Schlagwort-Archiv: hardly secret diary

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Nur noch einen Augenblick

Nur noch einen Augenblick, bis deine Seele fliegt
und deinen Namen durch den Nachthimmel zieht,
wo er neongelb aufblinkt,
wenn der Mond sich noch schont
und vom Sonnenlicht trinkt,
bevor die Ewigkeit dann irgendwann
in seinem Schein Funken sprüht,
kunterbunt aufblüht
und dich stolz in ihren Armen wiegt,
weil sie das Leben besiegt.

Dann steht die Welt ganz kurz still,
pausiert in ihrem Drehen,
weil sie vor dir den Hut ziehen will
für deinen Mut,
das Leben zu überstehen.
Und jeder Stern am Firmament brennt
lichterloh, nur für dich.
Spricht Bände. Und ich erwärm mich
ein letztes Mal
an dem Lächeln in deinem Gesicht.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23138

Wenn das Herz bricht

Wie schon so oft, bricht wieder mir das Herz
obwohl ich dachte, dass ein neuer Schmerz -
und sei er noch so monströs - ihm nichts mehr machte,
dass es als Spezialist des Leids ihn beherzt verachte,
und durch Erfahrung gescheit aus seinem Bannkreis verlachte.
Ja, ich dachte wirklich, ich wär jetzt so weit.

War überzeugt, ich wär vor allem gefeit.
Wär taub, wenn mein Herz in aller Dringlichkeit
um Hilfe schreit, und legte mir vorsorglich
einen Schutzpanzer zu, der in aller Ruh genau dann,
wenn das Tor weit offen steht, tut, was er kann,
sodass mir ein Schmerz nicht mehr so tief zu Herzen geht.

Mir stellt sich die Frage, wie oft mein Herz
noch brechen kann und ob es nicht dann und wann
zu voll wird darin, ich des Leidens müde bin,
weil ich eh schon so viel Unrat in mir trag,
der mich, ganz ohne Wert, sinnlos beschwert, im Herzen gärt
und drückt bei jedem Schlag.

Der meine Freude, die vor Angst zittert, in die Ecke schiebt
und mein Herz innerlich knittert und deformiert,
sodass ich staune, weil es überhaupt noch so gut funktioniert.
Kommt da noch mehr? Ein Schmerz, der mich entliebt,
der so groß ist, dass es nie wieder Ruhe gibt,
an dem es zerbricht, weil es sonst sein Gesicht verliert?

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary und unerHÖRT!| Inventarnummer: 23112

Am Rand der Nacht

Am Rand der Nacht ist der Schlaf leicht.
Oder wachst du?, du weißt es nicht.
Du siehst den Mond durch das Fenster,
doch das kann auch im Traum geschehen.
Wie alt bist du?
Bist du deutlich jünger, dann schläfst du.

Du erhebst dich aus dem Bett und gehst umher.
Schlafwandeln oder das normale Leben?
Diese Nacht ist anders, oder ist sie stets dieserart?
Man kann sich sein Leben nicht aussuchen.

Nein, das ist ein Irrtum, man kann es drehen,
es besser machen, als es ist.
Der Mensch ist kein Tier mehr,
er ist vernunftbegabt und kann entscheiden.

Der kleine Mond und die Lichter des Pyramidenkogels in der Nacht

Der kleine Mond und die Lichter des Pyramidenkogels in der Nacht

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23092

Vier im roten Kreis

Siddharta Gautama, der Buddha, zeichnete mit roter Kreide einen Kreis und sagte: Wenn es vorherbestimmt ist, dass Menschen einander wiedersehen sollen, was auch immer ihnen geschieht, auf welchen Wegen sie auch wandeln, am gegebenen Tag werden sie einander unvermeidlich „im roten Kreis“ begegnen. Rama Krischna[1]

Wann mein Interesse für Mädchen genau begonnen hat, weiß ich nicht. Wenn ich mich recht erinnern kann, dann hatte ich im Kindergarten eine Zeit lang eine bisexuelle Einstellung, bevor ich Gefallen an Annika fand. Diese mochte mich überhaupt nicht und sperrte mich einmal sogar in ein Gartenhäuschen ein (ähnlich ist es übrigens auch Mozart gegangen, das war 1787 in Prag). Zum Schulanfang hatte ich einen Schulranzen und den farblich dazu passenden Regenschirm bekommen. Als wir vom Kindergarten zum Schulgebäude, das uns gezeigt wurde, marschierten, regnete es.
Ich hatte den Regenschirm parat und bekam Annika zugeteilt. Auf dem Weg zur Schule hielt ich ihr den Regenschirm und merkte, dass sie nicht aggressiv zu mir war, sondern dankbar, dass ich ihr den Regenschirm hielt. Außerdem war sie schön gekleidet. Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich erwachsen fühlte. Leider ging Annika in eine andere Schule und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

Mein nächstes Erlebnis war Christine, die ich im Gymnasium kennenlernte. Sie war nicht nur die Klassenbeste, sondern  auch eine der wenigen Personen, die sehr freundlich zu mir waren. Wenn ich eine schlechte Note bekommen hatte, lieh sie mir ihre Lösung aus, damit ich das korrekte Ergebnis sehen konnte. Bei einer Führung durch die Schulbücherei lobte sie mich, da ich das älteste Buch, noch in Fraktur  geschrieben, gefunden hatte. Leider wechselte auch Christine früh die Schule und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt.

Im Studium war es Nataliya, auf die ich immer wieder während des Spanischkurses einen Blick warf, als sie auf der hintersten Bank saß. Und ich war überwältigt, als sie sich einmal unvermittelt neben mich setzte und mir sogar ihre E-Mail-Adresse gab, da ich in der nächsten Stunde etwas für sie mitschreiben sollte. Leider war ich damals noch zu schüchtern und wechselte, da mir der Kurs nicht gefiel, im nächsten Semester das Fach.

Als das nächste Semester kam, lernte ich in der ersten Vorlesung Adina kennen, die eine schicke, gestreifte Hose trug. Erstaunlicherweise wusste sie, dass ich in den Semesterferien ein Auslandspraktikum absolviert hatte und das Gespräch verlief sehr anregend. Nach der ersten Einheit der Lehrveranstaltung brach sie diese aber ab und der Kontakt verflüchtigte sich.

Andere Begegnungen waren noch flüchtiger. Mir sind Frauen aufgefallen, die sehr freundlich zu mir waren, aber ich hatte merkwürdigerweise auch Frauen gern, die anfangs zu mir abweisend waren. Langsam begann sich bei mir ein bestimmter Frauengeschmack zu entwickeln.

Es gibt Gesichter, die mir gefallen, Frisuren, die schön sind. Auch Vorlieben für bestimmte Kleidungsstücke und Accessoires mag ich. Was mir jedoch keine Sicherheit gibt, ist dieses:

Wie konnte ich sicherstellen, dass Frauen, die mir gefielen, mich auch im Gegenzug mochten. Gab es eine gegenseitige Anziehungskraft? Da war ich mir nicht so sicher und vermied oft Begegnungen, da in mir eine Blockade aufkam.

Doch noch einmal zurückdenken: Es waren meistens flüchtige Begegnungen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Seltsam, dass sich nie ein Kontakt herstellen ließ.

Aber einige kleinere Erfolge gelangen mir doch, und es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich auch das Mittel der Flaschenpost eingesetzt habe.

Gerne würde ich wissen, was Annika, Christine, Nataliya und Adina heute machen. Ob es ihnen gut geht. Von Annika möchte ich gerne wissen, wie ihre Schullaufbahn war, ob sie ihre geheimnisvolle Aura bewahrt hat und ob sie nun freundlicher zu mir wäre. Von Christine möchte ich wissen, ob sie es damals schon erkannt hat, dass ich sie toll fand, es aber nur nicht hatte zeigen können. Gerne möchte ich ihr heute versichern, dass ich ihre weiblichen Reize sehr geschätzt habe, auch wenn sie von anderen Schülern verspottet wurde.

Nataliya habe ich geschrieben, leider erst Jahre später, als ich zufällig die Adresse wiederfand. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich Kontakt mit mir haben wollte und ob sie sich geärgert hatte, da ich ihr Kontaktangebot nicht angemessen aufgenommen hatte.

Adina hatte ich nach langer Zeit eine Postkarte geschrieben, als ich durch Zufall auf ihre Postadresse stieß. Auch diese Karte blieb unbeantwortet. Jedoch tröstete mich der Gedanke, dass die Karte angekommen war.

All diese Begegnungen haben mein Leben beeinflusst. Und ich war es mir zum Zeitpunkt nicht immer unbedingt klar, welche Auswirkungen auf meine Zukunft das haben sollte. Es waren Weichenstellungen, und mir wurde klar, dass das Poetische sehr wohl in den Alltag hereinbrechen kann. Diese Begegnungen hatten für mich einen höheren Sinn und ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt, wie es im anfangs erwähnten Zitat heißt, dass ein Wiedersehen vorherbestimmt sei. Wer weiß, vielleicht endet es für mich wie für Sappho:

Versunken im Meer ist Selanna, und versunken sind die Plejaden. Aber ach! Wieder ging Mitternacht vorbei, und obwohl die Zeit für die Liebe kommt – doch allein lege ich mich nieder zum Schlaf. [2]

Allen vier Frauen sei meine Erzählung gewidmet.

 

[1]     Erfundenes Zitat aus dem Film: Vier im roten Kreis (Le cercle rouge). Regie: Jean-Pierre Melville, 1970

[2]     Sappho: Und ich schlafe allein. Übersetzung von Gerda Kazakou https://gerdakazakou.com/2015/12/20/griechische-dichtung-am-sonntag-sappho/

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23082

Lasst uns …

wieder Schmetterlinge im Bauch spüren,
galoppierende Pferde in der Brust hören.
Lasst uns wieder Gänsehaut über den Körper laufen,
den Ruf von Bussard und Falke im Ohr haben.
Ich will wieder Hummeln sausen sehen,
das Schweifschmeicheln des Hundes auf dem Bein fühlen.
Wir sollten wieder wie junge Geparde über Steppen flitzen,
uns im hohen Gras verstecken, wie kleine Rehkitze.
Lasst uns wieder Kunstwerke kreieren, wie die Spinnen,
oder, wenn notwendig, uns im Laub einigeln.
Gerne wieder ein fröhliches Lied trällern, wie ein Zaunkönig,
gurrend wie die Taube über den Frieden erzählen.
Heimlich, wie ein Steinmarder, durch Nächte ziehen,
und die Lauscher in den Wind recken, wie der Feldhase.
Ich würde gerne klug und scheu sein wie eine Füchsin,
und manchmal lautlos wie die Schleiereule die Umgebung erkunden.
Hie und da wär ich gerne frech, wie ein Eichhörnchen,
um mich wieder zu spüren.
Könnten wir nicht wieder ein Lächeln in das Gesicht der
Mitmenschen zaubern, wie es der Marienkäfer kann?
Wir lächeln zu wenig, grübeln zu viel, sind unsere Herzen
kalt und träge geworden, Gefühle tabu?
Wer liebt, ist verletzlich!
Aber, verdammt – das ist es mir wert.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23072

Herbstabend

Komm, so setz dich doch her! Ich hole kühles Bier für uns.
Lass uns reden! Ich habe so viele Fragen. Lange warst du nicht mehr hier! Wo bist du denn immer?

So nimm doch Platz. Ich hole uns eine Decke und rücke nahe an dich heran. Es ist ein goldener Herbstabend hier draußen, wir müssen uns ein bisschen gegenseitig wärmen.
Weißt du noch? Als wir uns zuletzt gesehen haben? Ich habe deine Hand lange gestreichelt, dir war so kalt an diesem Abend und du hattest doch nie kalte Hände, so lange ich dich kannte.

Und weißt du noch? Unser Urlaub am Meer, da haben wir unser letztes Karlovacko Bier mitsammen getrunken. Dabei hattest du gar kein Verlangen danach. Ganz erstaunt war ich und ungläubig habe ich dir zugesehen, wie du beim Sonnenuntergang an der kroatischen Küste vor einem Teller mit gegrillten Fischen gesessen bist, appetitlos und hoffnungslos. Warum hab ich die Zeichen nicht erkannt?

Ich hätte ein paar Fragen. Wie würdest du mit der Coronakrise und deren Folgen, die gerade auf uns zurollen, umgehen? Hättest du einen Rat?

Weißt du noch? Lange ist’s her, wie du dich in wirtschaftlich schlechten Zeiten kämpferisch gezeigt hast und mit Ehrgeiz und Euphorie die Ärmel hochgekrempelt hast. Das waren deine besten Jahre. Wie zum Trotz hast du dich nie unterkriegen lassen und bist deines Weges gegangen – mit viel Mut und einer kräftigen Portion Optimismus hast du deine Ziele erreicht.

Du warst so lange weg, machst dich so rar. Komm doch öfter mal vorbei. Du weißt, ich habe immer Bier eingekühlt. Ich besorge uns Brot und Speck und Kren, den du so gerne magst, und viele Sorten Käse.

Und dann lass uns herzhaft lachen über die vergangenen Jahre und all deine Sprüche, die du immer auf Lager hattest für uns Kinder und die Enkelkinder.

Papa? Hörst du mich?

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23071

 

Zurück auf Start

Manchmal würd ich gern auf sicheren Wegen gehen
und als sorgloses Blatt zurück in meine Kindheit wehen,
die ihr mit Argusaugen bewacht und mit Bedacht
von Stolpersteinen befreit habt, sorgsam mit Moos ausgebettet,
damit ich nicht hart aufschlag, wenn ich fall und mir bloß
ein paar Kratzer hol, die in eurem weichen Schoß
sekundenschnell heilen. Weil ihr mich selbstlos rettet,
schützend euer Herz über mich stülpt und alle lauernden Gefahren ankettet.

Manchmal würd ich gern auf sicheren Wegen im Regen abends um halb acht
zu euch nach Hause kommen, wüsste, ihr hättet mir einen warmen Kakao gemacht,
und sähe schon von Weitem das helle Licht in euren Herzen
durchs Zimmerfenster schimmern, das mich zu euch lenkt
und mich dann, in kusch’lige Decken gehüllt, mit all eurer Liebe beschenkt.
Und alles läge noch unberührt vor mir, im Flackerlicht bunt bemalter Kerzen,
wie frisch gefallener Schnee in eurem Garten, in dem ich arglos eine Runde dreh.

Doch dieses Mal ginge ich ohne Umwege und immer geradeaus aus dem Garten heraus, würd so gern einfach nochmal neu starten.

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary und unerHÖRT!| Inventarnummer: 23068

Ziel. Punkt.

Damals wollte ich nur noch schnell etwas einkaufen, ich weiß nicht mehr so genau was. Es muss nicht viel gewesen sein, denn damals, im März 2013, war das Geld knapp. Ich ging in die „Zielpunkt“-Filiale in der Alserbachstraße in Wien und kaufte etwas ein. Was ich auf dem Weg zum Supermarkt gedacht haben muss, weiß ich nicht mehr, vielleicht war es etwas Berufliches. Ich legte mehrere hundert Meter zu Fuß zurück und betrat das Geschäft. Da ich bereits Läden dieser Kette kannte, war es ein routinemäßiger Besuch, der mir zunächst keiner weiteren Beachtung würdig schien. Ich ging durch die gläserne Schiebetür hinein, zunächst zu den Obst- und Gemüsekisten, dann zur Milchtheke und zum Brotregal. Eine Handvoll Sachen hatte ich, denn ich benutzte keinen Einkaufswagen oder Korb. Alles, was ich in meiner Hand halten konnte.

Als ich zur Kasse ging, legte ich meine Sachen aufs Band, es kann sein, dass noch mehrere Kunden im Laden waren. Wann ich die Kassiererin zum ersten Mal erblickte, weiß ich nicht. Es kann sein, dass sie ihr Haar rot gefärbt hatte, aber da bin ich mir nicht so sicher. Ob ich sie schon bemerkte, als sie meine Sachen durch den Scanner zog, weiß ich nicht. Ich könnte auch nicht sagen, ob sie mir beim Bezahlen schon aufgefallen wäre. Aber kurz nachdem ich und wahrscheinlich ein anderer Kunde bezahlt hatten, verließ sie ihren Stand und betätigte mit dem Schlüssel die elektrische Türöffnung, da der Laden schon von außen verriegelt war. Ich schaute ihr in die Augen, verabschiedete mich und sie verabschiedete sich auch, dabei lächelte sie mich an. In diesem Moment war es um mich geschehen. Es war das letzte bewusste Mal, dass ich diesen Laden besucht hatte.

Auf dem Nachhauseweg war ich glücklich ob der Begegnung, aber ich wusste nicht, ob es andere Gedanken gab, die wichtiger waren. Vielleicht habe ich die junge Verkäuferin auch in meinem Tagebuch erwähnt, aber so genau weiß ich das nicht mehr. Was ich am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat tat, ist mir nicht mehr so bewusst.

Einige Jahre später, im August 2017, sah ich in einem Supermarkt eine junge Frau, die Käse aus einer Selbstbedienungstheke holte. Obwohl sie ganz anders aussah, als ich die Zielpunkt-Verkäuferin in Erinnerung hatte, erlebte ich ein Déjà-vu. Ich weiß nicht, welche Gemeinsamkeit sie mit der anderen Frau hatte, jedenfalls fühlte ich eine starke Nähe. Auch diese Erinnerung verblasste.

Erst im Sommer dieses Jahres kam mir die Erinnerung an die Zielpunktverkäuferin. Was ich nicht alles hätte tun können, den Laden häufiger besuchen, ihr ein Kompliment oder ein Geschenk machen. All dies hatte ich nicht getan, aber ich wusste nicht den Grund, warum ich es unterlassen hatte. Und warum wurde das Ganze mir erst jetzt, nach neun Jahren und einem Ortswechsel wieder bewusst? Ich versuchte, über diesen Laden zu recherchieren. Die Supermarktkette Zielpunkt hat 2016 Konkurs angemeldet und die Mitarbeiter*Innen mussten sich eine neue Arbeitsstelle suchen. Ich hatte demnach keine Chance mehr, diese Mitarbeiterin nochmals zu kontaktieren. Auch machte ich mir Sorgen wegen der Kündigung und der prekären Situation zur Zeit der Insolvenz.

Aber ich musste, da die Verkäuferin sehr charmant gewesen war, mir etwas überlegen, wie ich ihr meine Gefühle übermitteln konnte. Ich erschuf folgendes Szenario: Was hätte ich getan, wenn ich dieser Verkäuferin noch einmal begegnet wäre? Hätte ich meine große Schüchternheit überwinden können? Ich dachte zuerst, dass ich eine kleine Süßigkeit hätte kaufen können, die ich ihr nach dem Bezahlen hätte schenken können. Oder einen Zettel mit meiner Adresse. Was ich bevorzugt hätte, weiß ich nicht, aber es hätte Tage geben können, an denen diese Verkäuferin nicht an der Kasse saß und ich Pech gehabt hätte. Also hätte ich auch noch viel Geduld einplanen müssen.

Für den Fall, dass diese Verkäuferin mein Kontaktgesuch angenommen hätte, was hätte ich ihr vorschlagen können? Ein gemeinsames Gespräch, einen Spaziergang? Manche Menschen glauben daran, dass Gedanken übermittelt werden können. So dass die eigenen Gedanken nicht sinnlos um einen kreisen und den anderen doch – auf welche Art auch immer – erreichen. Es gab Versuche, die bestätigten, dass alle Menschen miteinander über ein paar Personen verbunden seien. Warum nicht einfach einmal eine Flaschenpost an die Verkäuferin schreiben? Ich tat es sogar und schickte meine Gedanken an sie an ein unbekanntes Ufer.

Als ich am Samstag, dem 24. September 2022, um 8.00 Uhr aufwachte, wurde mir der Gedanke immer klarer, dass ich diese charmante Verkäuferin in einem kleinen Text verewigen könnte. Ich fuhr meinen Laptop hoch und gab unter Google das Schlagwort „Schreibwettbewerbe“ ein. Nach einigen Klicks wurde ich auf eine Seite weitergeleitet.

Das Thema „Bewusstheit“ der Ausschreibung sah ich am geeignetsten an. Ziel. Punkt.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22105

Was man für das Leben braucht 3

Sie haben Teil 1 und Teil 2 schon intus?
Dann wollen wir Sie nicht aufhalten ... Viel Spaß mit dem letzten Teil der Geschichte.

Wir erfuhren von dem Entschluss, dass unser Teilunternehmen mit einem anderen Teilunternehmen zusammengelegt werden sollte, das ebenfalls ein Referat hatte, das sich autodidaktisch Lösungen erarbeitet hatte, die aber von Grund auf derart anders waren, dass diese nicht ineinander verschmolzen werden konnten, und eine völlige technische Neuaufstellung war budgetär von den verantwortlichen Chefs vollkommen ausgeschlossen.

Wir erklärten den verantwortlichen Chefs also diesen Umstand inkl. technischer Begründung und erhielten die Antwort, dass dies trotzdem zu funktionieren habe. Als wir nochmals erklärten, dass es nicht an der Motivation mangle, sondern an den gerade dargelegten technischen Fakten, nämlich: „Entweder wir müssen alles von Grund auf neu programmieren oder wir sind zwar offiziell ein Unternehmen, haben aber nach wie vor den Verwaltungsaufwand von zweien“, wurde dennoch darauf beharrt, dass wir das zu schaffen hätten, und die Besprechung beendet.
Wo lag hierbei das eigentliche Problem? Die äußeren Umstände waren komplizierter geworden, doch so lange eine Lösung denkbar war oder wenigstens möglich schien, konnte mich nichts davon abhalten, sie zu suchen. Dass es aber Vorgaben bzw. Zielsetzungen gab, bei denen vollkommen klar argumentiert werden konnte, dass deren Umsetzung einfach nicht möglich war, und der zuständige Vorgesetzte dennoch darauf beharrte, begann mich innerlich zu zersetzen, weil ab diesem Punkt klar war, dass man das nicht mit mehr Einsatz oder noch schlaueren Überlegungen schaffen konnte, sondern die Fakten eben glasklare Undurchführbarkeit ergaben.

Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich vor einer Situation, bei der alle Beteiligten wussten, dass sie nicht lösbar war und trotzdem nichts daran geändert werden konnte. Dies hatte zur Folge, dass die ersten Kolleg*innen unser Referat verließen bzw. sich das für die Programmierungen zuständige Referat des anderen Teilunternehmens vollständig auflöste. Wir waren also nun weniger Mitarbeiter*innen, hatten aber statt 1500 Leuten plötzlich 3500 zu betreuen und es gab niemanden, der uns sagen konnte, wie genau die Lösungen der zusätzlichen 2000 Mitarbeiter*innen funktionierten bzw. welche Grundgedanken dahinter lagen, und ab da nahm das Grauen seinen Lauf.

Aufgrund absolut verständlicher Überforderung wurde ich von meiner Chefin plötzlich dazu eingeteilt, Schulungen zu leiten, in denen ich eine Software erklären musste, von der ich noch nie etwas gehört hatte, die zum Zeitpunkt der Schulungen noch weit entfernt davon war, zu funktionieren und die dazu dienen sollte, die Schulungsteilnehmer*innen auf ihre zukünftige Arbeit vorzubereiten, weil sie bisher gewohnt waren, ihre technischen Arbeiten im Außendienst handschriftlich zu dokumentieren und von Laptops und Ähnlichem nichts wissen wollten.

Ich bekam Projekte umgehängt, deren Ursprung irgendein Update der Softwarefirma zugrunde lag, weshalb niemand genau wusste, was an den bisherigen Programmierungen geändert werden musste, um deren Funktionalität weiter zu gewährleisten, während die Fachbereiche, die damit arbeiten mussten, von Haus aus keine Änderungen wollten und dementsprechend kooperativ waren, und es verlässlich niemals jemanden gab, den man fragen konnte, der auch nur einen Funken verwertbare, hilfreiche Informationen hatte.

Selbst die Projekte, die früher kein Problem gewesen wären, verursachten grobe Schwierigkeiten, sobald man Programmierungen, die außerhalb unserer Zuständigkeit waren, anforderte, weil diese Kolleg*innen plötzlich nicht mehr sauber arbeiteten bzw. man sich auf deren Zusagen nicht mehr verlassen konnte. Man schickte ein stolzes Mail an die Fachbereiche, weil man die auf alle Heiligtümer dieser Welt geschworene, fixe Zusage bekommen hatte, dass die letzte notwendige Programmierung auf dem Produktivsystem nun funktionierte, und hatte eine halbe Stunde später 800 Störungsmeldungen, weil sich das Programm nicht einmal öffnen ließ.

Als ich mich darüber bei meiner Chefin beschwerte, schob diese mir die Schuld zu mit dem Argument: „Du weißt ja, dass die Kolleg*innen nicht mehr sauber arbeiten, und hättest du alles noch einmal durchgetestet, bevor du das Mail an die Fachbereiche geschrieben hast, hättest du alle Fehler dokumentieren, zurückschicken und die Fachbereiche vertrösten können.“ Ich argumentierte weiter: „Es kann nicht sein, dass es in Ordnung ist, zu akzeptieren, dass Kolleg*innen ihre Arbeit unfertig und falsch abliefern, und wir stattdessen deren Arbeit und Fehlverhalten, obwohl das in deren Zuständigkeit läge, ausbessern und so deren falsches Verhalten auch noch unterstützen und in weiterer Folge bei Beschwerden in der nächsthöheren Ebene die Antwort bekommen, dass doch eh alles funktioniere und worüber wir uns eigentlich aufregen …“ Sie nickte verständnisvoll, aber resignierend: „Ich kann die Situation nicht ändern. Entweder wir tun, was nötig ist, damit es am Ende funktioniert, oder unser Referat wird outgesourct.“

Ich erklärte unsere Zukunftsaussichten: „Das wird zur Folge haben, dass wir dann über kurz oder lang alles vollkommen alleine machen müssen, und das aber in Bereichen, von denen wir überhaupt keine Ahnung haben und auch nicht mehr die Zeit, uns in selbige einzuarbeiten.“ Sie nickte wieder resignierend, mahnte positives Denken ein, und als ich zugegebenermaßen aus der aktuellen Emotionalität heraus ein wenig deftig: „Es ist zwar oasch, aber es ist positiv oasch“ entgegnete, stieß sie ruckartig Luft aus ihrer Nase aus, grinste mich kopfschüttelnd an, und zum ersten Mal lag ich vor lauter Hass eine ganze Nacht lang wach, mein Magen fühlte sich an wie eine glühend heiße Bowlingkugel und ich schwitzte, als würde ich gerade ein Tennismatch bestreiten. Einige beruflich äußerst unglückliche Jahre zogen ins Land.

An der gerade beschriebenen Situation änderte sich nicht mehr viel, außer, dass ich mich daran gewöhnte, jede Nacht um 03:00 Uhr in der Früh schweißgebadet aufzuwachen bzw. Schüttelfrost zu haben, bis um 06:00 Uhr der Wecker läutete, und dass meine Arbeit ab einem gewissen Punkt ausschließlich aus von vornherein unlösbaren Projekten bestand, deren Voraussetzungen von Projekt zu Projekt an nicht mehr steigerbar geglaubter Aussichtslosigkeit auf erfolgreichen Abschluss um den aktuellen Aussichtslosigkeitsrekord stritten.

Wie Sie bereits vermuten werden, war schon lange nichts mehr mit Erholung von den vielen Freizeitaktivitäten in der Dienstzeit, sondern in der Regel kam ich heim und schlief ein bis zwei Stunden, um überhaupt wieder Kraft für irgendeine Handlung zu haben bzw. um, bis meine Frau als PKA in einer Apotheke im Normalfall gegen 20:00 Uhr nach Hause kam, wieder einigermaßen fit zu sein, weil sie nicht unter meiner Arbeitssituation leiden sollte. „Warum kündigst du nicht einfach oder wechselst zumindest die Abteilung?“ „Weil es innerhalb des Unternehmens gerade in jeder Abteilung so aussieht wie in meiner, mit dem Unterschied, dass ich in den anderen Abteilungen zwischen 500 und 1000 Euro netto weniger Gehalt bekomme und was mach ich dann, wenn die Probleme genauso unlösbar sind, mich genauso belasten und ich dafür auch noch um so viel weniger Geld bekomme als davor? Beim Kündigen besteht das Gehaltsproblem zwar nicht, sofern ich in der gleichen Branche bleibe, aber dafür ist mein Job nicht so sicher wie hier und von den externen Programmierer*innen habe ich die gleichen Geschichten gehört wie bei uns im Unternehmen, mit dem Unterschied, dass du einfach gekündigt wirst, wenn du die unlösbaren Dinge nicht löst.“ „Dann mach halt was ganz anderes.“ „Da bekomm ich dann in jedem Fall 1000 Euro netto weniger, weil die einzige offizielle Ausbildung, die ich abgeschlossen hab, die zum Bürokaufmann/-frau ist und ich bin jederzeit ersetzbar bei einem Beruf, der vermutlich ebenfalls wieder keinen Spaß macht und jede Woche 40 Stunden verschissene Lebenszeit darstellt und das kann ich nicht, weil ich kein Leben führen möchte, bei dem mir 40 Stunden jede Woche komplett wurscht sein müssen, damit ich es aushalte.“

Insgesamt sieben Jahre nach meiner ersten schlaflosen Nacht wurden bei meiner jährlichen Vorsorgeuntersuchung Herzrhythmusstörungen festgestellt, für die es keine körperlichen Gründe gab. Mir wurde ein psychologischer Test nahegelegt und bei der Befundbesprechung ein sofortiger Krankenstand inkl. psychologischer Betreuung dringend empfohlen. Einerseits half es sehr zu erfahren, dass nicht ich als Person bzw. meine Einstellung zur Arbeit, sondern die Arbeitsumstände schuld daran waren, wie es mir ging, andererseits ging es mir im Krankenstand nur geringfügig besser, da ich wusste, egal wie lange der Krankenstand auch dauern würde, irgendwann wieder zurück in diesen Job zu müssen. Ich beendete den Krankenstand also früher als geplant, erklärte meinem Abteilungsleiter, meinen bisherigen Job aus psychischen Gründen nicht mehr machen zu können, und ließ mich dazu überreden, im gleichen Team, aber einem anderen Bereich, die Tätigkeiten eines Kollegen, der ein bis zwei Jahre vor seiner Pensionierung stand, Schritt für Schritt zu übernehmen.

Zu Beginn fühlte ich eine kurzfristig Situationsverbesserung, aber bei näherer Beschäftigung mit den neuen Themen kristallisierten sich wieder die gleichen Probleme und die gleichen Zukunftsaussichten heraus, die der besagte Kollege mit Müh und Not bis zu seiner Pensionierung noch durchdrücken wollte. Als ich das erkannte, schaute ich mich nach Lösungsmöglichkeiten um und stieß durch Zufall auf eine Seite, bei der man 2500 Zeichen (ohne Leerzeichen) lange Kurzgeschichten veröffentlichen konnte. Ich erhielt positive Rückmeldungen in einem Ausmaß, das ich mir niemals träumen hätte lassen inkl. zum ersten Mal in meinem Leben bunt bemalter Fanpost im Briefkasten bzw. als ich in einer großen Buchhandlung in Wien Mitte einmal eine Geschichte von mir vorlesen durfte, von dunkelroten, aufgeregten, lieben Menschen die Hand geschüttelt und erzählt bekam, wie toll sie meine Texte fanden.

Plötzlich war es wieder da, dieses wunderschöne Gefühl von ganz früher, an das ich mich kaum noch erinnern konnte, nämlich mit einer Tätigkeit, die einem Spaß machte, anderen Leuten eine Freude bereiten zu können, und ab dann überschlugen sich die Ereignisse. Ich bekam eine Kollegin, die zumindest einen Teil meiner alten Tätigkeiten übernehmen sollte, gleichzeitig ging meine, mich immer zum Positiv-Denken ermutigende, Chefin aus psychischen Gründen in Krankenstand, ich wurde Vater und mich durchflutete plötzlich eine derartige Sinnhaftigkeit in meinem Tun, bei jeder gewechselten Windel, jedem Flascherl, jedem Trösten, Spielen, also eigentlich jeder Beschäftigung mit diesem wunderbar durch und durch reinen, ehrlichen Geschöpf, dass für mich nach meinem ersten Arbeitstag nach der Geburt bzw. nach dem Papamonat und die Art, wie mich der Kleine danach ansah, klar war, dass dies nun das Ende meines bisherigen Berufs bedeuten würde.

Dass die neue Kollegin, als sie sich von ihrem zukünftigen Arbeitsalltag ein Bild machen konnte, gleich wieder gekündigt hatte und mir ungefragt vom Abteilungsleiter deren Termine weitergeleitet wurden inkl. dem Mail an alle Fachbereiche, dass ab jetzt ich für all das zuständig sei, zusätzlich zu meinen aktuellen Tätigkeiten und der Info, dass meine Chefin nicht mehr zu uns zurückkommen würde, waren nur eine zusätzliche Bestätigung meines Entschlusses.

Fazit: Der 31.10.2020 war mein letzter offizieller Arbeitstag und seitdem stehe ich um die gleiche Zeit auf wie früher, setze mich aber, statt zu einem Ort zu fahren, für den ich ausnahmslos Hass und Verzweiflung empfinde, in unser ehemaliges Abstellkammerl und schreibe an meinem Roman und spüre, wie mir jede Seite, jeder Satz, jedes Wort, jeder Buchstabe, jedes Satzzeichen und sogar jedes Leerzeichen guttut, auch wenn ich die Folgen der letzten sieben Jahre immer noch mehrmals täglich spüre. Endlich fühlt sich wieder etwas sinnvoll, gut und richtig an, und vielleicht schaffe ich es ja, dass mein Roman, wenn er fertig ist, verlegt wird und ich davon einigermaßen leben kann, weil es dann genug Leute gibt, die damit eine Freude haben.

Ich würde jeden Tag schreiend vor Glück durch die Straßen rennen. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass ich das nicht schaffen werde, aber dann habe ich zumindest die Gewissheit, einen Roman fertiggestellt zu haben, auf den ich stolz bin, und mit dem wenigstens Verwandte und Bekannte eine Freude haben. So lange aber nicht alle Verlage dieser Welt den Roman abgelehnt haben, werde ich es probieren, und selbst wenn das passiert ist, schreibe ich einen neuen, der durch die gemachten Erfahrungen mit dem aktuellen Projekt noch besser werden wird.

Ich weiß jetzt was ich für mein Leben brauch. Schreiben. Einfach schreiben und spüren, wie ich mich Zeile für Zeile wieder gesünder fühle, um wieder Kraft zu haben für all die wunderbaren Dinge und Menschen auf dieser Welt, und ja, die gibt es. Es sieht nur so aus, als wären die Idioten mehr, weil die guten Leute meistens einfühlsam und ruhig sind. Schon all das in diesem Text aufzuschreiben, hat sich so unendlich wohltuend und gesund angefühlt. Allein dieses Kribbeln im Bauch, das ich gerade spüre, weil ich weiß, kurz davor zu sein, mit dem Text fertig zu werden, hat mich schon wieder ein Stück gesünder werden lassen, und wenn Sie bei diesem Text jetzt gerade zum ersten Mal kurz milde lächeln müssen, habe ich mein Ziel schon mehr als erreicht. Sowohl für den Text, als auch für mich selbst.

Abschließend muss ich sagen, dass der Schluss natürlich ein bisschen kitschig ist, aber wenn die Wahrheit einmal kitschig klingt, dann habe ich wohl endlich die richtige Entscheidung für mein Leben getroffen.

Lukas Lachnit

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer:  22108

 

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22107