Über ein Verbrechen, das keines war, und die Willkür, die beständig ist

Eines Morgens, eines Tages, eines Jahres wurde Frau A., als sie gerade auf dem Weg in die Bäckerei war, in der man sie beschäftigte, von zwei Herren mit Hut links und rechts an den Armen gepackt und in ein nahestehendes Auto geführt. Ohne Angabe von Gründen wurde Frau A. von zwei Herren mit Hut aus der Stadt gefahren. Ihr weiteres Schicksal wird sich nun im Folgenden entscheiden.

Eine nackte Glühbirne. Ein Tisch. Zwei Stühle. Sonst nichts.
Keine Tür.
Doch. Irgendwo ist eine Tür. Hinter mir. Bestimmt. Ich bin durch sie hineingegangen und dann habe ich mich auf den Stuhl gesetzt. Sodass ich die Tür nicht sehen kann. Ich würde mich umdrehen. Sie wäre da. Aber mich jetzt zu bewegen. Undenkbar. Zu lange war ich regungslos. Sie würden es merken. Und dann würde es beginnen.
Ganz schnell. Um sicherzugehen. Hinter mir ist eine Tür. Ich bin nicht schon immer hier.
Mit einer raschen Bewegung dreht sie sich um. Tatsächlich. Eine Tür. Beruhigt wendet sie sich wieder ihrem Gegenüber zu. Ein hagerer Mann. Vermutlich etwas über fünfzig Jahre alt. Brauner Anzug. Runde Brille. Glatze. Das ist gerade in Mode.

Ob sie wisse, warum sie denn hier sei, möchte er wissen. Die Tiefe seiner Stimme irritiert sie.
Unmöglich kann dieser Herr ein solches Organ besitzen. Sie bleibt still. Er solle noch etwas sagen. Gebannt starrt sie auf seinen Mund. Doch anstatt eines Wortes spuckt er neben sich auf den Boden. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, greift er in die Innentasche seines Sakkos und holt ein ledernes, schwarzes Zigarettenetui hervor. Sie fixierend, öffnet er es, nimmt eine Zigarette der Marke Makedon heraus und steckt sie sich zwischen die Lippen.
Ob sie auch eine möchte, will er wissen, während er in seiner Hosentasche nach Zündern kramt.
Diese Stimme. In Wahrheit spricht nicht er. Jemand anders spricht durch ihn. Er führt nur aus, was man ihm aufgetragen hat. Das ist sein Beruf.
„Danke ich rauche nicht.“ Das war gelogen. Warum? Es wäre ja nichts dabei. Mit diesem Herrn eine Zigarette rauchen. Ganz einfach. Rauchen verbindet. Egal. Später werde ich alleine rauchen.

Mit diesem Herrn verbindet mich nichts. Das soll er ruhig wissen.
Er zündet die Zigarette an. Bläst Frau A. den Rauch ins Gesicht. Schnippt das noch brennende Streichholz in die Ecke. Es geht noch in der Luft aus. Er schlägt ein Bein über das andere. Dreht ihr die Seite zu.
Überlegt einen Moment. Er sagt, gegen die blassgraue Wand blickend, sie solle sich nicht dumm stellen. Je schneller sie mit ihm reden würde, desto schneller könne sie nach Hause gehen. Er würde ihr noch einmal dieselbe Frage wie zu Beginn des Gesprächs stellen: Warum?

Er äschert auf den Boden. Wendet sein strenges Gesicht ihr zu. Erwartungsvoll und zugleich desinteressiert sieht er sie an. Sie bleibt ruhig. Denkt nach. Sie beginnt zu schwitzen. Sie spürt, wie sich auf ihrer Stirn hunderte kleine Schweißtröpfchen bilden. Kalter Schweiß. Sie braucht Wasser. Und sie muss atmen. Wie ist es möglich, dass dieser Mensch keinen Durst zu empfinden scheint? Und auch kein Problem mit der abgestandenen, bereits mehrere Male wiederverwerteten Luft hat? Absurd. Absurd ist die Sache. Wie lange sitzen wir schon hier?
Fünf, sechs Stunden? Bestimmt. Aber hier ist doch eine Tür. Ich habe es überprüft. Ich kann gehen.
Ganz einfach. Aufstehen. Tür öffnen. Hinaus. Atmen. Es gibt keinen Grund für mich, hier zu sein.

Mit ihm. Dessen glatte Stirn kein Ende zu nehmen scheint. Ob sein kahler Schädel eine Frisur darstellt? Oder ist es ein genetisch bedingtes Manko? Wie es doch allzu oft bei Männern seines Alters vorkommt. Es wirkt nicht so, als würde etwas nachwachsen. An den Seiten ein bisschen. Ein paar Härchen scheinen sich einen Weg durch die käsig-weiße Kopfhaut bahnen zu wollen. Wer weiß, wie lange wir hier noch sitzen. Vielleicht beantwortet sich meine Frage von selbst. Wie er mich ansieht. Als würde ich jeden Augenblick.
Na gut, Frau A., sagt er, keine Antwort ist auch eine Antwort. Sie kennen das Gesetz, Frau A, meint er, so nehme er zumindest an. Da werde noch einiges auf sie zukommen. Es sei besser für sie, würde sie kooperieren. Dann sei es schneller vorbei. Aber so ginge es auch. Ihm sei es gleich.

Sobald er aus dieser Tür gehe, sei seine Arbeit getan. Er habe versucht, ihr zu helfen. Ob ihr das klar sei? Nicht jeder bekomme die Möglichkeit für ein Verhör. Also?
Er zieht an der Kette, die an seiner Brusttasche befestigt ist und holt eine goldene Taschenuhr hervor. Klappt sie auf. Bläst Rauch darauf. Schließt sie. Wirft sie zurück in die Tasche. Denkt einen Moment nach. Dann hebt er die Augenbrauen und verzieht den Mund. Der Mann nimmt noch einen letzten Zug und dämpft die Zigarette schließlich auf der Tischplatte aus. Halb geraucht. Eine Weile bleibt er noch sitzen. Bis er endlich aufsteht. Um hinauszugehen, wie sie erhofft. Während er um den Tisch herumgeht, holt er nochmals die Taschenuhr heraus. Wiegt sie in seiner Hand. Macht sie auf. Er bleibt neben der Frau stehen. Schaut auf sie herab. Sagt: „Die kennst du doch?“

Er lächelt. Sie blickt starr geradeaus. Presst die Zähne zusammen. Die Lippen, ein schmaler Strich.
Der Sekundenzeiger tickt neben ihrem Ohr. Er dreht in aller Ruhe am Aufzugsrad. Beobachtet sie.
Klappt die Uhr zu. Steckt sie zurück.
Sie könne gehen, sobald sie ihren Mantel fertiggemacht habe, bemerkt er teilnahmslos.
Der Mann geht langsam zur Tür und verlässt lautlos den Raum. Eine Brise weht herein. Es riecht nach frischer Erde, Lehm, Tod.

Meinen Mantel. Fertig. Das habe ich vergessen. Wo ist denn? Die Nadel? Gerade hatte ich sie doch noch. Da. Wozu? Was bedeutet das überhaupt? Nichts. In Wahrheit. Zu jeder Zeit sichtbar soll es sein. Das Symbol, wie sie es nennen. Immer tragen. Fein. Immer tragen, sagen sie. Wer war der Herr überhaupt? Hat er seinen Namen genannt? Wohl kaum. Seine Arbeit mit mir ist ja zu Ende. Ich werde ihm nicht mehr begegnen. Was es nun mit seinen nicht vorhandenen Haaren auf sich hat, werde ich jetzt wahrscheinlich auch nicht erfahren. Schade.
Von irgendwo klingt Musik. Ein bekannter Schlager.
Sie kennt den Titel trotzdem nicht. Auch die Sängerin ist ihr unbekannt. Sie dreht sich um. Die Tür ist verschlossen. Wenn sie fertig ist, kann sie gehen. So hat er es ihr gesagt. Sie widmet sich wieder dem Aufnäher. Sie macht es gründlich. Wenn sie ihn schon tragen muss, dann soll es wenigstens ordentlich aussehen. Von draußen ist etwas zu hören. Geräusche. Laute, die sie nicht zuordnen kann. Sie werden von der beschwingten Melodie und dem kräftigen Gesang gut übertönt.

Eine nackte Glühbirne. Ein Tisch. Zwei Stühle. Eine Tür. Sie ist fertig. Steht auf. Schafft es kaum.
Zieht ihren Mantel an. Nicht so tragisch. Es wird gut werden. Am Ende. Doch bevor sie aus der Tür geht, möchte sie einen Blick durch das Schlüsselloch werfen. Was sie erwarten wird. Draußen. Sie kneift ein Auge zu und drückt das andere gegen die kleine Öffnung. Mittlerweile ist es finster geworden. Das einzige Licht scheint von den tausenden Sternen zu kommen, die den Himmel bedecken. Sie strahlen auf tausende Sterne, die hier am Boden wandeln. Machen ihnen Licht. Wo keines mehr ist. Sie richtet sich auf. Atmet tief durch. Öffnet die Tür. Und geht zu ihnen.

Frau A.s Schicksal war nun, obwohl es doch von Anfang an feststand, offiziell besiegelt. Von hier an verliert sich ihre Spur.

 

Anna Bartl

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 18139

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