Schlagwort-Archiv: ärgstens

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Tag 101

Der Morgen ist schön, und der Tag wird noch schöner werden.
Nichts stört, nichts tut weh, nichts ist schlecht.

„Облака“, gesprochen ablaka, wie die Russen sagen, bedeutet Himmel oder Wolken, „мир“, gesprochen mir, Friede.

Althofen und der Himmel darüber

Althofen und der Himmel darüber

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22064

Im Fernsehen

Es gibt keine Nähe. Ihr seid nur Figuren in einem Fernsehfilm. „Es wird immer schlimmer!“, sagt jemand. Mich betrifft das nicht. Ich esse Tortilla-Chips und sehe euch beim Sterben zu. Ich bin 2300 Kilometer entfernt.

Der Feuerlöscher wie in einem riesigen Fernseher in der U-Bahnstation

Der Feuerlöscher wie in einem riesigen Fernseher in der U-Bahnstation

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22056

Über dem Meer

Und plötzlich finde ich mich
wieder. Hier. Im Reich der Mitte.
Angebunden. An einen Stuhl.
In der Geschlossenen.

Nihao, zhi zhi, nicht viel.
Aber alles, was ich sagen kann.
Ich höre der Stille zu.

Ein alter Mann (so genau weiß
ich das Alter nicht mehr) gibt mir
Suppe, Bonbons, Kirschen
„Where do you come from?“
„That’s taboo!“

Ich zeige auf meine Wunden.
„Who did this to you?“
„That’s taboo!“

Er öffnet meine Fessel. Geht
mit mir ins Bad. Lässt Wasser
in ein Gefäß und reinigt mir
die Wunden. Ein Labsal.
„Where do you come from?“
„From the German consulate.“
Er trocknet mich sanft ab.
Es fühlt sich so schön an.

„What did these people do with you?“
„I don’t know.“
Ein kurzer Moment des Innehaltens.
„Why these people brought you here?“
„They said that I was an extremely dangerous person.“
Ich lächle, dann umarme ich ihn.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22054

 

Die Vernichtung der Menschheit

Vielleicht werde ich am 31. März 2022, wenn die Atomraketen fliegen, denken: Ich hätte etwas tun sollen.
Dieser Zeitpunkt ist jetzt, am Morgen des 20. März desselben Jahres. Doch was soll ich tun? Ich habe keine Ahnung. Ich finde nichts.
Möglicherweise wird mir am 31. März etwas einfallen, die Lösung des Problems, die Rettung der Menschheit und der Erde. Aber dann wird es zu spät sein.

Die Zerstörung des Hauses der Österreichischen Draukraftwerke in Klagenfurt

Die Zerstörung des Hauses der Österreichischen Draukraftwerke in Klagenfurt

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22048

 

Aus Putins philosophischem Antiquariat

Putins historische Rumpelkammer

„Die Russen haben keine schönen Erinnerungen, keinerlei Tradition, keine Geschichte, die unser Volk erzogen hätte. Wir sind ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Isoliert von der übrigen Menschheit, fehlt uns jede eigene Entwicklung, jeder wirkliche Fortschritt. Von den Ideen der Pflicht, der Gerechtigkeit oder Ordnung, welche die Atmosphäre des Westens ausmachen, sind wir ganz unberührt (...) Konfusion ist ein allgemeiner Zug in unserem Volk (...). Die Vorsehung scheint uns Russen völlig übergangen zu haben. Wir besitzen ein riesengroßes Land, aber geistig sind wir vollständig unbedeutend, eine Lücke in der Weltordnung. “

Diese Zeilen stammen keineswegs von einem zeitgenössischen Russland-Verächter aus dem Westen, so aktuell sie auch klingen mögen, sondern aus dem Gänsekiel des russischen Publizisten Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew, der 1829 in seinem „Ersten philosophischen Brief“ über die Zustände in Russland nachdachte. Der anfangs nur auf Französisch veröffentlichte Brief rief einen politischen Skandal hervor. Zar Nikolaus I., der kurz zuvor die Dekabristen aufhängen ließ oder in die sibirische Verbannung schickte, ließ Tschaadajew für verrückt erklären und verbot ihm jede weitere Publikation. Dieser antwortete darauf mit der „Apologie eines Wahnsinnigen“, in der er seine Thesen über Russland noch vertiefte. Er wies darin Russlands nur halb verstandene und unverdaute Rezeption der deutschen Romantik eines Schelling auf und die Unmöglichkeit eines richtigen Verständnisses von Hegel nach, weil Russland schlicht und einfach die realen staatlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dazu fehlten. Kulturphilosophen wie Isaiah Berlin und Boris Groys zeigen in ihren Essays, dass die gleichen Missverständnisse auch beim ideengeschichtlichen Import von Marx und Nietzsche nach Russland passiert seien.

Tschaadajews Schrift ist der Anfang der bis heute andauernden Auseinandersetzungen zwischen den Strömungen der Slawophilen und der Westler. Wohin gehört Russland? Zu Europa, zu Asien oder ist es etwas Drittes? Präsident Putin, vormals halbgebildeter und von jeder moralischen zivilisatorischen Beeinflussung freier Mensch, KGB-Major, spielt sich neuerdings als Historiker und Philosoph auf.
Im Juli 21, und zuletzt gestern bei seiner TV-Rede zur Rechtfertigung seines kriegerischen Überfalls auf die Ukraine. Viele selbsternannte Russlandkenner schwafeln von der Lust Putins, die alte Sowjetunion wiederherstellen zu wollen. Alle schreiben voneinander ab, übernehmen Standards und Klischees für Redezeiten und Honorare.

Ich glaube aber, das ist anders. Ich stelle mir vor, dass er schon lange in irgendwelchen unterirdischen Verliesen des Kremls sitzt und auf großen Tischen ausgebreitete Karten des Zarenreiches studiert.
Das verfügte über eine viel größere Ausbreitung als die Sowjetunion je hatte, samt ihrem Vorfeld der osteuropäischen Satelliten- Staaten. Dazu dauerte das zaristische Imperium etwa 200 Jahre länger als die scheinbar unbesiegbare UdSSR. Ich kriege die Bilder von Chaplins Großem Imperator nicht aus dem Kopf, wie er tanzend am Globus dreht und sich in einen Rausch hineinsteigert.
Das Baltikum, Finnland, Teile Rumäniens, die Walachei und Bessarabien, Teile Polens, Teile Persiens gehörten damals zum Zarenreich. Das zaristische Russland kämpfte mit dem Britischen Reich um Indien bis nach China. Über solchen Karten brütet Putin und nicht über die Brösel der Staaten von Osteuropa. Im KGB aufgezogen, ist seine Devise immer noch: „Wenn du auf Stahl triffst, weiche zurück, auf Weiches stich ein und vernichte es.“

Der neo-faschistische Ideologe Alexander Dugin ist ihm so wichtig als sein Herzensphilosoph wie sein Beichtvater. Das Kerzerlanzünden, die Verneigungen und das Bekreuzigen – er beherrscht es übrigens noch immer nicht so perfekt, wie jemand, der von Kleinauf in der Orthodoxie aufgewachsen ist, nicht die richtigen Bewegungen beim Verbeugen, beim Ikonen-Küssen, beim Kniebeugen, alles angelernt, Camouflage und Propaganda, der neuerdings Gläubige. Ich schaue genau hin und erkenne Fälschungen.

Einige sind nun in der EU und Mitglieder der NATO. Er dreht am Globus und studiert die Landkarten. Zur Erholung legt er sich auf das Fell eines sibirischen Tigers und studiert seine Lieblingsphilosophen Ilja Ilin und Nikolaj Berdjajew, die Schriften der alten und neuen Eurasier wie Sergej Bulgakow, Putins lebender Leib- und Magen-„Philosoph“, ein lupenreiner russischer Faschist. Meine Moskauer Freunde erzählen mir, er beratschlagt sich mit ihm so viel wie mit seinem Beichtvater. Wie sich da die Kreise schließen, der atheistische KGB-Agent im Einfluss von ideologischen Extremisten. Vielleicht wird die vordergründige Irrationalität des Krieges Putins gegen die Ukraine verständlicher.

Wie alle Halb- und Viertel-Gebildeten frönt Putin dem Eklektizismus und der Geschichtsklitterung, kurzen, nicht zu Ende gedachten Parallelen und verführerischen Übertragungen von Vergleichen in die Gegenwart, mit zunehmender Leidenschaft und zunehmendem Realitätsverlust. Ich glaube, er ist ein armer Irrer. Allein in den Kasematten, in denen noch das Blut von Ivan, dem Schrecklichen, Boris Godunow und den von Peter, dem Großen hingemetzelten Strelitzen klebt, kratzt er sich die Glatze und die nackte Brust unter dem Judo-Kostüm, streichelt ein sibirisches Pferd und krault die Kehle eines Delphins aus dem Schwarzen Meer. Einige von ihm dort gefundene Amphoren wird er um sich aufgebaut haben. Niemand aus seiner Entourage wagt es, den Grill mit den fetten, selbstgeangelten Kamtschatka-Forellen anzuwerfen. Aber die Bilder davon, die er in seiner Selbstinszenierung in die Welt geschickt hat, haben alle Menschen im Kopf.

Dazu noch der Flottenführer und der Kampfpilot mit Ray-Ban-Brille und einer 25.000 Euro teuren Schweizer Uhr am muskulösen, braungebrannten Handgelenk. Vielleicht darf seine Langzeit-Geliebte Alina einmal in den Keller hereinspähen. Nein, er denkt. Aber seine Leidenschaft wird von etwas anderem als von der hübschen, halb so alten usbekischen Turnerin gespeist. Er dreht wieder den Globus und beugt sich über die Karten.
Ukraina, die Brüder, Malorossia, Kleinrussland, Belorossia, Weißrussland, das hab ich schon.

Es geht um die Ukraine, sie ist unser, wir sind eins, also ich selbst, also darf ich sie umbringen. Ich darf die Hälfte von mir töten, weil das bin ja ich.
Der schwarze Gürtel ist weg, ihm vom Judo-Weltverband abgesprochen, auch schon wurscht, bald gehört mir die ganze Welt. Er denkt kurz, keine langen Züge, von A nach B und was ergibt vielleicht C? Das hat er nie gelernt. Weder in den Leningrader Slums noch beim KGB. Jura – Jus hat er studiert, da muss ich immer lachen. Was war denn in der Sowjetunion „Recht“? Rechtswissenschaft in der KGB-Akademie?

Putin, der Jurist? Ich kriege Hirn- und Magenschmerzen und innerliche Wutanfälle, wenn ich so etwas von unbedarften Russland-Kommentatoren zu hören bekomme. Schild und Schwert, steht auf dem Wappen des KGB. Ursprünglich die Tscheka als Waffe gegen die Konterrevolution, aber nach dem Sieg der Bolschewiken ein „Schild und Schwert“ gegen den Westen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Unter Schild und Schwert (schit i metsch) ist Putin sozialisiert worden. Wenn man seinen aktuellen Reden zuhört, hat sich daran nichts geändert, bis auf die Ausweitung auf seine zaristischen Ambitionen.
Ich habe noch vor Augen die Bilder vom ersten Besuch eines wichtigen westlichen Gastes, des englischen Premiers Tony Blair in St. Petersburg mit seiner hochschwangeren Frau. Wie er in der Zarenloge des Mariinski Theaters saß, wie er seine triumphalen Blicke und Gesichtszüge kaum unter Gewalt bringen konnte. Da gingen viele Gewitter ab. Der räudige Straßenhund aus dem Hinterhof, ein schlechter Schüler, ein Rowdy, den nicht einmal der KGB aufnehmen wollte, am Ziel, so sah ich ihn, das war 2004, kurz vor seiner ersten Wahl.

Die ukrainische Bevölkerung sitzt in Kellern und U-Bahnstationen, Putin sitzt in den Kreml-Gewölben. Keller gegen Keller. Wer ist lebendiger? Wer hat mehr Zukunft? An welcher Seite sind wir?

Als der jüngste Vertreter des alten Slawophilen-Huts hat sich am 16. April 2014 der russische Präsident Putin geoutet. Während seiner vierstündigen „Ansprache zum Volk“ schwadronierte er von der Opferbereitschaft und der Leidensfähigkeit der Russen, was ihre moralische Überlegenheit gegenüber dem Westen ausmache. Die Kernbotschaft seines in allen großen Fernsehkanälen direkt übertragenen Schmierentheaters lautete: Der russische Mensch, der Mensch in der russischen Welt, das russische Volk ist bereit, für die russische Welt zu sterben. Opfer, Leiden, Sterben – das war immer schon ein beliebter Zynismus der Diktatoren. Er hatte wenige Tage davor die ukrainische Krim besetzen lassen und war gerade dabei, den Krieg in der Ostukraine anzufachen.

„Dulc(e) et decorum est pro patria mori“– Süß und ehrenhaft ist es, für das Vaterland zu sterben, dichtete schon Horaz in den Carmina III.2.13.
Putin hat das territoriale Russland ausgedehnt auf „die russische Welt“, und die ist laut Putin überall dort, wo russische Menschen leben und russische Interessen betroffen sind: die Krim, die Ukraine, das Baltikum, Transnistrien, Georgien, Ossetien oder weiter bis in 1. und 4. Wiener Gemeindebezirk, nach Nizza und London, Kensington Park? „Mir scheint, dass der russische Mensch, der Mensch der russischen Welt, vor allem daran denkt, dass es irgendeine höhere moralische Bestimmung des Menschen gibt“, sagte Putin, der frisch gebackene Philosoph auf dem Präsidententhron. Das ist Rassismus pur. Wusste er nicht: laut einer UNESCO-Definition aus dem Jahr 1995, der „Glaube, dass menschliche Populationen sich in genetisch bedingten Merkmalen von sozialem Wert unterscheiden, sodass bestimmte Gruppen gegenüber anderen höher – oder minderwertig sind.“

Was in westlichen Ohren wie befremdliches Gefasel von Nationalmentalitäten klingen mag, ist aber das Hintergrundgeräusch eines beinharten geopolitischen Kampfes, zu dem Putin angetreten ist. Während er in den Nuller-Jahren etwa bis 2007 im Westen noch wie ein Wolf im Schafspelz Kreide gefressen hatte – siehe seine viel bejubelte Rede vor dem Deutschen Bundestag – trat mit seiner Stiftung „Russki mir“ erstmals in der postsowjetischen Zeit die neue imperiale Ideologie von Eurasia auf. „Die russische Welt kann und muss alle vereinen, denen das russische Wort und die russische Kultur teuer sind, wo immer sie auch wohnen, in Russland oder außerhalb. Verwenden Sie diesen so oft wie möglich – russische Welt.“ Die Tragik besteht darin, dass im Russischen mir/Welt  und mir/Friede Synonyme sind. Warum, das hat mir bis heute noch kein Semiotiker zufriedenstellend erklären können, nicht einmal Noam Chomsky. Er kann trotz seiner russischen Herkunft kein Russisch.
(Zit. Nach Ulrich Schmid: Russki mir. Dekoder 2016.)

Zur Ideologie der „russischen Welt“ gehört wie ein siamesischer Zwilling das „nahe Ausland“. Gemeint ist damit die Einflussnahme auf die ehemaligen Sowjetrepubliken, deren Selbständigkeit in den Tiefen des Kreml nie anerkannt wurden. Georgien, die Ukraine, Moldawien haben es am eigenen Leib verspürt, für die anderen ist das eine ständige Bedrohung.
Mit der Gründung der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ 2014 wollte sich Putin den langgehegten Wunsch nach einem Gegenprojekt zur EU erfüllen. Neben Belarus und Kasachstan konnten sich lediglich Armenien und Kirgistan zum Zusammenschluss durchringen. Sie ist aber eine wirtschaftliche und eine ideologische Totgeburt geblieben. Seit der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine mit den nachfolgenden Sanktionen ist sie sicher nicht attraktiver geworden. Erst mit dem Einstieg in den Syrien-Krieg zur Unterstützung des Assad-Regimes konnte er sich auf die Weltbühne katapultieren und mit seinem Konkurrenten USA auf Augenhöhe stehen. Die „russische Welt“ hat er mit dem Siegerkonzert in die Ruinen von Palmyra getragen. Valeri Gergiev spielte am 6. Mai 2015 mit dem Orchester des Mariinski-Theaters Werke von Bach, was ungefähr so geschmackvoll war wie im besetzten Paris Wagner zu spielen. Ein Politporno, den man sich jederzeit auf YouTube reinziehen kann. Der Dirigent und das Orchester mit weißen Baseballkappen umringt von russischen und syrischen Militärs inmitten der Ruinen.

So wie Stalin in den 30-Jahren die Orientierung an einer ganzheitlichen, homogenen „sozialistischen Kultur“ erzwungen hat, so wird unter Putins Dirigat Russlands Geistesleben auf ein immer aggressiveres, einheitliches „russländisches Denken“ und seine „historische Mission“ eingeengt. Putins Monolog und das inszenierte Antwortspiel sollten als Einstimmung in eine Zeit kommender Opfer, der Wehrbereitschaft und des massenhaften Heldentums dienen, durch das sich laut Putin das russische Volk vor allen anderen auszeichne.
Auch wenn es in der heutigen Welt viel Austausch gäbe, auch von Genen, könne Russland von anderen Völkern so manches aufnehmen, die Russen würden sich aber immer auf ihre eigenen Werte stützen, so auch die Bereitschaft, für ihr Volk zu sterben. „Gene“ waren im 19. Jahrhundert noch unbekannt, aber von den „ursprünglich russischen Werten“, die den Rest der Welt erlösen sollten, schwafelten auch schon die slawophilen Schriftsteller angefangen bei Gogol, den Brüdern Aksakov, Dostojewskij, Solowjow, Trubetzkoi bis zu Solschenizyn. Auch der für die Vorbereitung des Ersten Weltkrieges so bedeutende wie verheerende Panslawismus kommt aus den finsteren Winkeln des russischen Slawophilentums.

Putins Banalitäten über eine russische „Volkspsychologie“ und das Verhältnis zum Westen gleichen dem Ödipus, der bei Freud über den Ödipus-Komplex nachliest oder einem afrikanischen Häuptling, der eine Kubistenausstellung besucht, schreibt Groys. Er verkauft die russische Kultur als Realisierung der westlichen Träume und gleichzeitig als ihre Überwindung, nicht als das andere neben einem gleichen, sondern als die absolute Alternative. Was Putin so wütend macht, ist, dass trotz aller Lockangebote Russland für den Westen bisher immer ein Ort der Bedrohung geblieben ist. Am russischen Wesen wird die Welt genesen. Dafür gibt es schreckliche Beispiele.

Der von Stalin ermordete Dichter Josip Mandelstam warnte schon früh vor der eurasischen Krankheit, an der Russland leidet. „Die Russen haben eurasische Geistesanfälle, aber nur das Europäische hilft uns weiter.“ Er fragt, was Russland ohne Europa wäre, wäre es dann Russland plus Asien? Nein, denn es gehört keinem dieser zivilisatorischen Kreise an und wäre eine Leerstelle.

Der ehemalige KGB-Major Putin hat seinen Stalin genau gelesen. Mit ähnlichen Worten und Gedanken richtete sich Stalins Radiostimme einige Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 an sein Volk, aus dem Bunker, in den er sich wochenlang verkrochen hatte. Stalin mobilisierte sogar die orthodoxe Kirche, die er seit seiner Machtergreifung gnadenlos verfolgt hatte, und gab ihr weitgehende Freiheiten, um die Kampfbereitschaft der Massen zu erhöhen.
Das hat Putin jetzt nicht nötig, er ist schlauer als Stalin, er hat die ROK mit sich an die Macht gebracht. Er, der ehemalige, kleine, kommunistische Geheimdienstagent, hat nach einem angeblichen Nahtoderlebnis zur Mutter Kirche gefunden und diese in seinen absolutistischen Machtapparat einbezogen.
Aus den Insignien des KGB von Schild und Schwert ist so ein Dreigestirn mit dem Andreaskreuz geworden, das über Russland herrscht. Die ROK hatte vor dem Prozess gegen die Aktionskünstlerinnen von Pussy Riot in einem Kreuzzug der staatlichen Medien sieben Jahre Haft wegen „Blasphemie und Erzeugung von Hass auf die Religion“ gefordert, immer vom Staat und seinen Medien konzertiert. Auch das Anti-Homosexuellengesetz ist ein lange gefordertes Zugeständnis an die Kirche, die in der Legalisierung der Homo-Ehe im Westen Vorzeichen für die herannahende Apokalypse sieht. Putins scheinbare Neuerfindung Russlands hat den Russen nach dem „Opium fürs Volk“, der Religion, nun das berauschende Gift des Nationalismus beschert. Ein russisches Sprichwort war schon einmal klüger als die derzeitige Politik: Wenn die Trompete ertönt, ist der Verstand im Wind.

Die ROK dient Putin noch auf eine andere Weise. Sie, die von Anfang an gegen den Westen, die lateinische Welt, gerichtet war – das vierte Rom als Erbe von Byzanz und Rom – versteht sich als das wahre Christentum, das rechtgläubige, das universale Christentum, das andere ist das abgefallene. So wie in allen imperialen Staatsformen von den Zaren bis Putin versucht die ROK als Staatsideologie den universalen christlichen Anspruch in politische Herrschaft überzusetzen. Das hat Putin gemeint, als er von der Überlegenheit der russischen Werte sprach, er beansprucht nicht mehr und nicht weniger als die Anerkennung einer größeren Universalität als die gesamte westliche Kultur.
Im Übrigen zeigte sich in den 80 Jahren des russischen Kommunismus – eine aus dem Westen von Russland angeeignete Ideologie – der gleiche gegen die westliche, kapitalistische Moderne gerichtete Anspruch, sich das Westliche anzueignen, um es besser bekämpfen zu können. Russlands antizivilisatorische Rückwende zum großrussischen Chauvinismus verrät trotz seines zur Schau gestellten dummdreisten Triumphalismus aber mehr von Schwäche als von Stärke. Was wie ein Meisterstück seiner Geheimdienste aussieht, die Besetzung und Annexion der Krim, ist kein Sieg, sondern der erste tönerne Fuß, auf dem Putin einknickt. So dialektisch kann Geschichte funktionieren.

Die russischen Werte, Vorteile, Vorzüge, die Opferbereitschaft und das Leidenspotential bestehen darin, mehr Wodka zu vertragen und mehr Kalaschnikovs zu verkaufen als alle anderen, das hat sicher jeder Politiker, Diplomat, Manager, Journalist oder Tourist schon am eigenen Leib erfahren.
Mit Tschaadajew kann man heute noch sagen, dass die russischen Verhältnisse so sind, dass man sie bei klaren Sinnen nicht ertragen kann. Es ist aber auch möglich, dass in den Kreml-Küchen ein Gebräu aus anderen Töpfen als Slawophilentum und ROK, zaristischem Imperialismus oder Stalinismus gebraut wird. Der bei uns vergessene Autor Konstantin Leontjew behauptete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, „dass ausschließlich Unfreiheit und Unterdrückung eine geschichtliche Originalität eines Menschen oder einer Kultur hervorbringen (...). Ein befreiter Mensch oder eine befreite Kultur verlieren diese äußeren Grenzen und werden grenzenlos banal.“ Als Beispiel führte Leontjew, der längere Zeit auf dem Balkan verbracht hat, die Völker des heutigen Jugoslawiens und Griechenlands an, von denen er behauptete, dass sie nur im Zustand der Unterdrückung durch die Türken attraktiv waren. (Boris Groys, S 13).
Leontjew ist er jener Obskurant unter den Slawophilen, der meinte, wenn man Russlands Werte und Traditionen erhalten wolle, müsse man es einfrieren.

Die Selbstauflösung der Sowjetunion, für Putin die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts, hat in Russland exakt zu dem Zustand geführt, vor dem Leontjew gewarnt hatte. Putins Wende rückwärts in die Rumpelkammer der Geschichte wird weder Russland noch die Welt weniger düster machen. „Wir sind niemals mit anderen Völkern zusammengegangen, wir gehören keiner der großen Familien des Menschengeschlechts an, wir gehören weder zum Osten noch zum Westen, haben weder die Traditionen des einen noch des anderen. Wir stehen gewissermaßen außerhalb der Zeit, die allgemeine Erziehung des Menschengeschlechts hat uns nicht einbegriffen. “

Tschaadajews Klagen aus der Zeit des Dekabristen-Mörders Nikolai I. sind einhundertfünfundachtzig Jahre alt und klingen dank Putin leider wieder ganz aktuell.

26.4.14, 10 Tage nach der Annexion der Krim, ergänzt am 22.6.17, ergänzt am 25.2.22, 1 Tag nach dem Angriff auf die Ukraine

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22044

Jede Sekunde

Die Welt, genauer gesagt die Erde, wird binnen einer Woche untergehen.
Hast du Angst?
Das wäre verständlich.

Vielleicht sollten wir eine Party veranstalten, feiern, bis wir sterben.
Nur sollte sich niemand verlieben,
denn eine Liebe ohne Zukunft ist grausam.

Ich selbst habe keine Ahnung, was ich tun werde.
Dabei ist jede Sekunde jetzt kostbar.
Eigentlich möchte ich alleine sein.

Die Königin stirbt

Die Königin stirbt

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22043

Besuch bei den anonymen Katzenhassern

Ich: Hallo, ich bin Klaus. Ich bin Katzenhasser.

Alle: Hallo Klaus!

Ich: Also, ich tu mir jetzt schon ein bisserl hart, hier zu stehen und mit euch zu reden über etwas, das tief in mir drinnen ist, aber ich muss ja. Der Richter hat mich zu den Treffen der „Anonymen Katzenhasser“ verdonnert und, na ja, das ist halt neu für mich. Habt’s also bitte Geduld mit mir.

Mit dem Katzenhassen habe ich – ehrlich gesagt – schon in meiner Kindheit und Jugend angefangen. Meine Familie wohnte damals auf einem Bauernhof. Dort gab es immer Katzen. Eine, eine schwarze, war mir sehr ans Herz gewachsen. Ich streichelte sich, sie schlief in meinem Bett. Eines Tages überfuhr sie der Bauer mit dem Traktor, unabsichtlich, wie er sagte, und mein Vater befahl mir, sie zu begraben. Es war Winter. Es war schweinekalt und die tote Katze war steifgefroren, ich nahm sie am Schwanz und sie stand – so waagerecht von mir weg. Ich begrub sie im Misthaufen, die Erde war ja auch gefroren.

Nach diesem – wie ich heute weiß – traumatischen Erlebnis ließ ich lange keine Katze an mich heran, dann doch wieder, eine rotgestreifte, auch sie lebte nicht lange, ich begrub sie am Rande des Kartoffelfelds. Ich schwor mir, nie wieder eine Katze zu haben.

Das hielt, bis ich Student wurde in der großen Stadt. Mit der Freundin zog in unsere WG eine Katze ein, der das aber nicht gefiel. Sie schiss allen WG-Bewohnern in die Schuhe. Also wurde in der Runde  – mit Ausnahme der Katzenbesitzerin – beschlossen, das Tier, nun ja, wie soll ich sagen, zu entsorgen halt. Das Los fiel auf mich. Ich nahm den WG-eigenen Baseballschläger und begrub die Katze gegenüber in der Hundefreilaufzone.

Kurz darauf suchte ich zum ersten Mal psychologische Hilfe. Die Therapeutin – sie hatte eine Karthäuser-Katze, so eine edle, graue, die eines Tages spurlos verschwand –, sie riet mir jedenfalls zu einer Hyposensibilisierung. Ihr kennt das bestimmt von Allergien. Dabei setzt man sich langsam steigenden Dosen des Allergens aus, bis man sich an die Allergie gewöhnt hat. So ungefähr hatte ich das verstanden.

Ich begann mit einem Katzenfell, legte mir dann eine ganz kleine Katze zu und tauschte die Tierchen – immer häufiger auch lebendig – gegen immer größere Exemplare in den Tierheimen um. Im Urlaub fuhr ich ins Disneyland und umgab mich mit Aristocats. Inzwischen war ich wieder zurück aufs Land gezogen und dort fand ich mich eines Tages mit einem Puma wieder. Ich hatte ihn billig vom insolventen „Zirkus Muzikatz“ gekauft und in einem durchaus großzügigen Gehege im Garten gehalten. Der Kontakt mit der zahmen Großkatze sollte mein Gesellenstück in Sachen Abhärtung werden. Denn mittlerweile hatte ich meine Katzenhasserei halbwegs im Griff, aber als der Puma begann, mir um die Beine zu streichen und mich allein seines Gewichts wegen immer wieder in den Dreck zu werfen, und dann auch noch anfing, mir Köpfchen zu geben, mit seinen Pranken auf meinen Schultern, und mich dabei halb bewusstlos zu schlagen mit seinem stinkenden Schädel, nun ja, da begrub ich ihn – eh in der Nacht – auf dem Fußballplatz des FC Alkoven.

Leider erwischte mich dabei der Platzwart, ihn hatte seine Katze darauf trainiert, sie um Mitternacht ins Haus zu lassen. Er holte die Polizei. Kurz: Ich bekam wegen Tierquälerei und Sachbeschädigung zwölf  Monate auf Bewährung und muss so lange eure Treffen absolvieren. Ich hoffe, ihr könnt mir irgendwie helfen, … (böser Blick) vielleicht mit der einen oder anderen Katze, ich nehme auch dreibeinige und räudige. Katzenbabys kein Hindernis … Danke für eure Aufmerksamkeit.

Alle: Danke, Klaus.

Klaus Buttinger

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22037

 

Das Unglück

Er hat viele Entschuldigungen,
aber geschehen ist das Unglück trotzdem.
Und es zerstörte viele Leben, auch seins,
obwohl er daran keine Schuld trägt,
wie er stets sagt.

Der morgendliche Schneewald hinter dem Fenster mit Spiegelungen

Der morgendliche Schneewald hinter dem Fenster mit Spiegelungen

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22019

Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil III

Nicht so schnell! Haben Sie schon Teil 1 und Teil 2 gelesen?
Dies ist der finale Teil der Geschichte.

Hinweis der Redaktion: Dieser Text kann verstörend wirken, er enthält Gewaltszenen.

Sie setzte sich in ein Café auf dem Kapuziner-Boulevard und bestellte ihr Lieblingsgebäck mit Erdbeermarmelade. Dazu trank sie eine Brause.
Ein junger Mann warb lauthals für bewegte Bilder, die im „Grand Café“ präsentiert wurden. „Die siebte Kunst“ nannte man diese nagelneue Erfindung der Brüder Lumière. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Jeannes Truppe viele Besucher in ihrem Varieté. Meistens waren es die Reisenden, die neue Erfahrungen sammeln wollten, um davon ihren Familien und allen in ihren Heimatorten prahlerisch zu erzählen. Aber es gab auch ein paar Ansässige, die immer wieder vorbeikamen.
Aber jetzt, wo es etwas Neueres gab, verringerte sich die Anzahl geradezu drastisch. Der Patron machte sich schon Sorgen.
„Ich kann die Faszination dieser Leute nicht teilen“, sagte er und stieß dabei einen tiefen Seufzer aus. „Was ist daran so interessant? Es sind schwarz-weiße flache Bilder der gewöhnlichsten Menschen. Ist das Leben an sich nicht lebendig und bunt genug? Der Teufel soll sich diese infernale Maschine zurückholen!“ Er spuckte verächtlich auf den Fußboden.
Jeanne spürte, dass er enorme Angst hatte, Angst, diesen endlich errungenen Halt zu verlieren.

Sie wurde neugierig, und da die verbliebene Zeit es ihr erlaubte, kaufte sie eine Eintrittskarte zu der Kinovorführung und betrat den umgebauten Billardsaal, der rappelvoll war.
Nach langer Suche fand sie einen freien Platz und quetschte sich zwischen zwei korpulente, stark nach Parfum und Schweiß riechende Frauen, die sich offensichtlich keine Mühe gaben, Jeanne ihr Hinsetzen zu erleichtern. Sie hörte jemanden munkeln, die Gebrüder hätten die Idee von einem Amerikaner während ihrer Reise durch den Traumkontinent geklaut. Dann ließ sie ihren Blick im Raum schweifen. Vor sich sah sie eine weiße Leinwand. Dann drehte sie sich um und bemerkte zwei fast gleich aussehende Männer an der hinteren Wand, die an einem hoch gestellten, quadratischen Apparat geschickt herumhantierten. Als sie schließlich fertig waren, traten sie vor das Publikum. Sie wirkten wie eineiige Zwillinge. Der einzige Unterschied war, dass einer von ihnen eine Brille trug. Man konnte unmöglich bestimmen, welcher der ältere und welcher der jüngere Bruder war. Jeanne fand es ziemlich amüsant.

Der ohne Brille bedankte sich für das große Interesse an ihrer Erfindung, erklärte kurz, aber verständlich, wie der Apparat, den er Filmprojektor nannte, funktionierte, und teilte mit, dass zehn Filme gezeigt würden. Der andere wünschte allen viel Vergnügen an diesem wunderschönen Abend. Sie gingen wieder zu ihrer „infernalen Maschine“ und schalteten sie ein. Ein schwacher Lichtstrahl wurde zu der Leinwand ausgesandt. Die Saallichter wurden gelöscht und man konnte jetzt deutlich Staubkörner und Zigarettenrauch im Strahl des Projektors schweben sehen. Eine Weile passierte nichts. Anscheinend gab es einen kleinen technischen Fehler, an dessen Behebung bereits tüchtig getüftelt wurde. Währenddessen dachte Jeanne an den seltenen Namen Lumière, der „Licht“ bedeutete. Sie fand es vielsagend, sogar transzendent, dass ausgerechnet die Personen mit diesem Namen unmittelbar mit dem Licht zu tun hatten.
Sie waren für diese Aufgabe vorherbestimmt, war sie sich sicher.

Hier und da ertönte schon nervöses Gekicher und Getuschel. Jemand legte mit einem melodischen Pfeifen los. Jeanne schaute noch mal nach hinten. Der Bebrillte fing an, eine kleine Kurbel zu drehen. Ein leises Rattern entstand. Es ging los.
Fast alle Zuschauer gaben simultan ein Geräusch des Staunens von sich. Ein Mann im Bild versuchte, auf ein Pferd zu steigen, dabei fiel er mehrmals herunter. Alle lachten hell und prächtig.
Der Film war damit zu Ende und schon fing der nächste an.
Ein Gärtner bewässerte den Garten. Ein Jugendlicher schlich sich an ihn heran und stellte sich auf den Schlauch. Der Wasserstrahl hörte auf zu fließen. Der ratlose Gärtner schaute in die Öffnung des Schlauchs und wurde von einer unerwarteten Fontäne bespritzt, da der Jugendliche seinen Fuß vom Schlauch genommen hatte. Dann lief er weg, wurde aber von dem rasenden Mann eingefangen, am Ohr gezogen und bekam den Hintern versohlt.
Das Publikum krümmte sich vor Lachen. Einige mussten sogar hinauslaufen, denn sie kriegten schlecht Luft.
Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein. Die Zuschauer in dem linken Teil des Saals wurden langsam unruhig und gerieten in Panik. Es entstand ein Angstgeschrei. Manche bückten sich, manche sprangen zur Seite, um sich vor der nähernden Dampflokomotive zu retten.
Von einer Maschinerie produziertes Echo des Lebens  faszinierte wie ein Zauber. Die ganze Vorstellung dauerte ungefähr zwanzig Minuten. Beim Hinausgehen hatte Jeanne das Gefühl, in einer anderen Welt gewesen zu sein. Gleichzeitig machte sie sich auch Sorgen um die Zukunft ihres Varietés.

In ihrer bescheidenen Kammer im Theatergebäude angekommen, setzte sie sich vor den Spiegel und betrachtete eingehend ihre unweiblichen Gesichtszüge. Ihr markantes Kinn und die etwas zu breite Stirn gefielen ihr nicht. Mit dem Anflug leichter Selbstverachtung rümpfte sie die Nase. Dann löste sie ihr nussbraunes Haar und fuhr mit ihrer Hand hindurch. Sie wollte es schon seit Langem ganz kurz schneiden lassen, aber der Patron war entschieden dagegen.
Heute war sie nach der Nummer mit dem Feuerspucker dran. Sie musste an den jungen Andre mit seinen goldenen Locken denken. Er hatte vor zwei Jahren seinen ersten Bühnenauftritt bei ihnen gewagt. Er war sehr aufgeregt. Jeanne wusste noch ganz genau, was sie ihm damals gedanklich gewünscht hatte: ‚Bitte, verbrenn nicht dein schönes Gesicht.‘ Er hatte ihr verwirrt zugelächelt, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Leider passierte etwas noch Schlimmeres. Er war mit der Vorstellung fast durch, alles lief perfekt und auf einmal machte er einen gravierenden Fehler. Er atmete die Flammen ein und verloderte seine Lungen. Er war an Ort und Stelle tot.

Jeanne hatte die ganze Nacht geweint. Wie es schien, hatte sie immer noch einige Tränen für ihn übrig, denn zwei feuchte Schmerzensperlen rollten ihr rasch die Wangen hinunter.
Es wurde Zeit, sich vorzubereiten. Mit eiskaltem Wasser wusch sie sich das Gesicht. Ihr blutrotes Kleid legte sie ab. Stattdessen zog sie ihr schwarzes Kostüm an. Es bestand aus einem einfachen, ärmellosen Oberteil mit einem tiefen V-Ausschnitt und einem ziemlich kurzen Rock. Der Patron wollte, dass man ihre langen, attraktiven Beine sehen konnte. So erhoffte er, mehr Erlös zu erzielen. Sie war damit einverstanden. Sie hätte es ihm schlecht abschlagen können, da sie bereits ein unmoralisches Angebot von ihm abgelehnt hatte. Er hatte ihr vorgeschlagen, nach dem Auftritt ihre Verehrer als Freier in ihrem Zimmerchen zu empfangen, wie es die meisten Frauen der Truppe bereits liebend gerne taten. So, wie Marie „das Puppengesicht“, die ihre Moneten nicht nur mit ihrem schönen Antlitz verdiente. Es wurden nur die Männer aus der höheren Gesellschaft zugelassen, denn das Etablissement hatte einen guten Ruf zu verlieren. Außerdem platzten ihre Portemonnaies von der schweren Last.

Obwohl Jeanne auf diesen Weg viel schneller ihren Traum von Amerika verwirklichen hätte können, hielt sie nichts davon. Lieber wartete sie länger, aber blieb so rein, wie es nur möglich war, in dieser lasterhaften Welt.
Nach dem Umziehen holte sie ein längliches, jadegrünes Köfferchen unter dem Bett hervor und machte es auf. Darin befand sich der Degen von Pierre. Sie hatte nie versucht herauszufinden, was die Inschrift bedeutete. Sie ließ sich lieber im Glauben, dass es eine nicht entzifferbare Zauberformel war, die ihr Leben schützte. Sanft strich sie mit ihrer Hand entlang der perfekten Klinge, dabei murmelte sie vor sich hin. Es hörte sich an wie das Wispern einer innig verliebten Frau, gerichtet an ihren tief schlummernden Geliebten.
Sie durchtränkte einen Wattebausch mit Essigessenz und reinigte damit die Klinge, damit sich keine Patina ansetzte. Dann polierte sie ihn mit einem weißen seidenen Tuch bis auf Hochglanz.

Es klopfte an der Tür. Der Patron trat ein.
„Bist du bereit?“
Sie nickte. Dabei fiel ihr auf, wie schnell er gealtert war. Er tat ihr plötzlich sehr leid.
„Warum schaust du mich so an?“, fragte er verwundert. „Hast du noch nie einen Adonis gesehen?“ Er lachte herzlich. Sie konnte nur schwach lächeln.
Mit dem Degen in der Hand ging sie auf die in der Mitte beleuchtete Bühne und stellte sich in das Rampenlicht. Ein leiser Applaus weniger Anwesenden schallte im verdunkelten Raum. Der vertraute, abgestandene Geruch des Saals. So wehmütig anmutend.
„Für Pierre“, sagte sie verhalten.
Mit dramatischer Begleitung einer Djembe, gespielt von einem bejahrten Afrikaner, durchzog sie ihre Nummer, deren jede Bewegung sie sich tief eingeprägt hatte. Sie fühlte sich wie eine Zuschauerin, während ihr geübter Körper seine schwierige Aufgabe mit bewundernswerter Leichtigkeit erfüllte. Es war, als ob sie die Kontrolle vorübergehend einem unsichtbaren Wesen überließ, das sie liebevoll leitete. Bald war dieser mystische Akt zu Ende.

Mit schwirrendem Kopf ging sie zurück in ihre Kammer, wo sie den Degen kurz reinigte und ihn dann ins Köfferchen zurücklegte. Der Dolch blieb hinten an ihrem Kostüm angelegt.
Wieder ertönte ein Klopfen, aber keiner kam unaufgefordert herein.
Anscheinend ein Fremder. Sie stand auf und machte die dünne, hölzerne Tür auf. Die Angeln knarrten. Vor ihr stand ein sauber rasierter, älterer Mann in einem blutroten Frack. Seine stämmige Figur verriet, dass er einst ziemlich stark gewesen war.
„Darf ich?“, fragte er mit einer Höflichkeit, die ein mulmiges Gefühl hervorrief.
„Ich weiß nicht, was Sie gehört haben, aber ich mache so was nicht. Sie müssen zu den anderen Mädchen gehen“, sagte Jeanne entschieden und war im Begriff, die Tür vor seiner Nase zuzuschlagen, aber er hielt sie mit einem Arm auf.
„Ich muss mit dir reden.“ Ein diffuses Licht blitzte in seinen Augen auf.
„Kennen wir uns?“
„Bitte“, sagte der Mann mit Nachdruck.

Sie trat zur Seite und gewährte ihm den Eintritt, obwohl ihre Vernunft Alarm schlug.
Er stellte sich in die Mitte des Zimmers und schaute sich alles genauer an. Indes machte Jeanne die Tür zu und beobachtete ihn angespannt.
„Darf ich mich hinsetzen?“, fragte er und ohne die Antwort abzuwarten, ließ er sich auf den einzigen Stuhl nieder.
Wie eine Somnambule setzte sie sich ihm gegenüber aufs Bett. Die alte Federkernmatratze knarrte.
Jetzt starrte er sie mit einem lüsternen Blick an. Ein anzügliches Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.
Endlich kroch es ihr ins Bewusstsein, wer vor ihr dasaß. Ihr Stiefvater.
„Was willst du?“, fragte sie mit dem Beiklang des Schreckens, der ihm natürlich nicht entging. Ihre Knie zitterten wie frisch gefangene Frettchen in einem engen, dunklen Käfig. Mit aller Willenskraft versuchte sie, es zu verbergen.

Sein durchdringender Blick musterte sie von Kopf bis Fuß. Ihr war, als würde er ihr bis in die Eingeweide hineinschauen. Sie empfand den Anflug einer längst vergessen geglaubten Pein wieder.
„Wer ist dieser Pierre, dem du deinen Auftritt gewidmet hast? Ist er dein Liebhaber, versteckt er sich irgendwo?“ Höhnisch schaute er sich um.
Am liebsten hätte sie ihm jetzt den Kopf abgeschlagen. Keiner durfte Pierres Namen in den Dreck ziehen, besonders der da nicht. Dieses Schwein!

Als sie noch bei ihm und ihrer Mutter wohnte, war er ein angesehener Anwalt. Damals trug er einen Vollbart. Wie ein Bär sah er in seinem maßgeschneiderten, teuren Anzug aus. Ein Muskelpaket, dazu noch verschlagen wie ein Fuchs. Kein Wunder, dass sie ihn in seiner neuen Aufmachung nicht sofort erkannt hatte. Sie tat alles, um ihn aus ihrem gequälten Gedächtnis zu löschen, aber je mehr Mühe sie sich gab, desto lebhafter wurde sein Schatten, der sie noch lange nach ihrer Flucht verfolgte. Erst als sie endgültig entschied, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nur noch nach vorne zu schauen, ließ der Quälgeist sie allmählich in Ruhe.

Er hatte sie oftmals als Jugendliche entehrt. Ihre Mutter wusste Bescheid, denn wie könnte es ihr nicht aufgefallen sein, dass ihr braver Ehemann fast jede Nacht ihr breites Ehebett verließ, um nach einer Stunde, erschöpft und nach ihrer Tochter duftend, unter die Decke zu kriechen und tief einzuschlafen?!
Sie erinnerte sich an das erste Mal, als er unangekündigt in ihr Schlafzimmer trat, unter dem Vorwand, mit ihr etwas Wichtiges besprechen zu wollen. Es war Mitternacht. Sie lag in ihrem Schlafrock unter der Bettdecke und bebte am ganzen Leib vor einer vagen, unheilvollen Vorahnung. Dann dauerte es nicht lange, bis er sich mit seinem bleischweren Körper zwischen ihre Schenkel gelegt hatte und vor Anstrengung tierisch keuchte. Die schneidenden Schmerzen breiteten sich wie Höllenfeuer in ihrem Unterleib aus. Sie glaubte, sie müsse sterben. Sie wollte sterben, aber sie überlebte. Als er endlich ging, betete sie zu Gott, dass sie es nie wieder über sich ergehen lassen musste. Aber er kam erneut. Gott war anscheinend altersbedingt schwerhörig geworden. Der Gestank der Lüsternheit eines alternden Mannes blieb an ihrer zarten Haut haften. Er hatte ihren Türschlüssel abgezogen und eingesteckt.
Sie konnte nicht mehr gut schlafen. Sie wartete auf sein Erscheinen, denn sie wollte nicht im Schlaf überrumpelt werden. Die ersten Sekunden seines Näherkommens nutzte sie, um sich auf das Leid einigermaßen vorzubereiten, das im Begriff war, sie gänzlich zu verschlucken. Die Flammen der Drangsal hinterließen nur die Asche. Ihre Machtlosigkeit drückte auf sie wie ein eiserner Sargdeckel. Sie wusste keinen Ausweg, bis sie die ungewöhnliche Truppe auf dem Marktplatz erblickte. Wäre sie geblieben, hätte sie sich das junge Leben genommen.

Er trug jetzt keinen Ehering mehr.
Mutter ist wahrscheinlich schon tot, egal!, dachte Jeanne. Die Mutter hatte ihre Rolle versäumt und es wäre unverzeihlich dumm von Jeanne, die ihre gewissenhaft auszuführen.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Kleine“, sagte er im Aufstehen. Dann breitete er seine Arme aus.
„Komm, hol dir dein Geschenk.“
Nach kurzem Zögern ging sie entschlossen auf ihn zu und umarmte ihn widerwillig.
„Gut so, gut so“, wisperte er, über ihre Haare streichelnd. Indes glitt ihre rechte Hand zum Dolch und ergriff ihn fest.
Blitzartig rammte sie ihn tief in den Rücken des Verhassten.
Er stöhnte auf und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Sie trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihn. Es war vollendet.

Sie ging auf das kleine Waschbecken zu. Bevor sie sich gründlich wusch, betrachtete sie ihr Abbild im kleinen ovalen Spiegel. Dieser Anblick bereitete ihr anscheinend eine große Freude, denn sie lächelte verzückt vor sich hin. Nach dem Waschen zog sie sich um und packte schnell ihren Koffer. Sie öffnete die Matratze am Fußende und zog einen kleinen dunkelbraunen Beutel heraus, der ihre gesamten Ersparnisse beinhaltete. Das Köfferchen mit dem Degen vergaß sie auch nicht.
So, mit Sack und Pack, schaute sie sich den Toten an. Sie wollte sich dieses Bild des verdient ereilten Elends gut einprägen. Die erfüllte Rache wärmte ihr pochendes Herz.
Sie verließ den Raum und schlich durch den verdunkelten Korridor zum Hinterausgang, der auf eine ruhige Gasse hinausführte. Gedanklich bedankte sie sich beim Patron für alles. Das war ein perfekter Abschied, denn sie war unerwartet erschienen und so wollte sie auch verschwinden.
An der Hintertür angelangt, blieb sie kurz stehen, um sich ein Versprechen zu geben. Von nun an würde sie ihren Geburtstag stets feiern.
Sie trat in die kühle Nacht hinaus. Die Welt war breit und tief genug, um Jeanne wie ein scharfes Schwert aufzunehmen. Ihre aufrechte Gestalt löste sich in der behütenden Dunkelheit auf.

2019

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21129