Big brother is watching you

Von Jerewan nach Tbilisi

Wann ich studiert haben soll, ist mir rätselhaft. Ich war ständig auf Reisen. Aber sicher erinnere ich mich: Ich hatte ein Zimmer in der MGU, im 17. Stock des Westturmes, vorbehalten den imperialistischen Ausländern. Die Dissertation konnte warten. Ich konnte ja nicht wissen, ob ich jemals noch ins Reich des Bösen gelassen werden würde.
Reisejahre sind Lehrjahre, sagt man, auch, Reisen bildet.
Auf der Reise von Jerewan nach Tbilisi habe ich jedenfalls etwas gelernt, was auf keiner Universität der Welt unterrichtet wird, sofern sie nicht eine Uni des KGB ist. Ich bekam die erste Lektion im Erkennen von KGB-Agenten. Eine sehr praktische Lektion, eine Anwendung in natura sozusagen.

Ich hatte meine erste Rundreise durch das schöne Armenien mit einigen Tagen in der Hauptstadt Jerewan abgeschlossen. Ein paar Kollegen von der MGU habe ich zu Hause besucht, die grenzenlose Gastfreundschaft dieses Volkes kennengelernt, natürlich auch unter dem Nimbus eines raren Exemplars von westlichem Ausländer. Manche Gastgeber riefen die ganze Familie und die Nachbarschaft zusammen, um das Mondschaf zu bestaunen. Zugegeben, es war nicht allzu schwer mit mir: Ich war nicht unansehnlich, dreiundzwanzig Jahre alt mit blonder Mähne und Minirock, konnte Russisch, war neugierig und nicht schüchtern. Alles war freundlich und angenehm, nie zudringlich oder unhöflich. Höchstens das endlose Essen und Trinken, zu dem ich genötigt wurde, konnte zur Qual werden. Man wollte vor mir die Reichtümer des Landes mit seiner ältesten christlichen Kultur ausbreiten. Irgendjemand hatte immer einen Moskwitsch oder Lada, der mich zu Kirchen, Klöstern, auf Berge und zu Seen führte.

Und noch ein Kreuz oder Grabstele auf einem hohen Kaukasus-Berg mit den fantastischsten Aussichten, noch eine Schlucht, noch ein Wasserfall, noch ein einsamer Schäfer mit seiner Herde und dem besten Käse und Kefir. Schau, so wird man in Gesundheit 120. Bei einem solchen Hirten kaufte ich meinen ersten Teppich und begann damit einer lebenslangen Leidenschaft zu frönen. Ich schleppte ihn viele Jahre von Wohnung zu Wohnung, von Land zu Land, bis er einmal als von Motten zerfressener Staublappen von der Wand fiel. Das Sammeln habe ich deswegen nicht aufgeben, hasse diese Tiere aber aus tiefstem Herzen und will noch immer 120 werden, auch wenn ich keinen Zugang zu armenischem Käse und Kefir habe. Man kann nie alles sehen, auch in dem kleinsten Land nicht. Aber nach einer Woche kaufte ich eine Bahnfahrkarte nach Tbilisi und nahm Abschied. Es war der Nachtzug, das weiß ich mit Sicherheit, um Zeit zu sparen.

Bei der Abfahrt war es noch hell genug, dass ich die Landschaft bewundern konnte. Zuerst durch die Fenster des Abteils, später vom Gang aus. Im Coupé nahm ich flüchtig zwei Männer wahr, denen ich keine Beachtung schenkte, mit zu kleinen Hüten auf dem Kopf. Ich grüßte kurz mit dobri vetscher und stellte meinen Rucksack ab. Sie saßen stumm in zwei Ecken und verbarrikadierten sich hinter der Pravda und Izvestja. Ich wollte vor allem den Ararat nicht verpassen, an dem die Strecke vorbeigehen sollte. Vorerst fuhren wir aber durch eine üppig grüne Ebene, auf der weiße Pferde grasten, dazwischen hineingestreut die Jurten aus weißem Leder, eine Symphonie in Weiß und Grün, rosig angestrahlt von der untergehenden Sonne. Ich stehe am Gangfenster und es geht klick-klick-klick. Ich fotografiere, was das Zeug hält. Es ist meine erste Kamera, eine begehrte Leica aus der GDR, erstanden in Moskau auf dem Arbat.

Dann Hirten mit ihren ausladenden schwarzen Filzumhängen, die sie wie Zelte aussehen ließen, gestützt auf ihre gekrümmten Stäbe. Wieder klick-klick-klick. Später tauchten auch noch Schaf- und Ziegenherden auf, wieder alles in Weiß vor den grünen Weiden in der niedrigstehenden Sonne goldüberflutet. Ich bekam mein ultimatives Kaukasus-Erlebnis, von dem ich seit meiner Kindheit geträumt hatte. Herrlich, da tauchte rechts in der Ecke des Fensters schon der hohe Gipfel des biblischen Berges auf, links daneben sein kleiner Bruder. Ich werde die Saga umschreiben, die Arche Noah ist nicht auf dem Ararat gestrandet, sondern genau im Sattel zwischen den beiden Gipfeln zum Sitzen gekommen. Idealer geht’s nicht für so ein unlenkbares Schinakl. Sie hätte nie und nimmer auf der Spitze landen können.

Gerade als die Westsonne den Großen Ararat beginnt mit Gold zu bewerfen, spüre oder sehe ich aus dem Augenwinkel links neben mir eine Bewegung und höre ein schnarrendes Geräusch wie rrrrtttsch oder krrrtsch. Die zwei Männer aus meinem Abteil begrenzen mich ganz eng. Der linke hat meinen Fotoapparat geschnappt, geöffnet und den Film herausgezogen. Mit einer solchen Affengeschwindigkeit, dass ich es erst beim Schnarren bemerkte. Belichtet, alles weg. Der rechte hielt mir das braune, sich einrollende Filmband vor die Nase, es baumelte wie eine große Spirallocke. Und die Bemerkung: Wir haben Sie gewarnt, Towarischtsch inostranka, Genossin Ausländerin, aber Sie wollten ja nicht hören und nicht sehen. In Tbilisi werden wir Sie überprüfen, ob Sie eine Spionin sind.

Danach weiß ich nur noch, dass ich geheult habe und den heiligen Ararat - groß und klein, hoch oder niedrig, mit Gipfel oder Sattel, mit oder ohne Abendsonne - nicht genau gesehen habe.
Die südliche Grenze der sowjetischen Republiken Armenien und Georgien stößt fast zur Gänze an die Türkei, ein NATO-Land. Außengrenze zum imperialistischen Westen.
Ich naive Trottelin hatte in meiner Begeisterung für grüne Wiesen, weiße Pferde, Schafe und Ziegen, knorrige Hirten und romantische Lagerfeuer nebenbei natürlich jede Menge Telegrafenmasten, Schienen, Brücken, Bahnhöfe, Schranken, Übergänge, Wärterhäuschen, Wartebänke, Brunnen, Futterkrippen, Misthaufen, Heuschober, Sauställe und was weiß ich noch alles fotografiert.

Aber woran ich in meiner Naivität gar nicht gedacht hatte, war das, was man nicht sah: Die Grenzanlagen an einer Grenze, die noch schwerer bewacht war als die zwischen Nord- und Südkorea. Die Grenze zum absoluten Feind, der NATO. Auf der anderen Seite lag die Türkei. Was war da nicht alles unsichtbar aufeinander gerichtet? Unterirdische Raketenabschussrampen, Raketensilos, Truppenbunker, Minenfelder, Selbstschussanlagen, Horch- und Spähposten. Davon sollte wirklich nicht der Schatten eines Bildes überleben und in den Westen geraten, wenn auch nur in ein privates Fotoalbum.

Spionka. Das klang nicht gut, das war kein Spaß. Außerdem war an meinem Pass abzulesen, dass ich mich länger in Amerika und England aufgehalten hatte. Andererseits hatte ich meterlange Ausweise des Ausländerreferats der MGU, des Ovir, das nichts anbrennen lässt, einen sechsmal überprüft, ob man die 40-Kilometer-Sperre um Moskau überschreiten darf. Idiotisch, dass ich mir vor meiner ersten Reise ins Land des Arbeiter- und Bauernparadieses keinen neuen Pass ausstellen habe lassen. Späte Reue, aber wer kannte sich damals schon gut aus? Noch größere Idioten in der Wiener Uni und den Ministerien, die einem dazu nicht geraten hatten. Zum Glück hatte ich damals noch keinen israelischen Stempel.

Vor allem grübelte ich über die angebliche Warnung der Agenten nach. Was konnte das gewesen sein? Wir hatten doch nichts miteinander als meinem dobri vetscher- Guten Abend-Gruß und ihrem stummen Halb-Nicken. Was hatte ich übersehen? Das waren in etwa meine Gedanken die restliche Nacht hindurch in meinem unbequemen Sitz-Coupé, allein und in großer Hitze mit versiegelten Fenstern. Feindesgrenze.

Wie unbemerkt sie an mich herangetreten waren, okay, das lässt sich erklären mit meiner Kaukasus- und Ararat- Versunkenheit in die Bilder vor den Zugfenstern.
Warum hatte mich niemand von meinen russischen und armenischen Freunden gewarnt? Weil sie hier aufwuchsen und diese Verhältnisse für selbstverständlich hielten. Außerdem würde nie jemand ein politisches oder militärisches Thema anschneiden. Vieles Private sogar wurde nur bei laufendem Radio oder auf einer leeren Straße besprochen.

Das brutale Herausreißen des Films hatten sie wahrscheinlich auf ihrer KGB-Uni bis zum Umfallen trainiert. Vieles andere auch noch. So wie Oliver Twist angeleitet von Uriah Heep, die Diebstähle von Geldbörsen, Scheckbüchern, Monokeln, Tintenfüllern, Seidentaschentüchern und sogar von ganzen Regenschirmen, geübt an Puppen mit Glöckchen zur Perfektion, bis gar nichts mehr klingelte. Zauberer, Illusionisten. Im Zirkus und im Varieté zahlen wir Eintritt und glotzen auf sie in endlosem Vergnügen und Schaudern.
Den vernichteten Film konnte ich am leichtesten verschmerzen, wusste ich doch damals schon, dass ich mit einem eidetischen, das heißt, Bildgedächtnis ausgestattet war. Meine Augen sind Kameras mit großer und genauer Speicherkapazität im Hirn.

Wenn ich das heute aufschreibe, so wie jetzt, sind seit damals genau 46 Jahre vergangen. Ich habe nie wieder an diese Reise gedacht, bin nie wieder auf dieser Bahnlinie gefahren, und sehe trotzdem noch immer jedes grüne Gräschen, jedes weiße Pferd, Schaf, Ziege, Jurte, Schäfer mit dem mehrfach gekrümmtem Hirtenstab – ah, jetzt hab ich’s, wie Widderhörner – und die einzeln über die Kanten des Ararat kriechenden Strahlen, scharf gegen die untergehende Sonne abgezeichnet, auf der Hinterplatte gespeichert, sodass ich diese Bilder mit Worten auffinde.

Ich kann alles ablesen wie von einer laufenden Filmleinwand. Sogar vorwärts und rückwärts, stoppen bei einem Pferd oder einem Sonnenstrahl. Nur das Geräusch tut mir noch weh, nein, es ist ordinär, es beschämt und lässt Übelkeit aufsteigen.  Ich war doch keine Feindin, keine Spionin, sondern nur eine, … ja was denn? Eine Russisch-Studentin, die nur das Land kennenlernen und genießen wollte. Schwer, dieses Land zu lieben. Ich hielt lange daran fest und bekam viele Gründe dafür.

Die KGB-ler mit ihren Zeitungen, karierten Hemden, zu kurzen Hosen, braunen Socken, schlechten Schuhen und zu kleinen Hüten verschwanden ins Nirgendwo des Nachtzuges. Sie tauchten auch am nächsten Morgen in Tbilisi nicht mehr auf. Ich wartete eine Zeitlang in der Ankunftshalle und machte mich dann auf den Weg zu meinem Studienkollegen Gigi in der Altstadt. Eine wunderbare Woche in Georgien. Der Kaukasus hat mich erobert.

Die sogenannten Warnungen blieben mir lange noch ein Rätsel, bis ich mich einem Moskauer Freund anvertraute. Er klärte mich auf. Die Zeitungen, karierten Hemden, die lächerlichen, zu kleinen Hüte, vorgeschoben in einem bestimmten Winkel auf die Halbglatzen und alle anderen Attribute waren Codes von KGB-Agenten.
Jeder Russe wusste das, sah es, roch es. Aber man sprach nicht darüber. So lernt man auch ohne Uni. Auf Reisen.
Seit Putin ein bekanntes Gesicht wurde, erinnere ich mich wieder an den Zwischenfall im Zug zwischen Jerewan und Tbilisi, als könnte er in seiner KGB-Jugend dort geübt haben.

15.7.17

Veronika Seyr
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