Killer-Kühe (wäre der Titel in der Kronenzeitung)

Eine idyllische Mai-Wanderung mit Hindernissen

Anfangs widerstrebend, folge ich schließlich ihrem Vorschlag, nicht den Wasserfallweg zu nehmen, sondern über die Schoberkapelle ins Tal zurückzukehren. Isabella ist immer offen für alles, aber doch standfest und durchsetzungsstark. Zwei Argumente überzeugen mich:
Schau dir die dicke, schwarze Wolkenmütze über dem Schneeberg an. Da steckt viel Regen drin. Am Wasserfallweg kriegen wir sicher etwas davon ab und keine Aussicht. Außerdem bist du den so oft gegangen wie ich, und die andere Richtung kennst du noch nicht.
Bitte, aber an der Kapelle will ich eine Zigarette rauchen, im Rucksack hab ich meinen Kaffee dazu.

Das ist für mich der Übergenuss nach dem Mittagessen auf der Maumau-Wiese: Blunzengröstl mit Sauerkraut in der Pfanne.
Mensch, was willst du mehr?

Wir wandern eine flache Frühlingswiese hinauf und setzen uns vor der Kapelle aufs Bankerl.
Neben uns steht ein hölzerner Trog, in den aus einem Baumstamm Wasser plätschert.
Wir füllen unsere Trinkflaschen, herrliches Wasser, schmeckt nach Kräutern. Boggie bekommt sein Schälchen. Dann lagert er sich zu unseren Füßen und steckt den Kopf zwischen die Pfoten. Lange lassen wir den Blick schweifen, stumm. Der Ausblick auf die sanften Wiesenwellen verschlägt uns jedes Wort. Atmen wir überhaupt noch? Die Sonne ist über den Grat zurückgekommen, und die dunklen Wolken bleiben drüben stehen.

Meine Manie, Dinge beim Namen zu nennen, setzt sich durch. Ein leichter Wind bewegt die kniehohen Gräser, dazwischen Margeriten, gelber Hahnenfuß und Bocksbart, vereinzelt eine Trollblume und roter Feldmohn, Glockenblumen und Schafgarben, große und kleine Spieren in Weiß und Rosa, Wollgräser mit ihren wehenden Wattebäuschchen, das Zittergras tut das Seine im Wetteifer mit dem Wildhafer, niedriger die Wiesenorchideen von weiß über lila bis kardinalrot, darunter noch der blitzblaue Ehrenpreis, vermischt mit Wegwarte und Klee in allen Farben und Formen. Fifty Shades of Green. Die Wiesenhänge scheinen in Wellen zu wogen wie ein sanftes Meer, lautlos anbrandend an die Waldränder mit den rundlichen Bergrücken darüber. In der Mulde und am Hang gegenüber lagern Kühe, semmelblonde Flecken im Dunkelgrün. Ab und zu huscht ein Schatten über die Hänge, wenn eine Wolke vorübersegelt.

Die einzeln oder in kleinen Gruppen stehenden Tannen, Fichten, Lärchen und Föhren bilden dunkle Monumente im grünen Farbenmeer. Einzelne vom Schneeberg herziehende Wolken schicken Schatten über die Landschaft. Ist Isabella ebenso seekrank wie ich?
Schwindelig, selig so wie ich zwischen den blinzelnden Augen?
Ich glaube, solche Augenblicke nennt man Glück.
Was für ein schönes Wort, Augenblick, das hat nur das Deutsche.
Meinst du? Egal. Glück, das gibt‘s eh nur einen Augenblick.
... ist ein Vogerl ...
Schau, was sind das für große Vögel da oben? Könnten Falken sein.
Nein, nur Krähen.

Meine Stimme ist wie verschluckt und krächzt, aber ich versuche einen Kommentar:
Welcher Maler hat das gemalt? Ich erinnere mich an Matisse.
Isabella meint, es war Degas.
Nein, das war der mit den jungen Tänzerinnen.
Pissarro?
Das war doch der Tüpferlmaler, ein Pointillist.
Am ehesten Monet.
Wir einigen uns auf seine Wiesen an den Seine-Ufern.

Als wir aufbrechen, studieren wir die Wegweiser. Einer zeigt ins Tal und sagt Puchberg 1 1/2 Stunden. Das geht, dann sind wir um fünf in Puchberg. Wir haben beide vergessen, den Fahrplan für die Rückfahrt zu studieren.
In sanften Kurven schlängelt sich ein weißer Kiesweg mit einem Grasstreifen in der Mitte das flache Tälchen hinaus. Ich bin einverstanden, denn meine linke Hüfte macht sich langsam bemerkbar und will keine Steigung mehr, weder rauf noch runter. Die Orthopädin hat erst vor Kurzem festgestellt – altersgemäß abgenützt, aber noch keine Rede von Operation. Geht noch mit einer Spritzenkur. Am Boden dieser Senke sehen wir einen Bauernhof mit einem langgezogenen Stall. Kontemplativ bewundere ich die noch grasüberwachsenen Trittwege der Kühe, die sich die Hänge entlangziehen. Später im Sommer werden sie ausgetreten sein und aussehen wie erdige Narben in der Landschaft.

Ich erzähle von meiner Mutter, einer Salzburgerin, die beim Spiel immer gesagt hat, wenn es um das Lieblingstier ging, sie wollte eine Pinzgauerkuh auf der Alm sein. Dieser Frieden, diese Schönheit, dieses sanfte Gemüt und die seelenvollen Augen. Unter solchen launigen Gesprächen geht es abwärts.
Wir lachen, weil sich vor dem Stall schon drei Kühe angestellt haben, eine kleine Schlange zwischen den Gittern, die sie zur Melkstelle leiten.
Das sind die Streber, die immer die Ersten sein wollen. Ich hau mich ab, weil mich das an mich erinnert. Immer im Wettbewerb, immer die Erste.
Isabella lacht mit mir. Sie kennt das nicht, sie hat nur eine sehr viel jüngere Schwester.

Wir biegen auf das Sträßchen ein, auf dem jetzt immer mehr Kühe zum Hof zurückkehren. Es werden immer mehr, die von unten herauf aus dem Tal auftauchen. Es wird eng.
Ich weiß nicht, wer das Signal gegeben hat. Fluchtinstinkt. Irgendwann werde ich ihr von meinem Talent erzählen, Lebensgefahr in einem Frühstadium zu erspüren. Immer mehr Zeitungsberichte im Kopf von aggressiven Kühen. Sogar Todesfälle. Der kleine Boggie wurde vor einem Jahr auf einer Salzburger Alm von Kühen verfolgt, das hat sie mir erzählt. Aber jetzt trägt sie ihn schon seit geraumer Zeit, und dieser kleine Wiffzack hat keinen Mucks von sich gegeben. Also, was irritiert die Kühe? Zweibeiner ganz allgemein? Haben sie genug von den Menschen? Wollen sie sich rächen dafür, was wir ihnen seit Jahrtausenden angetan haben?

Konferenz der Tiere von Kästner, aber die waren trotz 1933 friedlich.
Ist schon lang Zeit, dass sich die Tiere rächen, aber warum diese Mordlust bei unserem Anblick? Das ist ungerecht. Natürlich meinen wir, dass wir die Ausnahme sind. Ich bin im Alltag Vegetarierin mit zwei Ausnahmen: Auf der Maumauwiese muss ich immer Blunzen essen und auf der Redlingerhütte Schweinsbraten. Isabella ist sogar glukosefreie Veganerin, Boggie kriegt Trockenfutter, keine Ahnung, ob und wie viel Fleisch darin ist. Isabellas Anorak ist feuerrot, mein Rucksack knallorange, überlege ich. Das sind doch keine Stiere, außerdem eh nur eine blöde Legende. Stiere sind farbenblind. Kühe auch.
Aber sie waren doch schon am Nachhauseweg, wenige Meter vom Stall entfernt, dort würden gemolken werden, fressen, liegen, wiederkäuen bis zum Morgen, wieder auf die grüne Wiese. Was hat sie umgestimmt, aus ihrem Kuhtritt gebracht? Isabella meint, es sei der Pickup gewesen, der sich durch sie ziemlich unsensibel durchgebohrt hat. Ich habe ihn vom Bauernhof losfahren gesehen und kurz die Hoffnung gehabt, er holt uns zur Rettung.
Alles Überlegungen für die Zeit nach der Rettung.

Auf jeden Fall fühle ich mich von den immer dichter anrückenden Kühen bedroht und weiche auf die Wiese nach links aus. Zuerst einmal unter einem Elektrozaun durchschlüpfen.
Rauf, rauf, nur rauf. Ich rase die Wiese hinauf, stolpernd, strauchelnd, zurück und vor. Hohes Gras, hier hat noch niemand gegrast. Schwer die Schritte, die Beine immer wieder hoch hinauf, und immer wieder Schlingen, Grasbüschel, die abreißen, Schnitte an den Handflächen und Fingern. Irgendwie bekomme ich mit, dass Isabella mit Boggie hinter mir ist. Sie schreit etwas, aber ich höre nur noch mein Blut in den Ohren pochen.

Wieder schreit sie etwas, ich verstehe sie nicht, bin nur orientiert auf eine dicke Fichte weiter oben am Hang. Dahinter will ich Schutz suchen. Endlich erreicht, verschnaufe ich etwas, das Herz will aus dem Hals herausspringen, tief gebeugt keuche ich, hunderttausend Zigaretten melden sich zurück, kchkchkch, ich kann nicht sprechen. Isabella kommt dazu, das Hündchen unterm Arm. Winzig klein, der Zwergpinscher, aber immerhin fünf Kilo. Ungefähr noch einmal ein Rucksack.
Kurz meinen wir, dass wir‘s geschafft haben, gerettet sind. Da sehen wir, dass die ganze Herde weiter den Wiesenhang heranzieht, angeführt von einer großen Pinzgauerin. Ich bücke mich, ein, zwei drei, atmen, ruhig, kann kaum durchatmen, richte mich auf und sehe den Führerkuhkopf gleich hinter dem Fichtenstamm. Sie beutelt den Kopf und brüllt. Was für ein Brüllen – ein Mordbrüllen. Weiter, rauf, es rasselt in meiner Brust. Gleich zerspringt sie.

Es wird immer steiler, ich schaue nicht mehr zurück, sondern nur nach oben. Da ist ein Zaun, ein einziger Draht, das heißt, ein Elektrozaun. Dort muss ich hin. Hasten, stolpern, hoch die Beine aus dem tiefen, schweren Gras, es hat ja gestern und die ganze Nacht geregnet, der Boden tief, Schlingen halten mich im hohen Gras, aber immer nach oben, weiter, weiter. Isabella schreit etwas von hinten, ich verstehe nichts und kümmere mich nicht darum. Da sehe ich am oberen Ende des Hanges eine Schneise in den Wald hineinführen und stürze auf einen Wiesenweg.
Ich hab keine Luft mehr und drehe mich um. Wir streiten aus der Ferne mit Gesten, sie zeigt runter, ich rauf, in den Wald. Kühe gehen nicht in den Wald, was wollen Kühe im Wald? Ich haste weiter, vorbei an einem Jägerstand – wäre das ein Schutz? Nein, die Hütte ist aus leichten Brettern und morsch, sie sitzt nur knapp über dem Boden, die Tür hängt schief, das wäre kein Schutz, ein leichtes Spiel für sie, wenn sie uns niedertrampeln wollen. Weiter, weiter nach oben, es ist steil, ich greife nach den Gräsern, es sind Brennnesseln, auch um die nackten Wadeln. Gut gegen Rheumatismus. Sogar jetzt noch funktionieren die Sprüche.

Ich bin am Ende, komme zum Stillstand und falle auf den Bauch. Ich spähe über eine Wiesenkuppe: darunter ein steiler, mit Felsen und Baumstümpfen durchspickter, fast senkrechter Abhang. Die Pumpe rast. Ich liege vornüber gebeugt im Gras. Da höre ich wieder Isabella.
Veronika, nicht weiter! Komm zurück.
Nein, weiter, durch den Wald, wir umgehen sie oben und kehren nach unten zurück.
Wir schreien und deuten, ich stampfe auf und sie gestikuliert.
Mit langsamen Schritten gehe ich hinunter auf sie zu. Auf den Wurzeln einer alten Lärche lasse ich mich nieder, wir schreien einander an, beide ohne Atem.

Da ich in meiner Flucht fast immer nach oben geschaut hatte, hatte ich nicht wahrgenommen, was sich unten abspielte. Isabella aber hat gesehen, dass unser Straßerl nach rechts eine Abbiegung hat, und die Kuhherde nach links abgebogen ist. Jetzt stand sie genau unter der Wand und strömte gemächlich in den Wald hinein. Ist es denn möglich, dass sie uns verfolgen und auflauern?
Siehst du nicht, dort bei dem Holzstoß. Da sind sie nach links gegangen und sperren die Umgehung ab. Schau, sie stehen alle dort unten. Wir müssen zurück, runter und nach rechts, sie auf unserer Straße umgehen.
Ich lege mich wieder flach auf den Bauch und starre hinunter.
Isabella hat richtig gesehen.

Wie kann das sein? Als wären sie alle uns unten gefolgt. Wir oben, sie unten, parallel.
Eine kompakte Herde, halb auf dem Weg, halb im Wald, die Köpfe nach oben gereckt.
Nein, sehen können sie uns nicht. Aber vielleicht riechen? Was wissen wir schon? Nichts. Aber warum überhaupt?
Eine Brücke, ein Holzstoß mit frisch geschlagenen Stämmen, ein Brunnen, eine Abzweigung, das Straßerl nach rechts, der Viehsteig nach links.
Ich folge meinem Napoleon den Hang hinunter. Wir biegen auf unseren rotmarkierten Weg ein, dort stehen noch immer die ersten drei Kühe, lassen den Holzstoß links liegen, biegen nach rechts und überqueren die kleine Bücke. Zügig gehen wir bergab, Isabella voran, Boggilein strampelt voraus. Wir haben‘s geschafft. Gehen-atmen-gehen-atmen. Da bleibt sie stehen.

Siehst du das?
Nein, was?
Ich stehe noch in der Sonne, das Tal wird enger und dunkler.
Da sind sie wieder.
Wie viele?
Zwei oder drei, wir gehen ruhig vorbei.
Nein, ich gehe nicht vorbei. Nie wieder gehe ich an Kühen ruhig vorbei, schreie ich, jetzt schon sehr hysterisch.
Da sehe ich eine andere und noch eine auf dem schmalen Weg stehen.
Und noch mehr und mehr quellen heraus aus dem Schatten.
Isabella sieht jetzt auch, dass wir nicht an ihnen vorbeikommen, weil sie es auf uns abgesehen haben. Sie sperren uns in breiter Front den Weg ab und verteilen sich schon im Wald. Eine Mörderbande.
Ich stürze mich das Tälchen rechts runter.
Isabella schreit, nein, rechts den Hang rauf!
Nein, runter, zum Bach, dort ist ein Zaun. Wir müssen hinter den Zaun.

Entlang der Kuhtritte in der aufgeweichten Erde taumele ich den Hang hinunter, manchmal am Hosenboden, um unter dem dreifachen Stacheldrahtzaun durchzurutschen, löse den Rucksack vom Rücken, er kollert den Abhang runter und bleibt am Bachrand liegen, die Wasserflasche fliegt noch weiter runter. Aber ich bin durch, den Rucksack wieder auf dem Rücken, fische die Wasserflasche heraus und wate durch den Bach.
Das ist nur ein Tälchen, der gegenüberliegende Hang aber doch nicht zu erklimmen, denn fast senkrecht und weiche Erde.

Erst laufe ich das Bacherl nach oben, die Wände noch steiler, dann runter, die Herde noch näher, und irgendwo macht der Zaun einen rechten Winkel und endet knapp vor dem Bacherl.
Klar, die Kühe haben Zugang zum Wasser. Wieder rauf, und da finde ich eine Stelle, an der einige Fichtenbäumchen wachsen. Links das erste, weiter hoch, ein steiler Schritt, meine lästige Hüfte streikt, auweh, ich bleibe in einer Schlinge hängen, mein Fußgelenk ist gefesselt, die Hüfte sperrt, ich kann nicht mehr, tut höllisch weh.

Aber dann erblicke ich oberhalb von mir ein Bäumchen, an dem ich mich hochziehen kann, wieder ein bissl höher, am Bauch, die Kuh muht hinter mir. Grad sehe ich Boggie noch neben mir, er jappelt und kämpft sich hinauf, sehe aus dem Augenwinkel, dass dieser Abschnitt zu hoch ist für seine kurzen Beinchen. Zwergpinscher. Ich sehe ihn zurückkollern, bin aber ohne Gnade für ihn, weil ich gerade mein linkes Fußgelenk aus der Fessel befreien muss. Ich strample, schaue um mich und grapsche nach oben zu einem festen Halt. Nichts da, nur dürres Reisig, ein morscher Ast bricht an einem Fichtenstamm ab.

Weiter rechts oben krieg ich ein festes Buchenstämmchen zu fassen und ziehe mich nach oben. Da erhasche ich einen Blick auf die Leitkuh hinter dem Zaun und höre sie ganz nahe hinter mir unkühisch brüllen, ein tiefes, raues Aufheulen, aber noch hinter dem Stacheldraht, wie sie sich kopfschüttelnd darüber empört, dass wir ihnen entwischt sind. Ich ziehe mich den letzten Meter nach oben und komme zwischen riesigen Huflattichblättern an einem Straßenrand zu liegen. Im Kies schürfe ich mir die Ellbogen auf.

Bäuchlings liegend sehe ich, wie knapp hinter mir Isabella heraufkriecht.
Nimm die Buche, Isi, kürze ich aus Atemmangel ab. Sie mag das gar nicht.
Ja, Veronika. Wenn sie mich auch noch abkürzt, krieg ich den nächsten Anfall.
Wieder auf den Beinen, rase ich, ohne mir eine Pause zu gönnen, die Straße hinunter und halte nicht an, bis ich einen Schranken sehe. Er ist an der Seite arretiert, ich schaukle ihn, bis ich ihn aus der Verankerung gebracht und quer über die Straße gezogen habe.
Währenddessen schreit Isabella immer noch nach Boggie, winkt mich zu sich herauf, ich schüttle den Kopf, habe nur den Schranken im Sinn, bin versessen auf die Idee, er soll uns retten, die Kühe abhalten.

Isi steht auf der Straße, wachelt mit den Armen und deutet mir herauf. Boggie ist nicht da, Boggie, Boggie komm! Hierher! Petziputziii!
Aber da ist er schon, krabbelt knapp unterhalb von Isabella den Straßenrand hoch und beutelt sich so heftig, dass es ihn umwirft. Er ist waschelnass, offenbar ist er den Bach hinunter gelaufen, hat eine Furt und einen erklimmbaren Abhang gefunden.
Dieses Geschöpf hat sich selbst gerettet! Boggie ist so unfassbar klug, die Gefahr erkannt zu haben! Oder einfach nur genügend instinktbegabt und lebenslustig.
Ohne Worte feiern wir ihn, ich stürme aber weiter den Weg das Tal hinunter, ohne innezuhalten. Wie schon oben auf der steilen Wiese ist mein Impuls, mich zu retten, um die anderen retten zu können. Meine Bergsteiger-DNA. Epigenetik, wird Isabella später sagen, zu mir und Boggie.
Aber warum haben die Kühe ihre verloren?

Isabella ruft irgendetwas hinter mir her, aber ich rase wie aufgezogen, weg, weg, weiter, weiter, den Weg runter, weg aus der Gefahr, bis ich keine Spuren von Kuhhufen sehe. Trotzdem kann ich nicht aufhören, die Blicke nach links und rechts schweifen zu lassen und nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau zu halten:
Welchen Baumstamm könnte ich hochklettern, welcher Hang wäre zu steil für Kühe und für mich machbar, an welches Brückengeländer könnte ich mich außen klammern? Wäre das Trafohäuschen zwischen zwei Pfosten genügend Schutz? Oder unter dem unrechtmäßig im Wald geparkten Auto? Wie käme ich da wieder weg, wenn sie mich umringen würden?
Das Tälchen wird einmal weiter, dann wieder enger, aber immer lieblicher, schafft es an einer Stelle zu einer Schlucht mit kleinem Wasserfall, das Bächlein rauscht und gluckert, gesäumt von Sumpfdotterblumen, Vergissmeinnicht, Heckenrosen und Prachtspieren. Idylle pur. Wie heißt das Bacherl, das Tal?

Langsam kehre ich ins Leben zurück, werde ruhiger, gehe langsamer, ordne meinen Atem und meinen Blutkreislauf, beide Hände auf dem Sonnengeflecht. Aber erst an den ersten Häusern von Puchberg mit Metallzäunen, Gartentoren und festen Mauern halte ich an und warte auf Isabella. Sie, um einige Jahre jünger als ich, immer schon Nichtraucherin und spitzenmäßig durchtrainiert, stellt ohne Neid fest:
Bumsti, du kannst aber rennen!
Danke, ich weiß, viel davongerannt, aber noch nie im Leben vor Kühen!
Oh Gott, was ist mit den seelenvollen Kühen meiner Mutter passiert? Der Inbegriff von Schönheit und Frieden?

Wir haben auf der Flucht eineinhalb Stunden verloren, hetzen zum Bahnhof und stellen fest, dass unser Zug in sieben Minuten ankommen soll. Wir halten uns für Glückskinder, sinken in die Sitze der Zwergenbahn und atmen selig durch. Gerade sehen wir noch in der untergehenden Sonne, dass der Schneeberg seinen Wolkenhut gelüpft hat.

Erlebt am 26.5., aufgeschrieben am 27.5.18

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 18137

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