Kurze Geschichte eines Mannes mit 135 Eiern

Ich bin auf einer Hühnerfarm aufgewachsen. Meine Eltern widmeten sich voll und ganz der Aufzucht und dem Wohlergehen der Legehennen, die Eierproduktion war unser Lebensunterhalt, noch mehr als das, auch der Lebensinhalt unserer Familie.
Vielleicht erklärt das meine Eigenbrötlerei. Ich kenne jedenfalls keinen Menschen, der so ist, wie ich es bin. Meine Geschwister, die sind früher ausgezogen als ich, vielleicht ist das der Grund, warum sie als „normal“ durchgehen, während bei mir die endgültige Diagnose noch abzuwarten bleibt.
Bei uns zu Hause jedenfalls drehte sich tagein, tagaus alles um das schönste Lebensmittel von allen, unnachahmlich in Form und Inhalt: erstklassiges Design, Vollendung. Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, wie etwas so Schönes in einem so hässlichen Tier wie einem Huhn entstehen kann.

Schon beim Frühstück ging es los, meine Eltern unterhielten sich nicht mit uns, sondern miteinander: Lässt die Zahl der gelegten Eier etwa nach? Geht es unseren Hennen gut, bekommen sie auch genug hochwertiges tierisches Eiweiß? Soll ein Hahn behalten werden, oder mehrere? Wird der Auslauf zu klein, sind wir der Kokzidiose endlich Herr geworden? Der Winter naht, wir sollten die Ernährung schön langsam fettreicher gestalten …

Ob wir Kinder neidisch waren auf die viele Aufmerksamkeit, die in anderen Familien dem Nachwuchs zukommt? Wir wussten ja nicht, wie ein morgendliches Elterngespräch anderswo ablief.
Auf dem Tisch standen natürlich kernweiche Eier, oder auch einmal Rührei, Waffeln oder Spiegelei.
Doch nicht nur das erste Mahl des Tages stand im Zeichen des Eies, o nein, keine Speise blieb Ei-frei, tagsüber gab es Spätzle mit Paradeissalat, selbstgemachte Nudeln (selbstverständlich mit Hartweizengrieß, Wasser und Eiern), paniertes Schweinefleisch mit Reis oder überhaupt Allerlei vom Huhn.
Mein Körper gewöhnte sich an das viele Eiweiß, wie auch meine Geschwister bin ich groß gewachsen und das Wort Cholesterin war in unserem Haushalt verpönt, das waren eindeutig Werte, die uns niemals vermittelt wurden. Damals wurde noch die Mär aufgetischt, dass zwei Eier pro Woche das Höchste der Gefühle seien, mehr sei ungesund.
Längst widerlegt inzwischen, glücklicherweise; was haben sich meine Eltern jahrelang geärgert, nun können sie wieder beruhigt Ernährungssendungen im Fernsehen verfolgen.
Kurz gefasst, so etwas prägt zwangsläufig, keiner hatte so viel mit Eiern am Hut wie meine Geschwister und ich.

Anders als sie habe ich mich als logischer Erbe der Farm nie ganz von daheim lösen können, und damit auch nicht von diesem dominanten Thema.
So kam ich – als erwachsener Mensch, wie man so sagt – zum Studium der Philosophie, denn eines beschäftigte mich von Kindesbeinen an: das Henne-Ei-Problem.
Ich nahm mir vor, dem ernsthaft auf den Grund zu gehen und hatte ein ambitioniertes Ziel: Ich wollte der erste Mensch sein, der dieses Rätsel einwandfrei löst. Was war zuerst da: die Henne oder das Ei? Das kann ja nicht so schwierig sein.
Dachte ich mir – so war es aber keineswegs, selbst bei eifrigster, reiflichster Überlegung nicht … Nie bin ich an ein Ende gekommen, weder dieser Fragestellung noch des Studiums: Wie viel ich auch lernte und studierte, es war und blieb ein Rätsel.

Ich war verzweifelt. In meiner schlimmsten Phase begann ich, gängige Wörter, die Zählbares beschrieben, durch das Wort „Ei“ oder „Eier“ zu ersetzen. So war eine Nachbarin eine Frau von 32 Eiern (also Jahren); wer Geld brauchte, dem fehlten 20 Eier oder mehr; wer nicht alle Eier im Schrank hatte, dem war nicht mehr zu helfen.
Mein Zustand wurde so offensichtlich, dass wohlmeinende Personen in meinem Umfeld beschlossen, es sei an der Zeit, gegenzusteuern, bevor endgültig niemand mehr mit meiner eigentümlichen Sprache zurechtkäme (meine Eltern übrigens waren die Einzigen, die darauf gelassen reagierten, wir hatten in dieser Hinsicht keinerlei Verständnisprobleme).

Die Therapeutin, die mir empfohlen worden war, machte mir gleich eine große Freude, als sie mich mit einem einladenden Lächeln bat, einzutreten, und wir erzielten auch schnell einige Fortschritte in Richtung Ei-befreites Denken.
Sie war es auch, die mir vorschlug, meine Gedanken schriftlich festzuhalten, und so erhielt ich einen aufschlussreichen Einblick in meine kläglich verbo(r)gene Gedankenwelt:
Keinen einzigen Satz konnte ich schreiben, in dem nicht mindestens ein „Ei“ oder zumindest „ei“ vorkam.
Wer es nicht glaubt, dem sei die Textbearbeitung meiner schlauen Therapeutin hiermit zur Verfügung gestellt.

Meine Fixierung wird sich hoffentlich bald bessern, aber selbst wenn es einige Zeit dauern sollte, bleibe ich dabei: Diese Frau genießt mein Vertrauen, sie ist mein Anker und mein Sonnenschein und ich gehe jedes Mal gerne zu ihr. Dort fühle ich mich wohl und ich behalte diesen Kurs bei, egal wie lange wir bis zur Heilung brauchen werden, es ist mir einerlei.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 14012

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