Ordnung im Chaos. Luigi Pirandello (1867-1936) zum 150. Geburtstag am 28. Juni

Ein durchgeistigter Kopf mit hoher Stirn, großen, dunklen, wachen, zugleich gedankenvollen Augen, gerader Nase im schmalen Gesicht, verlängert durch Kinn- und Spitzbart, so präsentiert er sich auf dem am häufigsten reproduzierten Porträtbild aus der Alterszeit. Ein Mann mit Durchblick und doch ein Mann der Nachdenklichkeit, sehr aufmerksam und doch sinnend, vornehm und doch «allem» zugetan. Nein, diese Eigenschaften legt nicht nur das Foto nahe, sie vermitteln ebenfalls seine Biographie und ziehen sich zutiefst durch sein ganzes Werk.

Bekannt ist der Mann, wenn noch überhaupt in unseren Breiten, vor allem als Dramatiker. Sein Ruf kommt nicht von ungefähr; nicht zuletzt entwickelte er sich mehr und mehr zum Praktiker, der sogar 1924 eine eigene Theatertruppe gründete, mit der er für mehrere Jahre auf Welttourneen ging. Und der bereits früh, 1892, in seiner Bonner (!) Dissertation Laute und Lautentwicklung der heimischen Mundart untersuchte. Das Stück «Sechs Personen suchen einen Autor» (1921) steht allerdings als fast einziges pars pro toto für ein umfangreiches, bereits zehn Jahre zuvor beginnendes dramatisches Schaffen. Das sogar bald Max Reinhardt als Regisseur nördlich der Alpen fand. Drama, das nimmt Pirandello sehr wörtlich: Jedes Scheinbild, jedes Geschöpf der Kunst muss sein Drama haben, um zu existieren, schreibt er in einer langen Vorrede, das heißt ein Drama, dessen handelnde Person es ist und durch das es zur handelnden Person wird. Wenn jetzt nur in der Phantasie entstandene Figuren auf die Bühne kommen, entwickeln sie ein Eigenleben, eine «unmögliche» Situation. Deshalb kann es keine logische Entwicklung, […] keinen Zusammenhang der Geschehnisse geben. Die Folge ist ein organische(s) und natürliche(s) Chaos, das aber alles andere als konfus dargestellt wird, sondern im Gegenteil sehr verständlich, einfach und geordnet. (Dazu sei eine Anmerkung erlaubt: Ein Augenzwinkern des Schicksals ließ Pirandello in einem Ortsteil des sizilianischen Agrigent namens Càvuso, Chaos, das Licht der Welt erblicken.) Eine andere Version legte Pirandello zeitgleich mit Heinrich IV. (1922) vor, im Erkennen vergangener Wirklichkeiten, die wie ein […] Traum zurückgeblieben sind, ein buchstäbliches Spiel mit gleichzeitiger heutiger Identität und mittelalterlicher Konkordanz – auf derselben Bühnenebene, fast zwangsweise eine Tragikomödie[1].

Der Ruhm allein als Dramatiker ist schade, denn sein erzählerisches Werk ist nicht nur sehr umfangreich sondern ebenso bedeutend. Pirandello wollte eigentlich für jeden Tag im Jahr (also 365 Mal) eine Novelle vorlegen; ganz hat es nicht gereicht … Es gibt (auch im Taschenbuchformat) einige gute Zusammenstellungen in deutscher Übersetzung, die die Breite seines Schaffens und damit seiner spezifischen Annäherungsweise an komplexe humane Stoffe darlegen.

Schon sein erstes Werk (1904), ein Fortsetzungsroman, lässt im Titel aufhorchen: Il fù bzw. Der gewesene Mattia Pascal[2]. Ein auf einer, heute würde man sagen: virtuellen, Ebene, Gestorbener berichtet über sein aktuelles Dasein: Sein und Schein verwirren sich (auch ohne Bühne). Bis zum Schluss seines Schaffens gelingt es Pirandello meisterlich, das jeweilige Geschehen der Erzählungen ganz konkret «auf der Kippe» zu lassen. Es kann sozusagen alles anders kommen, ohne dass sich wirklich etwas (äußerlich) ändert. Oder umgekehrt, es ändert sich (äußerlich) nichts und zugleich hat sich die Grundlage des Lebens verschoben. Solche Entwicklungsgänge erscheinen kaum einmal als schwer oder gar als schrecklich, denn es sind die «nur» kleinen Verschiebungen, die eine hohe Wirkung entfalten. Niemand ist gefeit vor derartigem Schicksal. Nein, zuerst: Ein eigentliches Schicksal ist es nicht, denn niemand greift da ein, gar autoritär oder mit Macht. Ausgerechnet in dem zunächst als unverrückbar Gekennzeichneten ist die folgende abweichende Wende bereits angelegt. Eben darum kann es jeden treffen, den armen Schlucker wie den bedächtigen Anwalt, die ehrbare Witwe wie den braven Angestellten, den würdigen Professor wie den glücklichen Besitzenden. Wenn die kleinen, die einfachen Leute dasselbe Recht auf die ihnen eigene Existenz haben wie die Studierten und die Betuchten, gewinnt die vom Verfasser stets sorgsam erarbeitete Haltung (der Habitus) der Personen als ihr Erscheinungsbild zeichenhaft die Kenntnis innerer Zustände. Auf, in dieser allen gleichen Ebene wird viel sicher Geglaubtes fragwürdig, vom täglichen Kleinkram über das Heldentum bis zu «der» Wahrheit.

Gerade in dieser, eben nicht nur atmosphärischen, sondern wegweisenden vielschichtig lebensphilosophischen (Schreib-)Weise überwindet Pirandello – der, nach Journalistentätigkeit seit 1892, als Professor für italienische Literaturgeschichte in Rom 1897-1922 die Szene bestens kannte – auch im Erzählerischen den in Italien nach wie vor tonangebenden und betont bodenständig argumentierenden Verismo (den Realismus, am bekanntesten wohl jener von Giovanni Verga). Jetzt erhalten wir Lesenden von ihm subtile psychologisch-inhaltliche Charakterisierungen, doch gerade so knapp, um noch folgen zu können, gerade so sprunghaft, um gebannt die Lücken selbst zu füllen, gerade so kurz angebunden, um mehr erfahren zu wollen, gerade so facettiert, um effektiv betroffen zu sein. Namen sind da kein Zufall, sie führen weiter in die Tiefe, ebenso – und nicht selten – die Titel, etwa und insbesondere «Angst vor dem Glück», «Wenn man das Spiel verstanden hat» oder «Die Pein dieses Lebens».

Wer wie eine Art Kernaussage eine außerordentlich konzentrierte und doch zutiefst literarische (!) Version kennenlernen möchte, der/dem sei die relativ späte Kurzgeschichte «Antwort» empfohlen (Risposta, aus Sciale Nero, 1922[3]). Hier wird das für Pirandello entscheidende Tableau der menschlichen Fragestellungen – Was bin ich wirklich? Was ist demnach richtig? – fast tabellarisch (die Fakten) geordnet und zugleich höchst kunstvoll in der Verschränkung des Verhältnisses von vier Personen abgehandelt in der Argumentationskette eines Ich-Erzählers, in dem unschwer der Autor als Interpret erkennbar wird. Glaub mir, mein Freund, dein Fall (das Versetztwerden durch die vermeintliche Geliebte mit zwei anderen Männern) ist uralt. Neu und originell ist daran nichts als meine Methode und die Erklärung, die ich dir liefern werde. Der vertrackte Ausgangspunkt: Eine andere ist Signorina Anita gewiss. Nicht nur das; sie ist noch viele und viele andere […]; obwohl ein jeder von uns die Illusion hat, die wahre Signorina Anita sei lediglich diejenige, die er kennt; und obwohl auch sie selbst, ja, vor allem sie selbst, die Illusion hat, nur eine und immer dieselbe für alle zu sein. Und was ist, in der Zusammenfassung, das überraschend wichtigste Indiz: Siehst du, mein Freund, es hat schon einen Grund, dass du mir nie von dem Stupsnäschen der Signorina Anita erzählt hast! Dieses Näschen gehört nicht dir. Dieses Näschen gehörte nicht deiner Anita. Dir gehörten die Nachtaugen, ihr leidenschaftliches Herz, ihre ausgesuchte Intelligenz. Aber nicht das verwegene Näschen mit den fleischigen Flügeln […]. Dies Näschen wollte sich rächen […].

Pirandello hätte durchaus von eigenen vielschichtig verflochtenen Lebenssituationen berichten können, namentlich über sein (widersprüchliches) Verhältnis zur italienischen Politik, nicht zuletzt zum regierenden Faschismus, oder über die psychische Krankheit seiner Frau, die 1919 eine Hospitalisierung notwendig machte, oder über die Auswirkungen seines Literatur-Nobelpreises 1934. Voraussichtlich galt bei ihm, nein, für ihn dieselbe achtbare Basis wie für seine Erzählungen: Kein persönliches Geschick ist sehr schwer zu ertragen oder gar bejammernswert, sondern in allen chaotischen Zuständen regiert letztlich immer eine ihnen immanente Ordnung. Welche ihrerseits in dem eleganten, eingängigen und feinen Schreibstil des Autors ihre sozusagen definitive Fassung erhält. Und so prägt – Ach, niemand von uns kann das, was er aus innerem Antrieb tut, richtig übersehen[4] –  gerade eine grundlegende Ambivalenz in unnachahmlicher Weise ein großes, bedeutendes literarisches Schaffen.

[1] Beide Zitate aus L.P., Sechs Personen suchen einen Autor / Heinrich IV, Fischer TB 592, Frankfurt/Main 1964.
[2] Auf «spiegel-projekt gutenberg» im Internet zu lesen.
[3]  Zitiert nach L.P., Novellen für ein Jahr, Fischer TB 1336, Frankfurt/Main 1973, S. 7-16; etwa gleichzeitig wird von L.P. dieselbe Meinung im Stück «6 Personen», in «Heinrich IV.» und auch in zahlreichen Geschichten ausgedrückt.
[4] Heinrich IV. im 1. Akt.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

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