fliegen kreisen, denen es gleichgültig ist, was mit dir passiert. Sie sind woanders, in ihrer boshaftigen Freude, ihr Tag ist gelungen, weil sie jemanden sterben sehen konnten, und sie kehren glücklich nach Hause zurück mit dem Gedanken, dass sie immer noch atmen. Es ist egal, dass sie nichts daraus machen, Hauptsache, sie atmen und verpesten die Luft.
Hoffentlich werde ich nicht so umzingelt. Ich ziehe vor, alleine zu bleiben, für mich in Ruhe.
Die Autofahrerin ist eine sehr hübsche, junge Frau.
Sie ist so wunderschön und gütig, sie würde mich bestimmt lieben. Sie ist wie eine vergessene Melodie, Duft aus der Kindheit, Erinnerung an einen warmen Traum.
Ich entferne mich von ihr, als ob ich in eine unendliche Tiefe fallen würde, aber mit der Hoffnung, dass ich sie im nächsten Leben treffen und erkennen werde.

Ich war mit der Vorlesung fertig, aber mein Kollege schwieg.
„Na, was sagst du, hat sie dir gefallen?“
„Es gibt keine Achse, alles ist irgendwie oberflächlich und flüchtig erzählt. Allerdings denke ich, dass es etwas Großartiges werden kann. Du kannst über dieses Thema ein ganzes Buch schreiben. Es ist doch das ewige Problem der Menschheit. Die Kälte der Einsamkeit. Dafür musst du aber der Sache auf den Grund gehen, und das erfordert sowohl eine gewisse Lebenserfahrung als auch das Feingefühl zum Detail.“
Ich hörte ihm zu und wollte den Aschenbecher nach ihm schmeißen.
„Was verstehst du schon davon? Bist du etwa ein Literaturkritiker?“
„Warum bist du so sauer, du musst doch für konstruktive Kritik offen sein, nur so wirst du besser.“
Ich wollte nichts mehr hören, ich wollte weinen, und ich saß da und guckte mir die bunten Blätter der Bäume an und wusste überhaupt nicht, warum sie sich im Herbst so färbten. Trotzdem genoss ich ihre Schönheit, die mich beruhigte.

„Und warum springst du so hin und her von Perfekt zu Präteritum?“
Jetzt war er schon ein Grammatiklehrer, aber ich würdigte ihn keiner Antwort.
Nach einer Weile erzählte er mir von einem Jungen, der in England lebte und sein ganzes Leben lang die Menschen um sich herum vergiftete. Zuerst waren es seine Eltern und dann, als er „rehabilitiert“ und wieder auf freiem Fuß war, seine Kollegen.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie viel Hass in ihm von Anfang an stecken musste oder woher dieser kam. Woher kommen unsere Gefühle überhaupt, und was sind sie? Sind sie echt? Gehören sie uns, oder werden sie uns einfach von jemandem ohne unsere Erlaubnis angehängt?
Mein lieber Kollege merkte mir die Nachdenklichkeit an.
„An was denkst du?“
„An nichts, an ein unendliches, überall vorhandenes und alles umfassendes Nichts!“

Die sinnlosen Tage liefen an mir vorbei wie Bilder in einem Schnellzug-Fenster, bis ich eines Abends todmüde nach Hause kam und von meiner weinenden Mutter erfuhr, dass mein bester Freund, Sohn ihrer besten Freundin aus der Heimat, wegen eines Mädchens erstochen worden war.
Wir besuchten die Familie jedes Jahr, sie uns ein paarmal. Bei unseren Reisen blieb mein Vater immer zuhause. Er verließ Deutschland nicht so gern, er hatte eine gewisse Nervosität.
Mein bester Freund war ein Sportler, und er hatte immer gute Laune. Er war wirklich ein toller Kerl. Die Ferne war überhaupt kein Hindernis für unsere Freundschaft.
Ich stellte mir vor, wie ich seinen Mörder, der jetzt auf der Flucht war, fand und umbrachte. Ich war sehr zornig, und mein Zorn wuchs wegen meiner Machtlosigkeit.
Mein Hirn wiederholte ständig: ES GIBT IHN NICHT MEHR!

Am nächsten Tag musste ich wieder arbeiten, aber ich wollte nicht, dass jemand mir meine Traurigkeit, die so persönlich wie Genitalien sind, anmerkte, deswegen war es doppelt schwer für mich. Ich bin kein Exhibitionist. Ich versuchte, nicht an meinen armen Kumpel zu denken, ich schob ihn in die Peripherie meiner Gedanken und fühlte mich deswegen wie ein Verräter.
Ich putzte schon die Spülmaschine, als mein Kollege mir zwei Teller brachte, auf denen vor Kurzem Rumpsteaks gelegen hatten, und mir überzeugend erklärte, warum ich sie über Nacht nicht so lassen durfte. Also musste ich die bereits zum Glänzen gebrachte Maschine wieder benutzen und erneut putzen, aber bevor ich sie anmachte, sagte mein lieber Kollege:
„Ich hab dich verarscht, lass sie ruhig.“
Ich habe meine Prinzipien und wusch trotzdem ab.
Allerdings bei der zweiten Putzerei, während ich zur Hälfte in der geöffneten Maschine war, war ich so sauer, dass ich mir meinen Kopf gegen eine Kante stieß und er blutete. Wie immer ließ ich mein Problem unbemerkt bleiben und ging leise.

Während des Schlafens konnte ich meinem Kumpel nicht mehr weglaufen. Ich war in seiner Welt.
Ich versuchte ihn verzweifelt anzurufen, aber es gab keinen Summton, und als ich den Hörer auflegte und schon die Hoffnung auf die Verbindung völlig verloren hatte, fing das Telefon an zu leuchten. Ich nahm den Hörer ab und hörte ihn glücklich lachen, wie er es immer tat, und da wurde ich auch überglücklich, weil ich seine Stimme so vermisst hatte. Es war ein Wunder, ihn wieder hören zu können, und dafür war ich sehr dankbar, ich weiß nicht wem, einfach dankbar. Nachdem er sich satt gelacht hatte, fragte er mich mitfühlend:
„Wolltest du mich anrufen?“
„Ja, und wie.“
„Ich weiß, aber ich habe jetzt eine andere Nummer.“ Dann schwieg er.
„Wie lautet sie?“ Aber die Verbindung war zu Ende.

Ich wachte mit großen Schmerzen in der Brust auf, weil ich wusste, dass es nur ein Traum gewesen war und ich mit ihm nie wieder sprechen würde. Mit seinem Tod war auch ein Teil von mir gestorben, ein Teil, der in seinen Erinnerungen an mich existierte, ein Teil von mir, den nur er kannte.
Warum sind wir dem Tode geweiht? Warum?
Zu allem Überfluss stritten sich meine Eltern wieder – Gott sei Dank, dass ich gleich schuften durfte, weg von denen, einfach weg.
Mein Kopf war total blockiert, ich arbeitete maschinell, wie ein Roboter, ich verlor mich, ich war nirgends und nie.

Der Arbeitstag war vollendet, und bevor ich ging, fügte ich ziemlich viel Rattengift in die Suppeneimer, die für die morgige große Veranstaltung vorbereitet wurden.
Ich ging raus und stieg auf mein Fahrrad auf, um durch die frostige deutsche Nacht zu gleiten, dabei fand ich es sehr schade, dass die Bretzings meine Kreation nicht kosten durften.

2017

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee | Inventarnummer: 19062




Guten Appetit, ihr Ratten - Teil I

Heute stritten sich meine Eltern wieder. Mein Vater stand, wie immer, mit dem Sabber im Mund, und beschimpfte meine Mutter, die sich, wie immer, nervend beweinte. Dabei war das ein Theaterstück, das ich mir leider öfter ansehen durfte. Sie stritten sich nie, wenn ich nicht zu Hause war. Sie brauchten einen Zuschauer, und diese ätzende Rolle hatte ich bekommen, ohne dass mich jemand gefragt hätte. Ich musste bloß schweigend dasitzen, oder -stehen, oder -liegen, kurz gesagt, einfach da sein, um alles mitzukriegen. Die beiden wollten mir eine Botschaft übermitteln, dass sie nämlich unglücklich waren, und ich wusste nach wie vor nicht, was ich damit anfangen sollte. Es war nicht meine Schuld, ich hatte in meinem Leben genug Fehler gemacht, aber dass ich in diese Familie geboren wurde, war keiner davon. Ich meine doch, aber nicht meiner. Darüber wurde ich vorher auch nicht informiert, zack in den dunklen Sack, und da war ich.

Es gab immer das selbe Muster, wie ihr Streit anfing. Zuerst provozierte meine Mutter meinen Vater – komisch, wenn ich sie so nenne, weil ich überhaupt keine seelische Verbindung zu ihnen verspüre. Die sind nur zwei Menschen, die mich mit ihren Problemen ständig belästigen, und ich kann nicht weglaufen. Ich brauche mein Bett, um zu schlafen, so sentimental bin ich nun mal.
Also meine Mutter wollte das Mittagessen kochen, und nahm zwei Packungen Putenfleisch aus dem Kühlschrank. Und als sie die aufmachte, wurde die Luft im Raum verpestet. Es roch schrecklich, ich dachte schon, dass ich mich übergeben müsste, so intensiv roch es nach dem Gammel. Selbst mein Vater, der sein hässlisches Gesicht im Badezimmer rasierte, witterte es sofort und kam mit dem Rasierschaum im Gesicht zu uns.
„Wer ist da gestorben?“
Eure Träume, wollte ich ihm antworten, schwieg aber lieber.
„Ist das unser Mittagessen?“, fragte er.
Meine Mutter nickte ganz blöd, nach ihrer persönlichen Art. Anders konnte sie nicht, das war die Form ihrer Existenz.
„Schmeiß es sofort weg!“
„Warum?“, fragte meine Mutter.
„Warum?!“, wiederholte mein Vater erstaunt.

Ich wollte lachen, aber blieb ruhig, ich konnte mich kontrollieren, und zwar sehr gut – ich blieb zumindest äußerlich kühl.
„Weil es wie ein Kadaver riecht, darum!“
Das ist es auch, hätte ich am liebsten gesagt.
„Ich denke, dass es noch essbar ist.“ Sagte meine „Mami“ und probierte ein Stück rohes, gammeliges Fleisch.
Mein Vater war schockiert. Jedenfalls spielte er den Schockierten, obwohl es mir unglaubwürdig schien, dass man sein ganzes Leben von ein und demselben Ding schockiert werden kann, aber er war schon in seiner Rolle, also es ging bereits los.
„Du Idiotin, schaust mich wie eine Ziege an, hörst du nicht, was ich sage? Schmeiß das weg, habe ich gesagt. Verstehst du denn nach so vielen Jahren immer noch kein Deutsch?“ Sie war eine Ausländerin.
„Doch.“
„Warum hast du das dann getan?“
„Weil es schade wäre.“
„Es ist kein Essen mehr du Idiotin, du Kaukasische Ziege, dein Platz ist an einer Klippe, nicht hier in meiner europäischen Küche, du, duuu, ich weiß nicht, was du bist, aber ich wünsche dir, dass du dich vergiftest und verreckst.“

Da fing meine Mutter an zu weinen, und ich ging zum Fenster, um rauszuschauen, aber da war nichts, nur eine leere, kalte Straße. Von diesen negativen Schwingungen wurde mir übel. Ich hatte einen ziemlich empfindlichen Magen. Das war schon immer so, aber ich wollte nicht, dass jemand es mir anmerkte. Ich schwörte, dass ich mich rächen würde.
Mein Vater beschimpfte sie noch gute zehn Minuten, und ich spürte schwarze Galle, die von der Decke und den Wänden runtertropfte. Alles war so verschmutzt und eklig. Wie konnte das Glück in einer Wohnung wie dieser überleben?
Ich wollte woanders sein, mit anderen Menschen, egal mit wem, aber nicht mit denen da, die mein Leben zerstörten. Das dürften sie eigentlich nicht, keiner darf das, besonders die Eltern nicht. Ich wollte von ihren Sado-Maso-Spielchen nichts mehr wissen, sie sollten mich einfach in Ruhe lassen.

Wenn ich eine Freundin hätte, würde ich zu ihr ziehen, aber ich hatte keine. Nach der Zankerei meiner Eltern war ich so gestresst, dass ich oft masturbierte, um mich ein wenig zu entspannen, aber es half mir nur kurz, danach fühlte ich mich noch schlimmer. Diesmal tat ich es nicht, ich blieb Gewinner des Tages, und so fing mein zweiwöchiger Urlaub an.
Ich hatte vor Kurzem eine Beschäftigung in einem Restaurant angenommen, die mich ziemlich kaputt machte. Einmal schälte ich die Äpfel und wurde gehetzt, infolgedessen ich meinen halben Nagel abschälte und mein Finger blutete. Ich musste dann den ganzen Arbeitstag Latexhandschuhe tragen, ansonsten tat es beim Geschirrabwasch höllisch weh, aber es half nicht ganz. Beim Blechabwasch gelangte das fettige, heiße Wasser trotzdem in die Wunde, deswegen musste ich immer wieder neues Pflaster draufkleben.
Als ich endlich nach Hause fahren durfte und mich im Umkleideraum befand, roch meine Hand wie Plastik. Außerdem hatte ich ständige Muskel- und Rückenschmerzen. Meine Füße taten vom vielen Stehen weh, und mein großer Zeh wurde dauernd taub.

Einer meiner Kollegen sah schon wie ein Untoter aus. Er arbeitete da seit einem Jahr, hatte einen vielversprechenden Buckel, ein grünes Gesicht und er war ganz schmächtig. Ich machte mir wirklich Sorgen um ihn. Selbst wenn wir den ganzen Tag zusammen arbeiteten, tat er in den Pausen nichts außer zu rauchen oder Kaffee zu trinken, er aß überhaupt nicht. Im Gegensatz zu ihm fühlte ich mich wie ein unersättliches Schwein, weil ich mich richtig und möglichst regelmäßig ernährte.
Der Chef war davon nicht ganz begeistert, aber wir hatten eine Abmachung. Er war eine Nummer für sich. Ein meistens ruhiger Psychopath. Einmal warf er sogar mit Pfannen um sich. Danach wurde mir klar, dass vom Herd kommende Hitze so etwas bewirken kann.
Sehr oft beendete er seinen Auftritt mit folgenden Worten:
„Mach es richtig, sonst muss ich dich aufhängen!“
„Keine Folie im Essen, sonst bist du tot!“
„Kein Haar in der Suppe, sonst stirbst du!“
„Und zwar schnell, sonst war es das mit dir!“
„Mach nichts kaputt, sonst mach ich dich!“
Ich lächelte ihn an und dachte gleichzeitig an was völlig anderes, aber das wusste er nicht. Seine irren Augen schimmerten glücklich wegen etwas mir Unbekanntem, was mir egal war.

Er konnte zum Beispiel von etwas Uninteressantem ziemlich lange und wortreich erzählen und einen dann aufmerksam anschauen, als ob er Beifall oder totale Zustimmung erwartete. Seine Frau, meine Chefin, kam oft in die Küche, und sie flüsterten irgendwelche versauten Sachen, ich konnte nichts hören, spürte es aber in der Luft. Manchmal umarmte er sie und presste ihre Hinterbacke mit seiner dicken und kräftigen Hand ganz fest. Sie war eine Sadistin, die mich immer wieder alle Teller polieren ließ, dabei sagte sie,
„Du musst meine Teller wie ‚Ladies‘ behandeln, und sie ohne Gummi betasten, dann wirst du spüren, was ich meine.“

Meine freien Tage verbrachte ich im Schlaf und hatte Albträume, in denen ich unendliche Mengen Teller abwusch. Ab und zu zuckte ich in der Nacht, was ich vorher nie getan hatte. Noch eine Sache bedrückte mich schwer. Vor dem Urlaub hätte ich Rattengift verteilen müssen, was ich aber aufgrund meiner buddhistischen Weltanschauung nicht gemacht hatte, und jetzt hatte ich Angst, dass er es erfuhr. Deswegen entschied ich, das nach dem Urlaub als Erstes zu tun. Zwischen mir und den Ratten wählte ich mich aus.
Mein Chef hatte noch ein großes Haus in der Nähe der Stadt, wo ich der Gärtner war. Er brachte mich mit seinem Wagen dahin und verließ mich dort, ohne das Haus aufzuschließen. Im Falle der Notwendigkeit erleichterte ich mich im Gebüsch. Das Haus war riesig, wie das Feld, auf dem ich mit einem alten, roten Trecker den Rasen mähen musste, und zwar stundenlang, alleine, vielleicht beobachtet von Geistern, die sich im leeren Haus zu Tode langweilten. Ich hoffte es zumindest.
Eigentlich hatte er zwei Felder. Eines war frei, und es war viel leichter, auf dem zu arbeiten, aber das andere war voll von Apfel-, und Birnenbäumen, und ich musste da ziemlich vorsichtig sein, wenn ich keinen Schlag von einem Ast ins Gesicht abkriegen wollte.

Während ich mit dem Trecker die Muttererde im Kreis rasierte, dachte ich viel über den Sinn des Lebens, über Gott, meinen Platz in dieser Welt und den Tod nach, also alles, an was man so denkt, wenn man ganz alleine ist oder sich so fühlt, aber meine Gedanken drehten sich auch im Kreis, und es schien mir keinen Ausweg und keine Antwort zu geben.
Das letzte Mal, als ich dort war, regnete es stark, aber der Chef hielt es für lebenswichtig, dass ich den Rasen an dem grauen und nassen Tag mähte und brachte mich trotzdem dahin. Als Schutz gab er mir seine alten Jacken, die mir zu groß waren und die ich ständig umziehen musste, so schnell wurden sie durchgenässt.
Außerdem gab er mir blaue Müllsäcke, die ich wie ein Kondom überziehen sollte, und das tat ich auch, aber ich wurde trotzdem immer wieder nass. Dabei verlangte er noch, dass ich jede Ecke mit dem Rasentrimmer vom Unkraut befreie und das gereifte Obst vom Boden sammle. Am Ende pflückte ich etwa zwanzig Kisten Äpfel, aus denen er später Saft machte, wovon aber ich keinen Schluck probieren durfte.

Als er mich abholte, fragte er mich, wie es war.
„Nass“, antwortete ich ihm ganz kurz und deutlich.
„Ich hätte nie gedacht, dass du es so gut schaffst“, sagte er und schaute zufrieden um uns herum, während ich da ganz nass stand und nicht zu zittern versuchte. Danach brachte er mich ins Restaurant, wo ich trotz meiner nassen Klamotten noch eine Weile arbeiten durfte. Meine Kollegen waren empört, sie schüttelten den Kopf, aber es half mir überhaupt nicht – ganz im Gegenteil, ich mochte es nicht, wenn ich jemandem leid tat.
Nach drei Tagen fingen mein Urlaub und die Halzschmerzen an. In der ersten Woche war ich sehr krank und hatte keine Kräfte mehr. Ich dachte schon, dass er sein Versprechen so erfüllt hätte und es mit mir schon gelaufen wäre.
Meine Mutter schnitt eine Zwiebel, verstreute darauf Zucker und übergoss sie mit Honig. Die entstandene Flüssigkeit sollte ich vor dem Schlafen mit dem Esslöffel einnehmen, aber sie war so klebrig, dass ich kaum noch schlucken konnte, und es ließ mich einfach nicht einschlafen. Außerdem versuchte ich durch die Nase zu atmen, was in meinem Zustand unmöglich war. Ich stellte mir vor, dass mich jemand erwürgte, und musste mich im Bett aufsetzen. Ich hatte Panikattacken.

Bei der Arbeit durften wir den Namen Bretzing nicht erwähnen, weil diese Familie uns immer Schwierigkeiten machte. Zum Beispiel reservierten sie den Tisch nie früher als für 20 Uhr und hatten immer Verspätung, außerdem kamen ein paar mehr Bretzings als angemeldet, ich weiß nicht, wo sie die unterwegs aufgabelten, dann bevor sie ihre Drei-Gänge-Menüs bestellten, tranken sie zuerst unbedingt ihren Kaffee, und wenn es endlich mit dem Essen so weit war, verlangten sie längere Pausen zwischen den Gängen. Beim Hauptgang wollten sie stets den Nachservice haben, und zwar den kompletten, und es war noch nie vorgekommen, dass sie einen Cent Trinkgeld gegeben hatten.
Alle meine Kollegen hassten sie unbegrenzt, und ich auch, ohne sie je gesehen zu haben.
Ich musste mehrere Male am Mittagsbuffet als „Buffettante“, so nannte es mein Chef, stehen. Diese Aufgabe mochte ich sehr, weil ich dafür eine weiße Kochjacke und eine lange Schürze kriegte. In dem Outfit sah ich wie ein Karatemeister aus.
„Siehst wie ein Mensch aus“, sagte der Chef.
„Ja“, stimmte ich ihm zu, „endlich.“
Er nickte ganz befriedigt.

Beim Ausgeben des Essens musste ich immer lächeln und bekam Krämpfe im Gesicht. Die Menschen, die zum Buffet kamen, waren sehr verschieden. Manche waren mit allem zufrieden, manche wollten reden, manche wussten selber nicht, was sie essen mochten, manche wollten hören, dass ich sie bei uns gerne wiedersehen würde, wobei das überhaupt nicht stimmte, und manche waren einfach so pingelig, dass ich Verlangen spürte, sie mit der Kelle auf den Kopf zu schlagen.
Eine Frau, die von mir ein paar mehr Kroketten bekam, sagte mir sogar, dass ich wüsste, wie man eine Frau glücklich macht, und dieser Satz war mir besonders wichtig, weil ihn Linda auch hören konnte.

Linda war eine sehr große, schlanke und schöne Kellnerin, die ab und zu auch modelte. Sie hatte lange Beine, und ihre runden Hüften waren auf meiner Brusthöhe. Ich wollte unter ihren schwarzen Rock kriechen und mich da für immer verstecken. Ich wollte ihre Kniescheiben küssen, und an ihren Waden knabbern. Ich wollte ihre glatte Haut lecken und ihre Schenkel streicheln.
An dem Tag stand sie auch am Buffet neben mir, und ich konnte ihren Duft riechen. Sie roch immer sooo gut. Einmal fragte ich sie sogar, welches Parfum sie benutzte.
„Keins, es ist mein Natural“, sagte sie auf Englisch.
Später verstand ich, dass es ihre Haare waren.
Manchmal pfiff sie wie ein Kerl, zeigte gerne den Stinkerfinger und leckte Sahne von ihm.
Einst, als wir das Brot für die Gäste zusammen schnitten, fragte ich sie.
„Wollen wir etwas zusammen unternehmen?“
Sie sah mich einige Sekunden schweigend von oben an, und mir wurde irgendwie ungemütlich in meiner Haut.
„Was schwebt dir denn da vor?“, fragte sie mich.
„Wir könnten zum Beispiel beim Italiener Eis essen, ich lade dich ein.“
„Das hört sich zwar gut an, aber ich weiß nicht, wie ich das zeitlich schaffe.“
„Dann sag mir Bescheid, wenn du es kannst.“

Sie nickte und ging. Und ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Oh, wenn sie bloß gewusst hätte, dass ich ein weltberühmter Schriftsteller sein würde, der als Sklave der Gastronomie seine Erfahrungen sammelte.
Sie sah mich nicht, sie hatte einfach keine Ahnung, was für eine reiche Welt ich in mir trug, und es tat wirklich weh. Ich dachte, dass ich solche Empfindungen schon seit Jahren überwunden hätte, aber sie waren schon wieder da, und es gefiel mir ganz und gar nicht.
Ich musste ständig an Linda denken, selbst in einem Traum waren wir zusammen, und als ich aufwachte, hatte ich das Gefühl, dass es wirklich geschehen war. Dann erinnerte ich mich an meine echten Beziehungen und konnte sie von meinem Traum nicht unterscheiden.
Mein Verlangen nach ihr wurde unerträglich, und als ich sie beim Besteckpolieren sah, ging ich schnell auf sie zu und umarmte sie von hinten. Sie beschwerte sich beim Chef, und er rief mich zu sich ins Büro.
„Was machst du hier?“
„Arbeiten, nehme ich an.“
Ich sah mir die Wanduhr hinter ihm an. Ich könnte jetzt eigentlich mein Abendbrot vernaschen.
„Und was sollte deine heutige Aktion?“
„Ein Aussetzer, nehme ich an.“
„Ganz genau, und wenn sowas nochmal passiert, dann …“
Ich ließ ihn nicht ausreden.
„Dann bin ich geliefert“, er erstarrte, “nehme ich an“, beendete ich meinen Satz.
Eine Weile sah er mich so an, dann lächelte er zufrieden. Anscheinend, weil ich seine Denkweise gut verstand.

Wir alle wünschen bloß, von unseren Mitmenschen verstanden zu werden.
Einmal sagte er zu mir, dass er sein Leben wegen der Hektik, in der er war, nicht genießen könne, und er tat mir leid, aber wenn er beim Tellereinrichten seine Finger gründlich leckte, hasste ich ihn und hörte auf, das Personalessen zu mir zu nehmen. Es war ein nobles Lokal, aber ich schätze, dass man da trotzdem was Falsches verzehren konnte.
Er erzählte mir noch, dass er und seine Frau früher ziemlich viel Alkohol getrunken hatten, und es gab die Zeit, als sie dachten, dass sie es nicht mehr schaffen würden. Seitdem waren sie trocken, aber mir war es egal, ich hatte einen sehr schwierigen Arbeitstag und wollte nur nach Hause.
Während der zweiten Urlaubswoche schrieb ich eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Wo ist die Liebe?“, die ich Linda widmete, aber davon durfte keiner erfahren. Ich las sie meinem Arbeitskollegen in der Mittagspause vor.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee | Inventarnummer: 19061




Das Mädchen ist fort - Teil III

Das andauernde Hupen weckte ihn auf und machte ihn wütend. Er war bereit, den Besitzer des Autos mit Blumentöpfen zu bewerfen. Selbst der ruhigste Mensch würde die Beherrschung verlieren, wenn er so aufgeweckt wird.
Saba ballte seine Fäuste und schlug das Bett mehrmals, dadurch ließ er die Wut raus, und er wollte niemanden mehr umbringen.

Die Augen machte er prinzipiell nicht auf. Der Straßenlärm machte ihm klar, dass der neue Tag angefangen hatte, der für viele Menschen der letzte sein würde. Er versuchte wieder einzuschlafen, aber ohne Erfolg. Schließlich gab er seine Prinzipien auf, und sobald er die Augen aufmachte, sah er den mit gelben Buchstaben geschriebenen Namen an der Zimmerdecke. Am Anfang konnte er nicht verstehen, woher die Buchstaben kamen. Er rieb sich die Augen, und der Name verschwand. Um sich zu vergewissern, wiederholte er: „Katharine Ross, Katharine Ross, Katharine Ross …“

Er fuhr zum Filmverleih und holte sich alle Filme mit ihr.
Man kann vieles über einen Menschen erfahren, wenn man weiß, was ihm gefällt oder gefallen hat. Saba war bereit, mit allen Mitteln diese Information über Elene herauszufinden, und er hatte nicht viele Möglichkeiten dazu.
Die Verkäuferin lächelte ihn an, aber Saba bemerkte es nicht. Er hatte nur eine Sache im Kopf, er hatte nur einen Menschen im Kopf, um es richtiger auszudrücken. Plötzlich hatte er ein Déjà-vu.

Er guckte die Filme, ohne zu blinzeln. Katharine gefiel ihm am meisten in der Rolle, in der sie die Freundin von Dustin Hoffman darstellte. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen mit großer Aufmerksamkeit, und manche Szenen spulte er zurück, um ihre Schönheit nochmal zu genießen. Elene ähnelte ihr tatsächlich. Als Katharine im Film weinte, krümmte sich Sabas Herz und er versuchte, sie von der anderen Seite des Bildschirms zu beruhigen.
Er prägte sich jede Szene ein, aber in ihm kam der Durst, den er nur im Gespräch mit Elenes Mutter stillen konnte, wieder hervor. Saba war wie ein Abhängiger geworden, der versteht, dass er sich falsch benimmt, aber sich trotzdem nicht aufhalten kann, weil er keinen Willen mehr besitzt.

Er verbrachte den ganzen Tag vor dem Haupteingang, wo er auf die Frau wartete. Es fing an zu dämmern. Der Winter ist für die Depression wohl geeignet. Mit der Dämmerung stieg der Frost auf. Saba konnte nicht mehr regungslos sein, und er fing an, hin- und herzulaufen, wie ein Wächter, der etwas Wertvolles beschützt, allerdings war die Lage ein bisschen anders. Der Wächter bewacht den Schatz, der einem anderen gehört, und was Saba bewachte, gehörte nur ihm.
Er fror umsonst. Bevor er in den Wagen einstieg, erleichterte er seine Blase unter einem kleinen, dunklen Bogengang.

Er stellte sich zu Hause unter die heiße Dusche. Das beinahe kochende Wasser wusch die Anspannung ab. Im Badezimmer erschien Elene. Saba bemerkte sie am Anfang nicht, dann drehte er sich um, ließ die Duschbrause fallen und versteckte seine Genitalien. Elene lächelte. Saba fing an zu zittern, ging in die Hocke und fragte ganz leise.
„Wie lange bist du schon hier?“
„Das weißt du besser.“
Ihr nettes, kindisches Lächeln beruhigte ihn ein wenig.
„Kannst du dich bitte eine Sekunde umdrehen?“
Elene nickte ihm zu und drehte sich um, aber sie drehte sich im nächsten Augenblick wieder zurück. Saba war aufgestanden, und von der Plötzlichkeit wäre er fast gefallen. Elene lachte kurz und drehte sich nochmal um. Saba stellte die Dusche ab, wickelte sich in ein Badetuch und stieg aus der Duschkabine.

Elene konnte nicht ruhig stehen. Sie wartete nicht gern. In diesem Alter kocht das Blut in den Adern und lässt einem keine Ruhe. Saba las ihre Gedanken und sagte:
„Du darfst dich umdrehen.“ Er hatte kaum den Satz beendet, als Elene sich schon ganz umgedreht hatte und ihn mit funkelnden Augen anschaute. Saba konnte diesen Blick nicht ertragen und starrte das Shampoo an, danach fragte er:
„Wieso bist du gekommen?“
Elene berührte sein Gesicht und drehte seinen Kopf zu sich.
„Weil du mich gerufen hast.“
Saba stellte ihr viele Fragen, aber keine ihrer Antworten sagte ihm mehr, als er bereits wusste. Er bemerkte nicht, wie er einschlief. Als er am Morgen aufwachte, war Elene spurlos verschwunden.

An diesem Tag fühlte er sich besonders durcheinander. Die Realität, die er ohnehin nicht ganz wahrnahm, schien jetzt noch ferner und obskurer zu sein.
Er wusste nicht mehr, was Tatsache, und was Erfindung war, oder worin die Stabilität der Tatsache und die Verlogenheit der Erfindung lag.
Lange guckte er in die Tasse voller Kaffee. Der steigende Dampf wurde dünner, und letztlich verschwand er. Er trank die fast kalt gewordene Flüssigkeit mit großen Schlucken aus und ächzte, aber es war kein befreiender, erleichternder Seufzer. Er offenbarte bloß die Ermüdung und die Erwartung von zukünftigen Schwierigkeiten.

Er parkte den Wagen direkt vor dem Eingang, drehte die Musik im Radio auf volle Lautstärke, und mit der musikalischen Begleitung verfolgte er die Verwirklichung seines Plans weiter.
Er beobachtete sorgfältig alle Frauen, die aus dem Haus kamen, aber jedes Mal wurde er enttäuscht. Gleichzeitig ließ der Krampf im Hals nach. Er war wie ein Patient, der weiß, dass ihm eine unangenehme, aber notwendige Prozedur bevorsteht, dem dennoch jede gewonnene Minute illusorische Linderung verleiht.
Eine in Schwarz gekleidete Frau erschien und ging mit ruhigen Schritten die Straße entlang. Saba erkannte sie sofort, aber er saß weiter unbeweglich und spürte, wie sein Gesicht blass wurde. Die ganze gesammelte Bereitwilligkeit verdunstete in nur einer Sekunde, und ihr Platz wurde von der Lust des Fliehens eingenommen, aber Saba gab nicht auf. In ihm fing wieder der Kampf zwischen der Angst und dem Willen an. Schließlich gewann der Wille, und mit seiner Gesichtsfarbe kehrte sein Mut zurück.

Er stieg blitzschnell aus und holte die Frau ein. Es blieben ein paar Meter zwischen ihnen, als Saba sie hochachtungsvoll und gleichzeitig hörbar rief:
„Entschuldigen Sie.“
Die Frau blieb stehen, und in wenigen Sekunden drehte sie sich mit dem apathischen Gesichtsausdruck zu dem verwirrten Saba um. Ihre dunklen Augen mit den Ringen darunter konnten in seine Seele hineinsehen. Saba ertrug diese Stille nicht.
„Verzeihen Sie mir, ich weiß, dass ich mich sehr unkorrekt verhalte. Wahrscheinlich verdiene ich auch, gescholten zu werden, aber ich bin mir sicher, wenn Sie mir zuhören, dann werden Sie verstehen, dass in meiner Handlung nichts Übles liegt, sondern im Gegenteil, ich werde nur von guten Motiven bewegt.“

Die Frau stand schweigend da und hörte zu.
„Ich kannte Ihre Tochter nicht, und es macht mich wahnsinnig.“ Das Gesicht der Frau zuckte leicht.
„Aber ich möchte, dass Sie Folgendes wissen. Zwar bin ich nicht Ihr Vertrauter, aber es tut mir unendlich leid, was passiert ist. Noch mehr, ich habe das Gefühl, als ob ich mich verspätet und etwas sehr Wichtiges in meinem Leben verpasst hätte. Ich kann spüren, dass zwischen mir und ihr eine starke, geistige Verbindung entstanden ist.“ Saba hörte kurz mit dem Reden auf, dann fügte er ganz leise hinzu:
„Vielleicht erschien sie deswegen gestern bei mir.“

Nach diesen Worten begann ihr starres Gesicht sich schnell zu ändern. In ihm trat zuerst Ekel, dann Zorn auf, und sie schrie.
„Was fällt dir ein, du kranker Mensch? Verschwinde, sofort!“ Ihre strenge Stimme fing an, von drückenden Tränen zu zittern. Sie weinte auf offener Straße. Die Passanten hielten und glotzten die beiden an.
Saba versuchte sich ihr anzunähern, aber sie sagte strikt:
„Halt!“ Sie suchte nach einem Taschentuch.
Saba erinnerte sich, dass die ganze Packung in seinem Auto lag, und er lief schweigend, um sie zu holen. Von hinten hörte er einen Mann schreien: „Lasst ihn nicht los!“

Saba drehte sich um und sah auf ihn zu rennende Menschen. Er hatte die Wahl. Sich ins Auto zu setzen und fliehen, womit er ihre unklare Anschuldigung an sich bestätigen würde, oder sich mit dem ruhigen, unschuldigen Gesicht seinem Schicksal zu stellen. Er hatte keine Angst mehr. Er stand und wartete auf die wütende, verständnislose Masse, der er keineswegs seine bizarre, aber reine Liebe erklären konnte.
Etwa zehn Menschen hatten sein Fahrzeug umzingelt. Ein schmutzig gekleideter, dicker Mann mittleren Alters war besonders aktiv. Er stellte sich vor Saba, griff ihm in den Nacken und fragte.
„Was hast du angestellt?“
„Nichts“, antwortete er ruhig.
Der Mann kniff eines seiner Augen zu und starrte Saba wie ein erfahrener Psychologe an.
„Warum weint dieses Fräulein dann?“
„Ich hab nichts Schlimmes getan.“

Die Schaulustigen glotzten aus den Fenstern. Der Mann wollte noch etwas fragen, aber man hörte die Polizeisirene. Alle Anwesenden schauten in deren Richtung. Als Saba den Streifenwagen sah, dachte er: ‚Jetzt sind sie sofort an Ort, und Stelle, aber wenn man vergewaltigt, ausgeraubt oder abgeschlachtet wird, dann gähnen sie und stopfen sich mit den Backwaren aus, wie die Kühe mit dem Gras.‘
Der Mann schaute Saba nochmal ins Gesicht, und befriedigt sagte er: „Jetzt kriegst du Ärger.“
Die Polizisten stiegen aus, wie Helden. Einer ging zu der Frau, und der andere zu Saba. Saba stand kurz vor der Verhaftung, aber er spürte gar keine Angst, und der Grund war nur ihm bekannt.

Auf dieser Welt existiert immer noch ein Gefühl, das stärker ist als das Übel. Es ist egal, ob du dieses Gefühl für eine lebende Person oder für schon Verstorbene empfindest. Derjenige, der über dieses Gefühl verfügt, wird dadurch stärker als all die anderen, denn es trägt die größte Kraft in sich. Die meisten Menschen haben diese Empfindung vergessen, und sie sterben, ohne zu wissen, wie es mal war zu leben.
Saba hatte es seit seiner Kindheit in seinem Herzen, und weder chirurgische Instrumente noch irgendwelche fortgeschrittenen Medikamente wären imstande, es aus ihm auszutreiben.

Er sah die verweinte Frau an, die zwanzig Meter entfernt stand und dem Polizisten etwas erzählte. Plötzlich trafen sich ihre Augen. Die Frau hörte auf zu reden und sah ihn ununterbrochen an. Der Polizist, der zu ihm gekommen war, stellte ihm eine Frage, deren Inhalt oder Objekt für ihn unklar blieb, weil er nichts mehr vernahm. Viele Informationen wurden zwischen ihm und ihr mit dem Blick ausgetauscht. Danach sagte sie etwas zu dem Polizisten, ohne ihn anzusehen. Der unzufriedene Polizist kam mit langsamem Gang zu der schaulustigen Masse, stellte sich zu seinem Kollegen, und offenbar enttäuscht sagte er.
„Er ist ihr Verwandter.“
Der dicke und agile Mann rief aus:
„Ich hab gesehen, wie sie sich stritten, ihr habt es auch gesehen, oder?“, fragte er die anderen, und sie nickten ihm zu. Damit ähnelten sie den Marionetten, die gleich aussehen.
Saba konnte nicht verstehen, wie es sein konnte, dass all diese unterschiedlichen Menschen wegen eines Dranges zu einem Mechanismus wurden, der so ungerecht und verheerend arbeitete.
Der Polizist konnte die von dem Mann erwähnte Tatsache nicht als Delikt verwenden.
„Verwandte haben manchmal auch Konflikte.“

Beide Personen in ihren Uniformen drehten sich um und gingen zum blinkenden Wagen. Die Menschen lösten sich wie in der Hand angesammeltes Wasser auf. Die, die aus den Fenstern glotzten, hatten es auch verstanden, dass es nichts geben würde, wofür es sich lohnte, in der kaum erwärmten Wohnung zu erfrieren, und alle Fenster wurden synchron geschlossen.

Saba dachte, dass er während dieses ganzen Vorfalls nicht geatmet hatte. Langsam ging er zu der Frau, die auf ihn wartete. Saba hielt für alle Fälle Abstand und blieb ein paar Meter von ihr entfernt stehen, dann schaute er um sich herum, um zu wissen, ob jemand sie beobachtete.
„Danke“, sagte er leise.
Die Frau nickte ihm zu und wollte schon gehen, aber Saba sprach weiter.
„Einen Augenblick bitte.“ Mit den Worten kam der Dampf raus und verbreitete sich wie der Schall im Raum.
Die Frau hielt an und drehte sich verwundert um.
„Sagen Sie mir bitte, welche Blume sie am liebsten hatte?“
„Lilie“, sagte sie und ging.
Saba wiederholte es für sich und ging zu seinem Auto.

Es blieb wenig Zeit bis Silvester. Es herrschte ein schreckliches Getümmel in der Stadt. Überall waren bunte Geschäfte und lächelnde Menschen, die nichts um sich her außer diese grellen Farben bemerkten. Dieser geschmacklose, künstliche Regenbogen tat Sabas Augen weh. Sehr wohl sah er den Kontrast, den zwischen diesen geschmückten und auf das sinnlose Fest wartenden Menschen vorhandene düstere Personen erzeugten, die anstatt grundlosen Glücks tiefe Traurigkeit und Kummer erregten. Saba versuchte zu verstehen, woran diese Menschen dachten. Er wollte wenigstens fünf Minuten mit ihren Gedanken leben. Er stand und saugte ihre Apathie ein, wie eine Mücke das Blut.

Eigentlich ist es so, dass, wenn man an etwas leidet, man für das Leiden anderer Menschen empfindsamer wird, und dadurch vertieft man sein eigenes Leiden. Die Folge kann zweiseitig sein. Entweder man analysiert es und bekommt die Erlösung, oder diese Gedanken werden noch chaotischer und der psychische Zustand verschlimmert sich.
Saba dachte nicht an die Folgen und las unendliche Demütigung, Enttäuschung und Hunger ab. Am Ende kriegte er einen Schwächeanfall und ging zu seinem Wagen, der ihm als Unterkunft dienen sollte.

Der 31. Dezember endete. Das neue Jahr war geboren, das sich von den anderen genauso wenig unterschied wie die neugeborenen Kinder.
Saba traf es mit seinem liebsten Menschen. Er umarmte Elene und küsste sie zum ersten Mal. Alle feierten dieses Ereignis.
Im Zimmer duftete es nach Vanille, und für Saba, der vom Champagner ein wenig beschwipst war, kreiselte die ganze Welt sehr schnell, und er selbst erstarrte wie eine Statue, umarmt von dem schönsten Mädchen.
Als er aufwachte, war er schon wieder allein und er wusste nicht was wirklich, passiert war und wovon er geträumt hatte.
Er sah aus dem Fenster. Die Straße hatte ihre Stimme verloren, und man konnte nur die schwere Stille hören.
Morgen würde Saba zwei Menschen besuchen.

„Geben Sie mir bitte alle Lilien, die Sie haben“, sagte er zu der Blumenhändlerin.
Während sie die Blumen aus den Eimern nahm und die Wassertropfen abschüttelte, tauchte in Sabas Gedächtnis ein wichtiges Detail auf. Die Lieblingsblume seiner Mutter war auch die Lilie. Wie konnte er sich daran nicht erinnern, als Elenes Mutter sie erwähnte … In letzter Zeit träumte er ständig nur von Elene, deswegen gab es keinen Platz für die Mutter in seinen Gedanken. Er ließ sie in die Peripherie seines Sinns, woher sie ihn wahrscheinlich genau mit dieser Einzelheit an sich zu erinnern versuchte, und das war ihr endlich gelungen.
Am Friedhof lief er an Elenes bildlosem Grab schnell vorbei und ging direkt zu seiner Mutter. Er sprach lange mit ihr und schwor, dass so was nie mehr vorkommen würde, dabei fühlte er, wie schwierig es sein würde, seinen Schwur zu halten. Gleichzeitig verstand er, dass er verpflichtet war, es zu tun.
Die meisten Lilien ließ er bei der Mutter, und nach allerlei Entschuldigungen spürte er Erleichterung. Mit ruhigen Schritten und reinem Herzen ging er zu seinem Mädchen und legte die verbliebenen Lilien nieder.

Elene erschien neben ihm und bat ihn, sie loszulassen. Saba ging, ohne sie anzusehen, und jeder Schritt fiel ihm leichter. Am Auto angekommen, erlebte er die Freiheit, aber sie ähnelte der Freiheit des Häftlings nicht, wovon er seit vielen Jahren träumte, ganz und gar nicht! Dies war eine unerwartete Freiheit, denn Saba befand sich seit Kurzem nicht mehr als Gefangener in seinen Gedanken.
Er schaute den Friedhof noch einmal an, den er in der Zukunft öfter mal besuchen würde, aber das unsichtbare, unaussprechliche Gefühl verband ihn nicht mehr mit diesem Ort.
OKA-001 kehrte in die Stadt der Lebenden zurück, und sein Besitzer wurde zu einem von ihnen.

Der Mann schaut einen Grabstein an, von dem ein junges Mädchen ihr letztes Lächeln der jenseits gebliebenen Welt unendlich schenkt. Der Mann legt eine weiße Lilie auf die schwarze Erde und lächelt. Er hat Falten um die Augen. Er hält noch eine Lilie in seiner Hand und langsam geht er in die Tiefe des Friedhofs, wo er von seiner Mutter, die für immer ein Mädchen bleibt, erwartet wird.

2014

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 18165




Das Mädchen ist fort - Teil II

Die Sonne hatte noch nicht vor aufzugehen. Die Stadt war leer. Unterwegs traf er nur ein Auto, dessen Besitzer, anscheinend betrunken von einem Restaurantbesuch, zu schnell nach Hause fuhr. Saba bemerkte ihn im Rückspiegel und wich ihm aus. Er hatte keine Zeit für einen Autounfall. Er parkte vor dem Haupteingang, aber das massive, schwarze Tor war mit einem Schloss verriegelt. Er dachte nach. Die Autoheizung arbeitete laut und blies ihm die heiße Luft ins Gesicht. Es fing an zu dämmern. Er stieg aus und ging zum Tor, dann vergewisserte er sich, dass ihn niemand beobachtete, und kletterte hinüber. Beim Runterspringen verfing sich seine Jacke und zerriss. Er schaute die verwundete Jacke, in der die Federn wie Blut zu sehen waren, unzufrieden an und ging weiter.

Auf Elenes Grab waren viele Blumen verstreut. Da lag auch ihr Foto im Rahmen. Das Mädchen auf dem Foto sah glücklich aus. Es hat noch sein ganzes Leben vor sich, hätte man denken können. Saba erinnerte sich sofort an seine Mutter, die ganz in der Nähe lag. Neben Elene war noch jemand begraben. Auf dem Grabstein stand Elisabed Gurgenidze 1938-2006.
‚Anscheinend ihre Großmutter‘, dachte Saba und flüsterte: „Und, wie hießest du?“
Er kam zum Grab von der Seite heran, beugte sich und hob das Foto auf, dessen Glas die Morgendämmerung reflektierte und Sabas Gesicht beleuchtete. Saba atmete beschwerlich aus und streichelte Elenes Gesicht mit dem Finger. In der Stille erklangen die Krähen, und er ließ fast das Foto fallen. Er suchte nach den Krähen, aber fand keine, dann legte er das Foto zurück und ging zu seiner Mutter, um ihr alles zu erzählen.
Sie hörte ihm aufmerksam zu und bewertete seine Empfindungen positiv. Das ließ ihn beruhigt nach Hause gehen.

Der Sonntag war gekommen. Saba zitterte wegen der Schlaflosigkeit. Er schlüpfte unter die Decke und schlief sofort ein.
Er stand zum zweiten Mal an dem Tag auf, schaute in den Spiegel und wunderte sich, denn seine Augen hatten sich verändert. Sie waren dunkler geworden und ein neuer Glanz trat von innen nach außen.
Solche Augen dringen sehr leicht in die Seelen anderer Menschen hinein, weil ihr Besitzer die Tiefe seiner Seele erreicht und durchlebt hat.
Die Veränderung gefiel ihm. Endlich konnten die anderen sehen, was er wirklich fühlte. Sie mussten es verstehen, aber wenn nicht, dann wenigstens spüren, dass nichts in diesem Leben oberflächlich und leicht sei.
Er legte den niederländischen Käse auf das Brot und schob es in den Backofen. Der Käse schmolz, und Saba genoss es. Heute musste er den Verwalter des Friedhofs treffen.

Der Verwalter stellte sich als älterer Mann mit vom Tabak verfärbtem Schnurrbart heraus. Er empfing Saba sehr herzlich, denn er dachte, dass Saba jemanden zu bestatten hatte, aber sobald er verstand, dass der junge Mann aus einem anderen Grund hier war, wurde er kalt. Saba ignorierte es und fragte nach dem Namen des gestern begrabenen Mädchens. Der Verwalter sah ihn argwöhnisch an, dann schlug er sein Notizbuch unzufrieden auf und murmelte nach kurzer Zeit.
„Elene Pataraia, 17 Jahre alt.“ Dann machte er das Notizbuch grob zu und schmiss es auf den Tisch.
Saba bedankte sich und verließ eilig das Verwaltungsgebäude.
Ein davorstehender Bettler bat ihn um nichts.
Saba saß lange in seinem Auto mit beschlagenen Scheiben und fuhr nicht los.
„Elene Pataraia, wie jung bist du von uns gegangen!“
Um ihn herum kamen und gingen die Leute.
Der Mensch stirbt nicht, er stirbt nur für die anderen.

Er stieg aus dem Wagen aus und ging wieder zum Verwalter. Seine erste Reaktion war wieder Unzufriedenheit, aber plötzlich erschien Mitleid in seinem Gesicht. Fürsorglich fragte er.
„Was ist passiert, mein Junge?“
„Ich bitte Sie, geben Sie mir die Telefonnummer ihrer Eltern.“
Der Mann tat es unverzüglich.
Saba wählte die Nummer nervös in einer Telefonzelle. Erst beim siebten Summton nahm eine Frau mit heiserer Stimme ab.
„Allo.“
Saba wagte es nicht, was zu sagen, und legte den Hörer langsam auf. Er wusste seit dem Tod seiner Mutter, dass die Angehörigen am neunten Tag nach der Bestattung zum Grab gehen, und entschied sich, auf diesen Tag zu warten. Bis dahin schloss er sich in seiner Wohnung ein.

Er erinnerte sich an das Leben in Deutschland und roch den Duft der Bäckereien. Er lächelte warm, wenn er an seine Tante dachte. Er würde ihr bis zum Ende seines Lebens für ihre Fürsorge dankbar sein. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihre Schwester alleine ließ, um ihr Wohlergehen einzurichten. Irgendwie stimmte es auch. Saba konnte in ihrem Blick Gewissensbisse sehen. Er erinnerte sich an seine Freundin Emma: ‚Wahrscheinlich trifft sie sich schon mit einem anderen, aber was sollte sie noch tun? Ich hoffe, sie wird glücklich sein.‘

Endlich war der Tag gekommen. Saba rasierte sich, zog sich elegant an und verließ die Wohnung. Das Tageslicht tat seinen Augen weh und er erreichte schwerlich seinen Wagen. Der Motor wollte nach der einwöchigen Pause nicht anspringen. Nach vielen Versuchen belebte Saba den Wagen wieder. Die Musik fing an zu spielen, und Saba schloss sich dem Stadtleben an, falls man so zum Friedhof fahren nennen kann.
Er wartete lange, bis er Elenes Angehörige sah. Er beobachtete sie aus der Ferne, dann entschied er sich, ihnen näher zu kommen, um zu hören, worüber die Trauernden sprachen.

Nebenan war ein Grab von einem alten Mann. Saba hockte sich vor das Grab und zog eine traurige Miene. Obwohl er den Mann namens Genadi, der seit 25 Jahren tot war, nicht kannte, konnte er dort sehr deutlich die Worte, die Elenes Mutter sprach, hören. Darin war so viel Schmerz, dass er beinahe anfing zu weinen. Er bemerkte eine auf dem Tannenast sitzende Krähe, die wie er lauschte.
„Sie wollte seit ihrer Kindheit eine Schauspielerin werden. Katharine Ross war ihr größtes Vorbild. Vielleicht, weil sie ihr so ähnlich sah. Seht, wie sie lächelt, als ob sie vor einer Kamera steht.“ Die Frau hörte auf zu reden, dann küsste und umarmte sie das Porträt.

Nach einer längeren Pause fing der Junge, den Saba für Elenes Bruder hielt, an zu reden an:
„Sie benahm sich immer so, als ob sie die Heldin eines Films wäre. Jedes ihrer Worte und jede ihrer Bewegungen war vollkommen.“
Nach dem Jungen fügte ihre Freundin hinzu:
„Sie spielte, aber dabei blieb sie ehrlich.“
Saba stellte sich die lebendige Elene, die energiegeladen und heiter war, vor, aber ihre Energie erschöpfte die anderen Menschen nicht, wie es üblich ist, sondern im Gegenteil, sie bewirkte Lebensfreude in ihnen.
Wer das Leben liebt, der liebt auch die Bewegung, weil das Leben selbst die Bewegung ist. Wenn wir uns regungslos stellen, womit werden wir uns dann von den Toten unterscheiden?

Saba spürte den Blick eines Mädchens, das ihn achtsam beobachtete, als ob sie genau wüsste, dass er täuschte. Saba fing an laut zu sprechen.
„Wieso hattest du es so eilig, Gena? Du hättest uns noch so viel erzählen können!“
Alle außer Elenes Mutter drehten den Kopf zu ihm. Saba verstand, dass seine Lage sich damit noch verschlimmerte. Er stand sofort auf und ging weg.
Beim Laufen versuchte er die Ruhe zu bewahren, um die entstandene Vermutung nicht zu bestätigen, aber seine Füße gehorchen nicht und liefen von allein.
Während er im Auto saß, sah er Elenes Mutter, die in ihren Händen das Porträt hielt. Seine erste Reaktion war die Reue, denn er dachte daran, das Bild zu stehlen, aber er schmiss diese unaufrichtige Idee sofort aus dem Sinn und fing an, Elenes Bildnis zu absorbieren. Wie ein durstiger Mensch saugte er unersättlich alle Einzelheiten ihres Gesichts auf, das bald verschwinden würde. Er schloss seine Augen, und es erschien ihm ganz deutlich aus der Dunkelheit, und nichts konnte es aus seinem Gedächtnis mehr löschen.

Saba wartete im Wagen, bis alles vorbei war, dann verfolgte er den schwarzen Geländewagen und merkte, dass sein Benehmen merkwürdig war. Einige Male wollte er den Wagen wenden, aber die Notwendigkeit einer solchen Handlung kam immer wieder zurück, und er fuhr weiter, obwohl er keine Ahnung hatte, was genau er verfolgte und was er zu tun hatte. Er folgte einfach seinem Trieb.
Der Geländewagen hielt an und in der Nähe von ihm OKA-001. Die Tür ging auf. Elenes Mutter stieg aus dem Wagen aus und ging in den Haupteingang eines fünfstöckigen Hauses. Der Geländewagen fuhr los und Saba folgte ihm wieder, dabei konnte er nicht verstehen, wieso der Fahrer nicht mit der Mutter ins Haus gegangen war. In diesem Moment ließ er die Möglichkeit zu, dass der Fahrer nicht ihr Sohn und folglich kein Bruder von Elene war. Wer war er dann?

Saba hatte neue Fragen und er war bereit, dem Wagen, in dem die Antwort saß, in die Hölle zu folgen, um sie zu kriegen.
Der Junge fing an, sehr schnell und gefährlich zu fahren. Anscheinend wollte er auch ins Jenseits.
In der Wirklichkeit verstand Saba sehr gut, wem er folgte, aber nur der Gedanke daran, dass Elene einen Freund hatte, schmerzte ihn. Abgesehen davon, dass er sich wie ein Verrückter benahm, tauchten bei ihm auch die Anzeichen vom Egoismus auf. Etwas veränderte ihn. Er fühlte es, aber er versuchte es nicht zu bekämpfen, denn es hatte keinen Sinn.

Von Mtatsminda[1] eröffnete sich eine wunderschöne Aussicht auf die Stadt. Saba war seit vielen Jahren hier nicht mehr gewesen, aber für die Aussicht hatte er keine Zeit.
Er hielt direkt hinter dem geparkten Wagen an und entschied rücksichtslos, zum Jungen zu gehen, der immer noch im Wagen saß. Offensichtlich dachte er an dieselbe Person wie Saba. Das war das Einzige, was sie gemeinsam hatten. Gleichzeitig beneidete Saba diesen Jungen, denn er hatte Elene angefasst, geküsst und sie zum Schluss lebend betrachtet.

Saba stellte sich neben den Jungen, nur die Autoscheibe trennte sie. Am Anfang bemerkte der Junge ihn nicht. Saba wartete nicht lange und klopfte an die Scheibe. Der Junge erhob schnell seinen Kopf und schaute ihn verwirrt an, danach drehte er das Fenster runter.
„Du warst doch am Friedhof?“
Saba beantwortete seine Frage mit einer anderen Frage.
„Hat sie dich geliebt?“
Der schockierte Junge stieg aus. „Was?“
Saba machte dreist weiter: „Sag mir, wie sie war. Sag mir alles, was du über sie weißt!“
„Wie kannst du es wagen? Wer bist du überhaupt?“, erhob der Junge seine Stimme.
In diesem Moment bogen vier Jungs um die Ecke und kamen zum Wagen. Einer von denen rief aus.
„Alles in Ordnung, Rezi?“
Der Junge wiederholte seine Frage an Saba: „Wer bist du?“
Saba wandte seinen Blick vom Quartett an Rezi, der schon ziemlich sauer war. Saba verstand, dass er es übertrieben hatte, aber es gab keinen Weg zurück, und er packte Rezi am Kragen.
„Hat sie dich geliebt?“

In seinem Auto kam er zu sich, und er hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Das Letzte, an was er sich erinnern konnte, war ein starker Schlag ins Gesicht und das Augenbrennen.
‚So was geschieht, wenn du gegen fünf kämpfst‘, dachte er und versuchte, den Kopf zu erheben. Die Jacke war vom Nasenbluten verschmiert. Er schmeckte den bitteren Geschmack des Blutes und versuchte, ihn runterzuschlucken, aber der blieb fest im Hals. Ringsum war niemand. Er wusste nicht, wie lange er in diesem Zustand gewesen war.
Wenn wir nichts zu verlieren haben, gewinnen wir auch nichts.

Zu Hause brachte eine Eiskompresse seiner Nase die normale Form zurück, obwohl sie vor dem Schlag auch nicht vollkommen gewesen war. Saba saß im Sessel und versuchte, sich an den Namen der Schauspielerin zu erinnern, die erwähnt worden war. Er schloss die Augen und bildete sich ein, dass die Dunkelheit eine Leinwand wäre, auf der der Name stehen würde. Er spannte seinen Verstand mehr und mehr an, bevor der Kopf begann, schrecklich weh zu tun. Um sich von diesem Schmerz zu befreien, floh er in einen tiefen Schlaf, den wir nach großem Stress als kleine Entschädigung bekommen, wie ein kleines, bedeutungsloses Geschenk für den Verlierer.

[1] Mtatsminda – Ein Bezirk in Tbilisi, der am Berg liegt.

 

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 18164




Das Mädchen ist fort - Teil I

In der Stadt der Toten, die sie auch den Friedhof nennen, ist die Silhouette eines Mannes zu sehen, der auf dem schmalen Pfad zwischen den Gräbern wie ein Gespenst umherschleicht. Auf den Spitzen der Tannenbäume sitzende Krähen beobachten ihn. Sie wissen, was es bedeutet, hierher zu kommen. Sie beobachteten wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten, wie die Menschen hierher kamen, um ihre verstorbenen Angehörigen zu beweinen, und sehen so den Schmerz dieser Menschen. Obwohl sie diesen Ort verlassen und wegfliegen könnten, bleiben sie, weil es nirgendwo anders einen solchen Ort gibt, wo sie so viel Reue und Liebe zu sehen bekommen wie hier, in der Stadt der Toten, die sie den Friedhof nennen.
Der Mann hält vor einem Grab an, auf dessen Grabstein das Bildnis einer jungen, wunderschönen und lächelnden Frau eingraviert ist. Der Mann sieht nach oben und lässt Dampf aus dem Mund entweichen. Vielleicht verlässt die Seele genauso den Körper! Der Mann ist ziemlich warm angezogen, aber dem Frost gelingt es trotzdem, bis in dessen Knochen vorzudringen. Ihn überzieht eine Gänsehaut, aber nicht wegen der Kälte.
Eine der Krähen krächzt und fliegt weg, denn sie möchte sich  nicht in die Angelegenheiten eines anderen einmischen.

Im Flughafen sah er nur unbekannte Gesichter, die ihn nicht wahrnahmen, weil sie in ihren eigenen Gedanken gefangen waren. Es regnete. Der Regen erzählte ihm viele Geschichten, die er nicht verstand, trotzdem hörte er jedem Regentropfen aufmerksam zu.
Er nahm ein Taxi und teilte dem Fahrer die Adresse mit, die sich in seinem Kopf drehte und so fremd und seltsam für ihn klang, als ob er den Namen eines unbekannten Landes erwähnt hätte.
Als er sein Ziel erreicht hatte, öffnete er die Tür und ein bestialischer Gestank schlug ihm entgegen. Er bedeckte rasch mit dem Jackenkragen seine Nase. Der Gestank war so intensiv, dass ihm schwindelig wurde. Er setzte sich deshalb auf den Holzstuhl, der an der Wand stand. Der Stuhl quietschte und begrüßte so seinen zurückgekommenen Besitzer. Derr saß mit gesenktem Kopf da und sah den Fußboden an, der langsam durchsichtig wurde, bis er den schmutzigen Grund des Hauses sehen konnte.

Als die Mutter starb, blieb er hier ganz allein zurück. Das Institut besuchte er schon lange nicht mehr, weil er auf die an das Bett gefesselte Mutter aufpasste. Er hoffte, dass seine Liebe zu ihr die dunkle Zukunft verbessern würde. Er glaubte wirklich daran, und wie er es glaubte! Und jetzt nannte er sich einen Idioten, nur weil er vergeblich gehofft hatte.
Noch eine Sache bereute er sehr. Er war nicht dabei, als sie ihren letzten Atemzug gemacht hatte. Er konnte ihr letztes Wort nicht hören und ihren letzten Blick nicht fangen, einen Blick, der immer voller Liebe war. Die Mutter bedankte sich bei ihm für seine unendliche Hingabe. Sie war nicht undankbar, so wie die anderen, und das schmerzte ihn noch mehr. Er wollte nicht, dass die Kranke sich über so etwas Gedanken machte.
„Ruh dich einfach aus“, sagte er zu ihr und küsste sie auf ihre schwitzende, glühende Stirn.

Er fühlte mit seinen Lippen, wie sie brannte, und wie dieses innerliche Feuer ihre Seele langsam in Asche verwandelte. Nachts saß er vor ihrer Tür und betete. Er sah dabei den Himmel im Flurfenster. Der Schmerz schnürte dabei seinen Hals zu, und er wollte schreien, aber er wusste nicht, was! Er harrte aus. Jetzt brauchte eine andere Person seine Hilfe. Er aß zu wenig, nahm gemeinsam mit seiner Mutter ab und wurde so zusehends schwächer.
Eines Tages ging er dann zur Apotheke. Mit zerfetzten 5 Lari[1] wollte er ihr ein Antibiotikum kaufen. Die Pharmazeutin lächelte ihn warm an, aber der Junge bemerkte kein Lächeln.
Als er nach Hause kam, war das Zimmer seiner Mutter schon leer, drinnen lag nur noch ein verlassenes Gefäß. Seine Mutter war fort, dahin, wo ihr keiner folgen konnte.

Der Junge konnte es in der Wohnung kaum aushalten. Hier, wo alle Wände vom Leid weinten und dieses Weinen an sein Gehör gerichtet war. Wenn er geblieben wäre, wäre er gestorben und er bereute manchmal, dass er nicht geblieben war. Obwohl er jetzt keine Lebenslust mehr hatte, besaß er auch keinen Willen, um es zu beenden. Stattdessen übermannte ihn eine schreckliche Apathie. Selbst reden wollte er nicht und auch das Denken war das Einzige, was ihn noch mit seinem Körper verband. Dabei glaubte er, dass es allein sein Geist war, der zu denken vermochte.
Er schloss die Tür ab und flog zu seiner Tante nach Deutschland, die die Einzige war, die sein Leid teilte. Der warme Umgang der Tante und seiner Cousins brachten ihn ein wenig auf diese Welt zurück.

Er lernte ihre Sprache und ging erneut an die Universität. Er versuchte, nicht daran zu denken, was ihn am meisten quälte, aber als er verstand, dass er wie ein Feigling weggerannt war, fand er keine Ruhe mehr. Ab und zu tauchten Erinnerungen in ihm auf. Er erinnerte sich an seine Kindheit, als er in die Augen der Mutter geschaut hatte, als ob er spürte, was auf sie zukam, und er ließ sie keine Sekunde allein. Die Mutter nahm ihn auf den Schoß und erklärte ihm, dass er mit Gleichaltrigen spielen sollte und seine Kindheit nicht in den vier Wänden verbringen dürfte.

Als er in die Pubertät kam, konnte seine Mutter ihn nicht mehr auf den Schoß nehmen, aber sie setzte sich vor ihn und sagte ihm, dass er Mädchen lieben und sich von ihnen lieben lassen sollte. Der Junge wusste, dass sie recht hatte, aber etwas störte ihn daran. Damals wusste er noch nicht, was genau das war, aber in wenigen Jahren bekam seine Angst den Namen „Der Krebs meiner Mutter“.
Die Zeit war gegen ihn. Anstatt die Vergangenheit zu vergessen, kehrte sie immer wieder zu ihm zurück. Er wachte fast jede Nacht schweißgebadet auf. Sein Herz raste, und die dunkle Leere drückte ihn nieder.

Er absolvierte seinen Uni-Abschluss und fing an zu arbeiten. Er lernte ein Mädchen kennen, das sich in ihn verliebte, aber weder ihre Tränen noch seine Tante konnten seine Entscheidung ändern. Wenn ein Mensch etwas ein für alle Mal entscheidet, dann ist kein anderer in der Lage, dies zu verhindern. Er verließ alles und kehrte nach fünf Jahren in die Stadt zurück, die ihn genauso anlockte wie der Tatort den Täter.
Wenn ein Mensch sich schlecht fühlt, bemerkt er die Dunkelheit um sich herum besser. Für glückliche Menschen besteht das Leben nur aus Sonne und lustigen Liedern, aber gibt es überhaupt wirklich glückliche Menschen auf dieser Welt? ‚Wenn ja, dann gibt es keine Gerechtigkeit‘, dachte der Junge und verbrachte den ganzen Abend in der kleinen Küche.

Am Morgen fing er dann an, an die Zukunft zu denken. Um präzise zu sein, er dachte an das, was er vorhatte. Er fand, dass es für ihn keine Zukunft mehr gab, und das Einzige, was er noch hatte, war die Fortsetzung der Vergangenheit, die nichts Gemeinsames mit der richtigen Zukunft haben konnte.
In Deutschland gab ihm seine Tante einfach alles. Natürlich versuchte sie, alles für den Sohn ihrer verstorbenen Schwester zu tun, und das konnte sie auch, denn sie war mit einem reichen Juden verheiratet. Wenigstens mit seiner Tante hatte er Glück.

Er wollte nur einen Ort besuchen, und so bald er mit dem Frühstück fertig war, zog er seine Jacke an, wickelte den Schal um seinen Hals, und ging raus. Diese Wohnung wurde zu einem großen Sarg für ihn.
Es fiel ihm schwer, die richtigen Blumen auszusuchen. Die Verkäuferin versuchte ihm am Anfang mit der Auswahl enthusiastisch zu helfen, aber seine Unsicherheit übertrug sich auf sie und ließ ihr Lächeln in eine schreckliche Müdigkeit verwandeln. Schließlich kaufte er die Feldblumen und ging den Friedhof von Saburtalo[2] entlang.
Je mehr er sich dem Grab näherte, desto langsamer schlug sein Herz. Wenn es so weitergehen würde, hätte er am Ort keinen Herzschlag mehr, und er wäre nicht anders als die Menschen, die früher wie er liefen, fühlten, litten und ihrem eigenen Herzklopfen als ferne, mystische Musik zuhörten und jetzt um ihn herumlagen.

Am Himmel spannte sich eine Dezemberwolke aus und ließ die Sonnenstahlen nicht zur Erde. Auf dem schmalen Pfad laufend, bemerkte er einige Männer, die eine Grube gruben, in der bald ein für ihn unbekannter Mensch beigesetzt werden sollte. Die Totengräber schauten ihn an. Es kam ihm so vor, als hätte einer gegrinst.
Er hielt vor dem bekannten Grab an. Fast nichts hatte sich in der Umgebung verändert. Bloß hier und da waren neue Gräber entstanden, wie die Häuser in der Stadt.
„Wie geht es dir, Mutter?“, fragte er. Der sich erhebende Dampf flog wie ein Vogel in den Himmel. Die Mutter lächelte ihn vom Grabstein an. Er setzte sich und erzählte ihr, was er all die Jahre so machte. Wie er lebte, wie er verreckte.
Wenn ein Mensch wenigstens einmal den Tod einatmet, wird er ihn nie wieder los.

Es wurde dunkel. Er erkannte das in den schwarzen Stein gravierte Gesicht nicht mehr. Sie hatten noch viele Begegnungen vor sich. Er stand auf und versprach ihr, dass er sie nie wieder alleine lassen würde. Er hatte vor zu gehen und machte einige Schritte, aber er drehte sich plötzlich um und fiel mit den Knien auf die Erde. Leise stieß er hervor:
„Vergib mir Mutter, dass ich dich verlassen habe! Vergib mir.“
Die leichte Brise wehte und streichelte sanft seine Haare. Er erhob seinen Kopf und schaute das Bildnis der Mutter noch einmal an.

Im Taxi dachte er an Mutters Foto, das aufgenommen worden war, als sie noch gesund gewesen war und ihr ganzes Leben vor sich gehabt hatte. Die Beleuchtung der Nachtstadt beruhigte seine Augen, und die leise Musik vom Radio machte ihn schläfrig. Er lehnte sich zurück und war fast eingeschlafen.
In der Nacht hatte er geträumt, dass er träumte.
Selbstverständlich würde er seine Mutter heute wieder besuchen. Er hatte nichts anderes in der Stadt zu tun, wo nicht nur die Toten, sondern auch die Lebendigen vergessen worden waren.
Während er im Bett lag, entschied er, ein Auto zu kaufen.

Es war ein kleines, rotes „OKA“. Er fühlte sich sofort gemütlich, als er einstieg.
Er stand vor der Autowäsche und beobachtete, wie sein „neuer“, alter Wagen, der das Autokennzeichen OKA-001 hatte, gewaschen wurde. Der junge Mann kriegte auch einige Wasserspritzer ab. Er stieg in den frisch gewaschenen Wagen und atmete dessen Duft tief ein. Im Handschuhfach entdeckte er eine Kassette. Am Anfang wollte er sie wegschmeißen, aber dann legte er sie ins Kassettenradio ein. Auf der Kassette befanden sich Lieder von „The Doors“. Mit „Riders on the Storm“ in den Ohren fuhr er schnell zu seiner Mutter.
Er erzählte ihr begeistert, was für ein tolles Auto er gekauft hatte.
„Mam, weißt du, wie niedlich es ist? Dazu verbraucht es sehr wenig Sprit, und damit ist es sehr einfach zu parken. Ich kann die Menschen in dieser Stadt nicht verstehen! Jeder zweite besitzt einen Geländewagen, wozu brauchen sie so viel Aufwendung und Unbehagen? Anscheinend glauben sie, dass sie desto größere Bürschchen werden, je größer ihr Auto ist.“

Nur darüber sprach er mit ihr und ging. Er hatte vor, in sein Auto einzusteigen, als er eine in seine Richtung kommende Prozession bemerkte. Ganz vorne lief ein Junge mit dem Porträt eines sehr hübschen Mädchens. Neben dem Jungen lief eine weinende Frau, gekleidet in Schwarz. Die Angehörigen versuchten vergebens, sie zu beruhigen.
In einem solchen Augenblick gibt es kein richtiges Wort. Dann existiert nur der Schmerz, der mit der Zeit vergeht, aber nie tut er es vollständig.
Da waren viele junge Menschen in der Prozession. Der junge Mann folgte ihr. Die Prozession bog in eine ihm bekannte Kurve ein, und bald hielt sie an. Es wurde still, nur das Weinen der Frau konnte er hören, und sein Herz schrumpfte. Er stellte sich auf eine kleine Erhöhung und sah, dass das Mädchen in diejenige Grube beigesetzt wurde, die er gestern zufällig gesehen hatte. Er konnte es nicht mehr ertragen und lief mit schnellen Schritten weg. Unterwegs stolperte er und wäre fast gefallen.

Den ganzen Weg nach Hause hatte er das Gesicht des Mädchens vor seinen Augen. Er hatte nie in seinem Leben so etwas Schönes gesehen, und er war voller Lust, alles über sie zu erfahren, aber ihm fiel auf, dass er schwärmte, und hörte damit auf.
Er betrat ein Sakhachapure[3]. Alle Tische waren besetzt, aber er hatte keine Lust, woandershin zu fahren, und entschied zu warten. Er lehnte sich an die Tür und wartete, bis an irgendeinem Tisch jemand bis zum Hals satt sein und mit einem eleganten Gang verschwinden würde. Er musste ziemlich lange warten. Ab und zu merkte er unzufriedene Blicke an seine Adresse. Endlich war ein unschönes Paar aufgestanden und bewegte sich Richtung Ausgang. Beim Rausgehen schaute und lächelte ihn die Frau an. Was ihren Kavalier anging, so starrte der ihn boshaft an und wollte ihn vermutlich schlagen. Der Junge ignorierte diese unangenehme Zu- und Abneigung und ging mit ruhigen Schritten zum frei gewordenen Tisch, den die Kellnerin schon tüchtig abwischte.
Er bestellte ein Acharuli[4] und eine Cola und erinnerte sich, dass, bevor er nach Deutschland gegangen war, es nur drei Lari gekostet hatte, und jetzt kostete es das Doppelte. „Na ja, das Land entwickelt sich“, dachte er und schmunzelte ironisch. In Deutschland aß er es ziemlich oft, aber das waren „deutsche Acharuli“.

Er fing wieder an, an das Mädchen zu denken. Woran war es so jung gestorben? Sie war ungefähr 17 gewesen. Was sind 17 Jahre im Vergleich zum Alter des Universums? Was sind 17 Jahre, um dieses komplizierte Leben wenigstens ein bisschen zu verstehen? Ihr Leben war wie ein Funke, der statt sich ins Feuer umzuwandeln von der Dunkelheit für immer verschluckt wurde. Das gebrachte Acharuli brachte ihn ins Sakhachapure zurück. Zerstreut bedankte er sich bei der Kellnerin und fing an zu essen, aber ihm war der Appetit vergangen. Jedes Stück kaute er widerwillig, und um es runterzubekommen, spülte er mit der Cola nach.

Plötzlich hielt ein junger Mann vor ihm und starrte ihn an. Der Sitzende schaute ihn an und fragte:
„Was ist los?“
„Du bist Saba Eradze, oder?“
„Ja, der bin ich“, antwortete er angespannt.
„Wir waren an der Uni in derselben Gruppe. Erkennst du mich nicht mehr?“
„Nein“, antwortete er sofort und kalt, aber natürlich erkannte er ihn wieder. Er war der Einzige aus der Gruppe, der zur Bestattung gekommen war. Es war Saba trotzdem unangenehm, dass er erkannt wurde.
„Ich bin‘s, Irakli“, fügte der verwirrte Junge hinzu.
Saba stand sofort auf, legte genügend Geld auf den Tisch und ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Irakli stand da und guckte erstaunt, bis Saba aus der Tür verschwand.
Auf dem Rückweg bereute Saba, dass er seine Identität preisgegeben hatte.

In der Nacht träumte er vom gestorbenen Mädchen. Sie stand am leeren Strand, im farbigen Sommerkleid, das die vom Horizont wehende Böe flattern ließ. Saba sah um sich herum und ging zum Mädchen, das zum dunklen Meer schaute. Seine Schritte klangen mit lautem Nachhall, aber sie drehte sich trotzdem nicht zu ihm. Saba stellte sich neben das Mädchen und starrte sie an. Plötzlich nannte er sie mit dem Namen und wunderte sich selbst im Traum.
„Elene.“
Das Mädchen wendete den Blick zu ihm, und kaum erkennbar lächelte sie. Saba bekam Gänsehaut. Elene schaute wieder zum Meer, und nach kurzer Zeit sagte sie leise:
„Mir ist kalt.“

Saba wachte mit Schüttelfrost auf. Er legte die Hand an die Stirn, die glühte. Das Fieber sank bald.
Er saß in der Küche und wiederholte ihren Namen. Er wollte schnellstmöglich zum Friedhof fahren. Es war fünf Uhr morgens, aber er konnte es nicht mehr aushalten, zog sich hektisch an und fuhr los.

[1] Lari – Nationale Währung in Georgien.
[2] Saburtalo – Ein Bezirk in Tbilisi, der Hauptstadt von Georgien, mit einem großen Friedhof.
[3] Sakhachapure – Eine Art Gaststätte, in der vor allem Khachapuri, ein georgisches Gericht aus Teig, gefüllt mit Käse, zubereitet wird.
[4] Acharuli – Bootformige Teigtasche mit georgischem Käse und einem Spiegelei in der Mitte.

 

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 18163




Lebe wohl, Lakritz - Teil III

Es war ein langweiliger Abend. Ich stand mit geschlossenen Augen am geöffneten Fenster und atmete den frischen Duft des gemähten Rasens ein, der von Gretas Hintergarten kam. Der Duft brachte mir gesichtslose Erinnerungen. Auf einmal bekam ich Angst. Man vergisst so viel, dabei besteht das Leben zum größten Teil aus Erinnerungen. Der Mensch ist seine Erinnerungen, und wenn mich jemand fragen würde, wie alt ich bin, dann würde ich antworten: „So alt, wie viele von mir gelebte Sekunden ich noch in mir trage, denn mein Leben ist so lang, wie die Zeit, an die ich mich erinnere.“

Plötzlich hörte ich Lärm aus dem Hof und machte die Augen auf. Greta ging mit ihren mutmaßlichen Mitschülern zur Laube. Zwischen denen war ein rotznäsiger Junge, den sie offensichtlich mochte, doch der wusste sie gar nicht zu schätzen. Wahrscheinlich würde er ihr erster sein. Es ist immer so, immer! Jedes Mal, wenn ich mir eine hübsche Frau in den Pfoten eines Ungeheuers vorstellte, erwürgte mich jemand mit seinen unsichtbaren Händen.

Ich ging sofort in mein Zimmer und machte die Augen zu, verschränkte meine Hände hinter dem Kopf und bildete mir Folgendes ein: Ich sitze in einem sonnenartigen Ballon, der von meiner Energie wächst und dann explodiert. Die Explosion zerstört alles um mich herum, und ich stampfe durch die Asche meiner Einsamkeit.
„Exupery hat vor seinem letzten Flug gesagt, dass falls er abstürzen würde, er nichts bereuen würde“, sagte Lakritz.
Ich machte mir Sorgen, weil ich neue Emotion in seinen Augen sah. Er war ein unglücklicher Mensch geworden. „Mensch muss rechtzeitig und schön sterben“, fügte er hinzu.

Nach dem Film hielten wir vor dem Kino an. Er lächelte mich zum letzten Mal an und ging weg. Ich lief ihm nicht mehr nach, weil ich seine Entscheidung respektierte. Ich werde seine echte Geschichte nie rausfinden. Er wird für mich immer Lakritz bleiben.

Ich fiel aufs Bett und dachte: „Lakritz ist weg. Seine Rolle ist zu Ende. Er hat sie in seine Hand genommen. Er ist ein Regisseur geworden und hat seinen Film beendet. Was mich angeht, führe ich mein Leben weiter, ohne zu wissen wofür, übrigens wie die meisten Menschen auf dieser Welt.“

Stellen Sie sich vor, wie sehr ich mich wunderte, als ich ihn am nächsten Abend sah. Zuerst dachte ich, dass ich halluziniere, aber als er vor mir anhielt, roch ich seinen Duft, und ich war überzeugt, dass er es wirklich war.
Er las meine Gedanken.
„Es existiert nur das, was du anfassen kannst. Was du siehst, sind nur Bilder in deinem Kopf.“
Ich fasste seine Schulter an und spürte seine Atome.
„Ich war mir sicher, dass du nicht mehr kommst.“ Und ich fing an zu lachen, weil ich mich an meine dramatischen Gedanken erinnert hatte.
„Nein“,sagte er lächelnd, „Du dachtest nur, dass du dir sicher bist. Wärest du es, wäre ich jetzt nicht hier.“

Neben uns ging ein junges Mädchen vorbei, und es schaute mich aus irgendwelchem Grund schräg an.
„Erinnerst du dich an die Szene in „Arizona Dream“ in der Gallo von einem Flugzeug verfolgt wird und er schreit, dass er in einem Film ist?“
Ich nickte und wusste, was er jetzt sagen würde.
„Das Leben ist ein Film, und du entscheidest, wie es ausgeht. Hab keine Angst zu improvisieren! Mach alles, was immer du willst.“

Sein letzter Satz blieb in meinem Kopf zu stecken. Er klang wie ein Mantra: MACH ALLES, WAS IMMER DU WILLST!!!

Gewöhnlich tat ich nie, was ich wirklich wollte. Das heißt, dass ich mein Schicksal nicht im Griff hatte. Deswegen war ich so unglücklich. Um glücklich zu werden, ist es genug, die Ketten der Angst und Rücksicht zu zerreißen. In diesem Augenblick hatte ich eine geniale Idee, so glaubte ich wenigstens. Ich verstand, dass alles erreichbar ist. Ich musste nur den Arm ausstrecken. Bisher war ich stets mit gebeugten Armen gelaufen und jammerte nur, dass alles außer meiner Reichweite war.
Lakritz lächelte mich an. Er wusste bestimmt, was ich vor hatte, und ich wusste, dass er mir dabei unbedingt helfen würde.
Ich wusste bereits, dass Greta zum Fitnessstudio durch den Park ging und erst in der Dämmerung zurückkam, wenn fast niemand mehr in dem Park war.

Eines Tages parkten ich und Lakritz mit dem von ihm besorgten Lieferwagen vor dem Eingang. Greta ging in den Park rein. Wir folgten ihr unauffällig und blieben im Park. Lakritz setzte sich in meiner Nähe auf eine Parkbank. Währenddessen fütterte ich die Enten. Als sie das Brot in meiner Hand sahen, fingen sie an zu schnattern und schwammen gemeinsam zu mir. Ihre Füße waren nicht zu sehen, und man hätte den Eindruck bekommen können, dass sie mit dem Bauch auf der Wasseroberfläche glitten. Dem „Großen Fressen“ schlossen sich verschiedene Fische an und bissen ab und zu die Enten, die ihrerseits mit einem Klageruf wegschwammen, aber der Hunger war stärker, und sie kehrten immer wieder zurück.

Ich dachte, wir würden lange warten müssen, aber die Zeit verging sehr schnell. Lakritz pfiff nach mir, und als ich Greta in meine Richtung kommen sah, versteckte ich mich im Gebüsch, aber ich erinnerte mich sofort, dass ich derjenige war, der sie aufhalten musste, also kroch ich raus. Sie bemerkte mich bald und wurde ein wenig nervös. Ich lächelte sie an, und sie erwiderte es.
Sie hielt vor mir an und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich kapierte, dass mein Plan alles ruinieren würde, weil sie offenbar ohnehin Interesse an mir hatte, aber es war leider schon zu spät. Lakritz schlich sich von hinten an sie und drückte ein mit Chloroform getränktes Tuch an ihr Gesicht.
Das Letzte, was ich in Gretas Augen sah, war Angst. Mir wurde schwindelig.
Wir brachten sie unbemerkt zum Lieferwagen. Wir hatten Glück, oder auch nicht.

Während wir aus der Stadt fuhren, bekam ich eine Panikattacke, aber sagte Lakritz nichts. Trotzdem bemerkte er es und lenkte mich ab.
„Welcher Film?“
Ich musste nachdenken, dann fiel mir eine Verfilmung ein, aber das Buch, wie es meistens ist, war viel besser.
„Der Sammler“, sagte ich.

Das ohnmächtige Mädchen fesselten wir in der Jägerhütte mit Lederriemen ans Bett. Die Taschenlampe beleuchtete diese Holzkonstruktion teilweise, und sie sah ziemlich mystisch aus. Draußen knisterten die Äste im Wind und raschelten die Blätter. Während ich der Symphonie des Nachtwaldes zuhörte, witterte ich den aufregenden Duft von Greta.
Ich saß auf dem Fußboden in der Ecke und beobachtete Lakritz, der seinerseits ziemlich lange Greta beobachtete und mir danach sein bekanntes Lächeln schickte.
„Und jetzt welcher?“
Ich hatte auf diese Spielchen keine Lust mehr, aber trotzdem antwortete ihm.
„Tanz der Teufel.“
Er war mit mir sehr zufrieden.
„Du hast einen guten Geschmack, sie ist entzückend.“
Es gefiel mir nicht, wie er über sie sprach, als ob er sie vernascht hätte.
„Es ist Zeit, die Praline zu enthüllen“, sagte er und zog Gretas Schuhe aus. Sie hatte kleine Welpen an ihren Söckchen. Sie war wirklich noch ein Kind!
Er zog ihr T-Shirt und auch die Leggings aus. Jetzt lag sie bloß in ihrer schwarzen Unterwäsche.
Mein Herzklopfen beschleunigte sich.

Er holte aus der Tasche eine Schere und beugte sich über sie. Mein Mund wurde ganz trocken. Er schnitt ihren BH in der Mitte durch und legte mit der Scherenspitze kleine, straffe Brüste frei. Greta stöhnte leise, verstört, und bewegte sich.
Er sah mich noch einmal an und setzte dazu an, ihren Slip an der Seite aufzuschneiden.
Ich stand so schnell auf, als ob der Boden mir einen Arschtritt verpasst hätte, rannte zu ihm und schleuderte ihn gegen die Wand.
Lakritz schaute mich enttäuscht an und versuchte etwas zu sagen, aber schaffte es nicht. Plötzlich realisierte ich, dass die Schere tief in seiner Brust steckte. Ich machte einen Schritt rückwärts und er sank zu Boden. Greta fing an, zu sich zu kommen. Ich befreite sie sofort und setzte mich wieder in die Ecke, dabei hielt ich die ganze Zeit mein Auge auf Lakritz, der abwechselnd mich und sie ansah. Sie setzte sich langsam auf und bedeckte ihre Brust.

„Zieh dich an, nimm die Taschenlampe und folge dem Weg nach unten“, sagte ich zu ihr.
Sie stand mit großer Mühe auf, stolperte einmal und rannte, wie sie nur konnte, los. Ihre Schritte wurden vom Lärm des Waldes verschlungen.
Ich blieb in der Dunkelheit und wartete, bis es heller wurde, dann versuchte ich vergeblich, Lakritzes erstarrte Augen zuzumachen. Ich nahm seine letzte Lakritzstange und steckte sie mir in den Mund, dann schaute ich zu dem BH, der auf dem Bett lag, und ging zu meinem bekannten Felsbrocken, aber die Kastanie war weg.

Später musste ich einige Tests machen, und der Staat hat mich in einer Irrenanstalt eingelocht. Die Ärzte behaupten, dass Lakritz nicht existiert, sie sind völlig verrückt!
Wie Lakritz sagte: „Manches ist echt, aber manches auch nicht.“ Demzufolge denke ich, dass diese hochgeehrten Ärzte nicht real sind.
Ich kann meiner Lage viele Filme zuordnen, aber ich werde es nicht tun!
Jetzt weiß ich, dass ich einen großen Fehler begangen habe. Man darf nicht einfach alles tun, was man will. Ich hätte auf Gretas Mutter hören sollen. Ich sollte warten, ich sollte …

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 18150