Ein einsames Gespräch

Was starrst du mich so an?

Was ist? Was?

Antworte mir!

Sag etwas. Bitte!

Seit Wochen sprichst du nicht mit mir.

Ich bin deine Frau. Du sollst mit mir reden. Du musst!

Weißt du noch, welch gute Gespräche wir früher geführt haben?

Wir haben nächtelang geredet.

Über alles. Einfach alles.

Was hat sich geändert?

Ich bin immer noch dieselbe Frau. Deine Frau.

Ich liebe dich doch!

Wie an dem Tag, als wir uns kennengelernt haben.

Seit mehr als sechs Wochen sprichst du nicht mit mir!

Sag, liebst du mich eigentlich noch?

Nicht einmal jetzt sagst du etwas!

Früher warst du kommunikativer. Und liebevoller.

Denkst du etwa an eine andere Frau?

Ich weiß, ich kann dir keine Kinder schenken.

Aber das habe ich dir zu Beginn unserer Beziehung gesagt.

Und du hast gesagt, dass das kein Problem ist.

Sag was. Rede mit mir. Bitte!

Du isst auch nicht mehr.

Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?

Jeden Tag koche ich ein Gericht, von dem ich weiß, dass es dir schmeckt.

Und du isst nichts! Jeden Tag muss ich die Hälfte wegwerfen.

Ach, es ist schlimm mit dir. Willst du mich überhaupt noch?

Seit Wochen hast du mich nicht mehr berührt.

Kein Kuss, kein Streicheln, kein Beischlaf.

Findest du mich denn gar nicht mehr anziehend?

Jedenfalls lasse ich mich nicht gehen!

So wie viele Frauen in meinem Alter.

Und so wie du!

Du hast schon recht gehört!

Jeden Tag mache ich mich für dich schön. Und was tust du?

Du lässt dich gehen! Wann hast du dich das letzte Mal rasiert?

Wann hast du dir zum letzten Mal die Haare gewaschen? Wann die Zähne geputzt?

Du siehst aus wie ein Penner!

Und du riechst auch so. Wenn nicht schlimmer!

Du stinkst! Wenigstens nicht mehr nach Bier und Schnaps.

Ich bin ja glücklich darüber, dass du nicht mehr säufst.

Trotzdem stinkst du. Wie ein nasser Hund.

Nein, wie ein Iltis! Und du hast auch schon Krallen wie ein solcher.

Wann hast du dir das letzte Mal die Fingernägel geschnitten?

Ich liebe dich sehr, aber in diesem Zustand widerst du mich an.

Seit Wochen kann ich meine Freundinnen nicht einladen.

Ich kann ihnen doch nicht zumuten, dich so zu sehen.

Ich will mich nicht für dich schämen müssen!

Früher warst du ein attraktiver Mann.

Und ein gepflegter. Und heute?

Wann hast du zuletzt die Kleidung gewechselt?

Vor Wochen, möchte man meinen.

Nein, so geht es nicht weiter. Ich liebe dich, aber so kann es nicht weitergehen.

Ich habe alles versucht. Wirklich alles! Was soll ich denn noch tun?

Dass ich dir vorgestern ein Büschel Haare ausgerissen habe, tut mir leid.

Du hast nicht einmal reagiert. Keinen Ton hast du von dir gegeben.

Gestern erst habe ich sechzehn Fliegen auf deinem Kopf erschlagen. Sechzehn!

Ich weiß nicht mehr weiter! So kann es nicht weitergehen. Ich muss mich von dir trennen.

Ja, das muss ich tun. Um mich selbst zu schützen.

Glaube aber nicht, dass ich das Haus verlassen werde!

Du wirst das Haus verlassen!

Ich werde dir dabei helfen. Weil ich dich immer noch liebe.

Ich gehe dabei sogar so weit, dich zu tragen.

Ich trage dich in den Garten. Noch heute Nacht.

Ich habe dort ein Loch gegraben.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17085