Der Pope und sein Hund

Griechenland, das ist Gottes Liebesverhältnis mit der Erde.
Heinrich Schliemann

Hausherr Jannis lädt uns für Samstagabend zu einem Fest auf der Insel Kitrani ein. Ein Geheimnis, eine Sensation! Ich bin aufgeregt. Sie ist unbewohnt, als Naturschutzgebiet unzugänglich. Wir sollen gegen fünf Uhr im Hafen sein, da wird ein Boot zur Überfahrt warten.
Jannis weiß nichts Genaues, es soll ein Kirchenfest für das Volk sein, aber auch Touristen sind willkommen. Kitrani ist von unserem Strand aus zu sehen. Sie liegt wie ein loser Pfropfen in der fast kreisrunden Bucht von Platis Gialis. Schon seit fast zwanzig Jahren schaue ich vom Goldstrand übers Wasser auf den langgezogenen, mit Macchia überwachsenen Felsbuckel, den ich noch nie betreten durfte. Je nach Tageszeit und Licht sieht er aus wie ein gestrandeter Wal oder ein halbversunkenes Krokodil. Oder wie meine Katze, wenn sie entspannt ist und die Pfoten von sich streckt. Meine Freundin meint, eine Schildkröte zu sehen oder eine Schlange, die ein Straußenei verschluckt hat. Unter diesem Himmel ist nichts genau definiert.

Kitrani ist ein menschenleerer Steinhaufen. Die Bergkuppen sind von kleinen und größeren Vögeln umschwärmt und die Küsten von unsichtbaren Robben bewohnt. Weiter draußen können schon einmal Delphine an den Bootsseiten auftauchen. Auf dem landzugeneigten Abhang ist mit freiem Auge ein weißer Kubus, ein Kirchlein mit Glockenturm und blauer Kuppel, zu erkennen, von der Felsenbucht führt ein heller Weg hinauf. Eine Postkartenansicht, wie sie typischer nicht sein könnte für die Kykladen-Insel Sifnos.
Die Fähre ist ein freihändig umgebauter Fischerkahn, ein Kaijk, wie sie seit der Antike die Ägäis durchpflügen. Auch schon ohne Passagiere hängt die „Demetrios“ schief an der Mole. Etwa zwanzig Personen zahlen je fünf Euro und nehmen Platz.

Eine knappe halbe Stunde tuckert das Schinakl quer über die Bucht von Platis Gialis nach Südenwesten. Die Silhouetten der Nachbarinseln Milos und Kimolos tauchen auf. Die meisten Leute sitzen auf zwei unbefestigten Längsbänken, andere in der Mitte auf losen Plastikhockern, die Planken sind kaum zwei Handbreit hoch und haben keine Reling. Das Meer gebärdet sich an diesem Spätseptembertag ziemlich rau, das Boot schaukelt und schlägt manchmal mit dem Bug hart auf. Da mir das nicht geheuer ist, lasse ich mich am Boden nieder und kralle mich mit beiden Händen am Sockel der hinteren Fahnenstange fest.

Kitranis Landungssteg besteht aus zwei flachen Felsplatten, grob gerippelt von den Gezeiten. Die Griechen sind wie immer cool, über den Spalt ein gewagter Sprung an Land, gleich dahinter führt eine Serpentine aus niedrigen und tiefen Stufen den Hang zum Kirchlein hinauf. Gebaut wie seit Troja für Maultiere. Wir gehören zu den ersten Gästen, und ich habe Muße, alles in Augenschein zu nehmen.
Einige Frauen putzen und schmücken die drei Schritt lange Kapelle. Sie ist ein anmutiges byzantinisches Bauwerk, das auf einer eingeebneten Felsnase über das Meer ragt. In dem winzigen Innenraum stehen auf jeder Seite zwei Reihen von Bänken, eng wie Betschemel, dann stößt man schon an die Ikonostase. In der Mitte der Christus Pantokrator, links daneben die Panagia Maria, mit goldenen Ringen, Armbändern und Kuzifixen bedeckt, rechts der heilige Johannes, der heilige Charalambos und zwei Erzengel.

Ich nehme drei honigwarme Kerzen aus einem Kisterl, eine Handvoll Weihrauch und lege fünf Euro hinein. Für den Kerzenständer ist es zu eng in der Kapelle, er steht am Vorplatz. Dort bauen einige Frauen einen Altar auf, in Vasen und Körben werden die Früchte der Gärten und Felder aufgestellt, die Außenmauern sind mit Kränzen aus Blumen, Lorbeer und Ähren behängt, rund um den Kirchenhof wehen blau-weiße Wimpel, dazwischen Girlanden mit bunten Glühbirnen und gelbe Fahnen mit dem doppelköpfigen Romanow-Adler. Der gibt mir sofort ein Rätsel auf. Gehört etwa ein russischer Oligarch zu den Sponsoren dieses Inselfestes? Niemand kann es mir erklären, und ich bleibe allein mit meinen düsteren Vermutungen.
Die weiß gekalkten Umfassungsmauern sind mit Fleckerlteppichen belegt und laden zum Sitzen ein, über den ganzen Platz verstreut stehen lange Tische und Bänke. Mehrere Männer machen sich im Hintergund an der gemauerten Feuerstelle zu schaffen, daneben stehen Riesentöpfe. Langsam beginnt es nach Kichererbsensuppe zu duften, und vom Fleischrost weht es würzig herüber.

Chef ist offensichtlich Nikos, der inzwischen übergewichtig gewordene Nationalboxer. Er hebt die Deckel auf und betätigt sich als Vorkoster. An einem Tisch schneiden zwei Männer eine geschätzte halbe Tonne Zitronen in Viertel, mit der später die Kichererbsen und das Fleisch beträufelt wird, dazu noch ganze Büschel von Rosmarin und Thymian darüber gestreut, später handvoll die Granatapfelkerne.
Junge Leute reichen in großen Weidenkörben puderzuckerbeschneites Milchbrot mit Mandeln, Datteln und Feigen herum. Eine einzige, eigenwillige Geschmackskomponente kann ich nicht erkennen. Anis, Oregano oder süße Kapern? Über all dem wabert griechische Volksmusik aus den Lautsprechern, untermalt vom Brausen des Stromaggregats.
Jede halbe Stunde schwemmt das Boot eine Fuhre an Land, und immer mehr Menschen quellen den Hang herauf. Die Sonne beginnt sich in einem Feuerwerk ins Meer zu senken, jeden Augenblick ändern sich die Farben des Himmels: Es beginnt mit einem zarten Rosa, das sich zu Rosenrot vertieft und schließlich zu einem kräftigen Purpur wird, ehe das Licht verblasst und die Sterne hervorkommen.

Es wird allmählich eng auf dem Kirchhof. Die Helfer lassen Platten mit honigtriefendem Nussgebäck herumgehen, dazu Wasser und ein schreckliches, weinbrandähnliches Gesöff. Allein dessen Geruch lässt einen das nächste Kopfweh erahnen. Ich benütze den heidnischen Brauch, den ersten Schluck zum Dank in die Erde zu gießen, um alles loszuwerden. Die herumgereichten Hüte füllen sich mit Euros. Die Stimmung ist ruhig, fröhlich und gelassen, obwohl sich wahrscheinlich schon mehr als 500 Menschen am kleinen Kirchhof versammelt haben. Als die Nacht heraufzieht, bimmeln die Glocken, nicht zu erkennen, ob von Stricken in Schwingung gebracht oder vom Wind. Die Luft ist angefüllt von den Düften der Kräuter. In meiner Nase stechen der Honig des Bergtees und die Herbheit des Wacholders hervor.

Auf einmal spüre ich eine unruhige Bewegung, die Leute rücken zusammen, gleichzeitig wieder auseinander und bilden eine Schlucht wie das Rote Meer. Sie geben einem Popen den Weg frei. Er führt einen Holzstab mit einem mehrfach gewundenen Knauf in der Hand, wie ihn Hirten ums ganze Mittelmeer tragen, die Urform des Bischofstabes. Viele Menschen umarmen ihn, andere gehen auf die Knie, küssen seine Hände und den Kuttenrand. Er ist ein kleiner, sich aufrecht haltender Mann von unbestimmbarem Alter, zwischen 50 und 70. Die hohe, runde Zylinderkappe eines orthodoxen Geistlichen lässt ihn größer erscheinen. Er ist bekleidet mit einer glänzenden, mitternachtsblauen Soutane mit silbernen Borten an Hals, Ärmeln und Saum, um die Mitte eine breite, reichbestickte Stola. Das ebenmäßige Gesicht mit der geraden, starken Nase ist glatt und braungebrannt, gerahmt von einem silberweißen Bart, im Nacken lugt der gedrehte Haarknödel unter dem Hut hervor. Seine Augen sind blauer als die Ägäis.
Insgesamt erscheint mir seine Gestalt wie der Prophet Jeremias, geradewegs dem Alten Testament entsprungen. Oder wie ein Hollywood-Mönch. Die Menge weicht vor ihm zurück, gibt ihm Raum, und er begrüßt sie lächelnd mit segnenden Gesten, dabei grazil und würdevoll schreitend. Ich bin entsetzt, als ich unter der Soutane Sportschuhe mit Adidas-Streifen hervorblitzen sehe.

Als er an uns vorüberwandelt, bemerke ich, dass er Gefolgschaft hat. Ein kleiner, schwarz-weiß gefleckter Hund, niedriger als ein Dackel und rund wie eine Knackwurst, folgt ihm auf dem Fuß. Mit der Schnauze hängt er am Saum des Popen und schreitet mit ihm im Gleichschritt. Hält der Pope an, bleibt auch er stehen, segnet er, hebt der Hund die rechte Pfote senkrecht in die Höhe, blickt dabei ernst und würdevoll um sich, als hätte er zumindest die niederen Würden empfangen. Immer scheint er sich seines Dienstes bewusst zu sein. Durch nichts lässt er sich ablenken, nichts kann eine Versuchung für ihn sein. Ist jemand zudringlich, zum Beispiel mit einem Brocken Fleisch vor seiner Nase, legt er die Stirn missbilligend in krause Falten und wedelt mit den Ohren, die ihm wie eine Ponyfrisur links und rechts herunterbaumeln.

Setzt sich der Pope an einen Tisch, bleibt der Hund hinter ihm stehen, die Nase an der Soutane und die rechte Pfote hochgehoben. Er verharrt bewegungs- und furchtlos in dieser Pose, als würde er zumindest die Standarte der Panagija Maria halten, unbeeindruckt vom gefährlichen Gedränge der dicht aufragenden Menschenbeine. Die linke Tatze benützt er nicht, die krummen Hinterbeine nur zum Schreiten. Vielleicht kommen Würde und Eleganz von einem Dalmatiner, der sich ins Erbgut dieser Kreatur eingemischt hat?
Wir schauen, staunen und lachen ohne Ende. Wahrscheinlich wegen dieser wilden Kreuzung aus lächerlichem Aussehen und erhabenem Charakter.
Auch bei der Erntedankzeremonie mit den endlos geleierten Chorälen am Altar hält sich der Hund dicht am Saum des Popen, als sei er sein Ministrant. Hätte er auch noch das Weihrauchfass geschwungen, hätte sich niemand gewundert.

Der Chor aus drei Männern und einer Frau trägt im Wechselgesang mit dem Popen etwas vor, das wohl wie Psalmen klingen soll. Der dünne, unharmonische Singsang verrät, dass sie nicht genügend Zeit zum Proben hatten. Die Notenblätter beleuchten sie mit Handy-Bildschirmen, was einiges vom Weihevollen nimmt.
Nach den Zelebrationen rund um den Erntedankaltar tritt eine Folk-Band auf, ohne Mikrofon, die umstehenden Leute tanzen auf engstem Raum. Die Bewegung setzt sich in Wellen fort bis zum letzten Besucher. Und immer wieder finden die Helfer mit ihren wundersam vermehrten, frisch aufgehäuften Fleischplatten, Zitronenschüsseln und Weinkrügen durch die Menge. Als sich der Pope einmal direkt uns gegenüber an einen Tisch setzt, sehe ich, dass er dem Weinbrand nicht abgeneigt ist. Er kippt ohne Unterbrechung den kleinen Plastikbecher, dass seine Augen bald kräftiger blitzen als die Sterne. Da bemerke ich, dass der Hund zu seinen Füßen nicht mehr nur die Nase an seine Soutane hält, sondern zuerst sachte daran zupft, dann immer heftiger daran zerrt und schließlich mit beiden Pfoten in den Stoff hineinfährt. Der Pope erhebt sich lachend, tätschelt das Tier und verschwindet in der Menge. Da erfahren wir, wie er zu seinem Namen gekommen ist.

Unser Landsmann Emmanuel aus Hohenau an der March, den wir dort mit seiner Frau Elisabeth wieder treffen, besucht schon 40 Jahre lang Sifnos. Sie kennen die Insel besser als ihr Dorf und erzählen uns die Geschichte vom Popen und seinem Hund. Eher eine Legende. Lazarios, den ich so nenne, ist kein Pope, kein geweihter Geistlicher, sondern ein selbsternannter Eremit. Er war Bauer, Schaf- und Ziegenhirt, bis kurz hintereinander sein Sohn und seine Frau starben. Danach verkaufte er alles und zog sich zurück. Von den Sifnioten als heiligmäßig verehrt, lebt er als Einsiedler in einer kleinen Höhlenklause hinter dem höchsten Berg der Insel, dem Profeti Elias, auf dem Weg nach Vathi, der Südbucht. Die Leute pilgern zu ihm hinauf, beschenken ihn, beraten sich mit ihm, er steht in einem wundertätigen Ruf. Das Wetter soll er vorhersagen können, verlaufene Ziegen finden und Mensch und Tier mit Kräutern heilen. Er hat einen zugelaufenen Welpen aufgenommen, er teilt seither das Eremitenleben. Im Volksmund heißt er „die Frau des Popen“.
Das mag spaßig klingen, ist aber historisch nicht zutreffend, hat sich doch auf Sifnos seit der Antike das Matriarchat erhalten.

Nicht ganz so alt ist die Geschichte des seltsamen Festes von Kitrani.
Emmanuel und Elisabeth wissen zu berichten, dass Nikos, der Hausherr ihres Hotels, der frühere griechische Boxchampion, vor fünf Jahren die Idee hatte, zur Belebung des Dorfes einen Touristen-Event zu veranstalten. Er erreichte von der Naturschutzbehörde, Kitrani eine Nacht lang für Besucher zugänglich zu machen. Ob Nikos wohl vom schlauen und listenreichen Odysseus abstammt? Auf jeden Fall, diesen Gag für die Tourismusvereinigung hat er sich einfallen lassen, nicht weniger genial als vor ca. 3200 Jahren das hölzerne Pferd. Im ersten Jahr kamen nur wenige Touristen.
Die Einheimischen ignorierten es vollständig, gab es doch keinerlei Festtradition auf dem Felsenhaufen von Kitrani. Irgendwann kam Nikos die Idee des Erntedankes, der Massenausspeisung auf der verbotenen Insel. Die Kirche und ein russischer Oligarch sprangen auf, dann erschien der Wundermönch vom Profeti Elias. Von Jahr zu Jahr strömen mehr Insel-Bewohner herbei, sogar von den Nachbarinseln Milos und Kimolos – ein Kirchen-Volksfest war geboren. Die Geburt des Mythos aus dem Fremdenverkehr! Nietzsche, schau oba!
Heuer haben die Griechen schon vollständig das Regiment übernommen, wir Touristen waren geduldete Zaungäste. Aber weder sie noch die Einheimischen wussten zu sagen, was für ein Fest hier gefeiert wird – außer, dass es sehr, sehr schön war.

Noch bevor der späte Vollmond seinen Zenit erreicht hatte, die Musik zu wild, der Weinbrandkonsum zu strömend wurde und sich der warme Meltemi in der septemberfeuchten Nacht abkühlte, drängte ich zur Rückkehr, eingedenk des wenig vertrauenswürdigen Schinakls. Bei der Überfahrt empfand ich das ungleichgewichtige und alkoholgetränkte Gedränge an Bord als so lebensbedrohlich, dass ich nicht mehr nur die Fahnenstange umklammerte, sondern den großen Fender mit seinem Tau mit einem Plastikhocker verknüpfte und an Odysseus dachte.

Im Laufe des wachen Teiles meiner Nacht habe ich die Fähre noch unzählige Male an- und ablegen gehört. Beim Frühstück am Sonntagmorgen rechne ich nach: Bei 500 Menschen müsste das Boot 50 Mal gefahren sein, bei 20 Menschen pro Boot. Danach suche ich den Strand und die Marina nach Leichen ab. Vergeblich. Die Griechen können zwar nicht organisieren, aber es klappt immer alles. Noch muss ich der zitronendurchtränkten Suppe und dem rosmarinierten Schwein und Lamm nachschmecken und weiß dabei nicht, was köstlicher war, das Essen, der „Pope mit seiner Frau“ oder die wundersame Geburt eines Volksfestes.
Ich schwöre, allen Göttern des Olymp opfern zu wollen, damit sich nicht herausstellen möge, dass auch Vater Lazarios und sein Hund Nikos‘ Erfindung sind.

begonnen 23.9. in Sifnos, fertig 13.10.18 in Wien

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 19040

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