Das Mädchen von nebenan

für C.K.

Ich lernte Conny zwei Wochen vor Weihnachten kennen, als wir beide Patienten auf der psychosomatischen Station des AKH waren. Conny war ein viel beschäftigtes Mädchen; sie zeichnete Selbstporträts, malte Aquarelle, schrieb kleine Geschichten und Gedichte. Sie war anteilslos gegenüber Mitpatienten, nahm aber an allen Aktivitäten teil. Wir begegneten uns mehrmals in der Kunsttherapie und der Schreibwerkstatt. Vor allem aber machte sie Zukunftspläne. Sie hatte zu Heiligabend Geburtstag und würde heuer sechzehn.

Es war auf bunten Plakaten angekündigt, es sollte eine Party mit Besuchern auf der Station geben, und sie würde dabei sein dürfen. Unter einer Bedingung: Sie müsste vierzig Kilo auf die Waage bringen, sagten die Ärzte. Conny hatte achtunddreißigeinhalb. Es waren noch sechs Tage bis Weihnachten. Das Personal achtete genau darauf, dass sie nicht schummelte, ihren Bauch mit Wasser auffüllte, aß und erbrach oder ihre Körperöffnungen mit allerhand Gegenständen vollstopfte. Bei jeder Trickserei kamen sie ihr auf die Schliche. Es war nichts zu machen, es half nur essen. Und genau das wollte sie nicht.
Es sollte die erste Party ihres Lebens sein. Conny war magersüchtig und wäre mit vierunddreißig Kilo vor einem Jahr fast gestorben.

Eigentlich hätte Conny gar nicht hier sein sollen, auf der Psychosomatik, sie gehörte in eine Abteilung für Kinder und Jugendliche. Da fand man aber keinen Platz für sie, und sie hatte offenbar niemanden, der sich genügend für sie einsetzte. Conny kam aus der „Stadt des Kindes“, einer der besten Sozialeinrichtungen der Stadt, war also ein Sozialfall. Besuch von der Familie bekam sie nie, die hatten ein Annäherungs- und Betretungsverbot, Großvater, Stiefvater und sogar die leibliche Mutter. Die zwei jüngeren Geschwister waren in einem Kinderheim untergebracht. Einmal sah ich eine elegante, mittelalte Frau mit ihr im Besucherbereich zwischen den Kübeln mit halbdürren Philodendren und Yukkapalmen sitzen, Papiermappen auf den Knien, Conny schaute in die andere Richtung, vielleicht eine Erzieherin oder Sozialarbeiterin.

Ich bemerkte Conny zuerst auf den Korridoren, eine erbärmliche, bemitleidenswerte Gestalt. Sie schlurfte durch den Korridor, gebückt wie eine alte Frau, auf die Stange des Tropfs gestützt, die sie langsam neben sich herrollte. Wenn es ihr schlechter ging, schob sie sich in einem Rollstuhl durch die Gänge. Einmal sah ich, wie sie ein Pfleger hinter sich herzog. Ich kam ihr entgegen und lächelte ihr zu, sie versuchte zurückzulächeln. Es kam dabei aber nur eine Grimasse heraus; sie war so mager, dass ihr Gesicht wie ein mit altem Pergament überzogener Totenkopf aussah, gelblich und faltig, in den Augenhöhlen blau. Eine sechzehnjährige Greisin, ein Gespenst in einem lindgrünen Bademantel.

Sie war wahrscheinlich einmal ein hübscher Teenager gewesen, von dem nur noch die großen, dunklen Augen übriggeblieben waren. Sogar die Lockenpracht war ihr ausgefallen. Sie trug immer ein gehäkeltes Häubchen auf dem kahlen Kopf, einen gebatikten Seidenschal um den dünnen Hals und an den spindeldürren Kinderärmchen eine Ansammlung von schlotternden Freundschaftsbändern.

Dass wir unsere Zimmer nebeneinander hatten, stellte ich erst am vierten Adventsonntag fest, als wir vom angesagten Chorsingen zufällig gemeinsam in unseren Gang zurückgingen. Mit ihrem Greisinnen-Lächeln verabschiedete sie sich vor ihrer Türe und schob sich und die Stange ins Zimmer. Da fiel mir ein, an wen sie mich erinnerte, an meine tot aufgebahrte Großmutter, aber die war über achtzig gewesen.

Ich setzte mich auf mein Bett und las weiter in meinem derzeitigen Lieblingsbuch „Das Licht aus dem Osten“ von Peter Frankopan, halb aufrecht mit dem Rücken an der Wand, tief in einen Kissenberg gelehnt. Mir ging es ausnahmsweise ziemlich gut, rundherum, ich konnte diesen Zustand deutlich wahrnehmen. Ich war auf Seite 117 und freute mich, dass ich in dem ziegelschweren Buch noch 873 Seiten vor mir hatte.
Anfangs klang es wie Rascheln oder Nagen oder Schaben, sodass ich mich unwillkürlich im Zimmer umsah, ob es irgendwo Mäuse gäbe. Ich lauschte weiter um mich herum und erkannte unrhythmische Unterbrechungen in den unbestimmten Geräuschen zwischen Rascheln und Zischeln. Das kam nicht aus meinem Zimmer, da war ich mir sicher, es war nicht mein eigenes Raucher-Rassel-Atmen oder das Buch-Seiten-Umwenden. Eindeutig, es kam von jenseits der dünnen Betonwand. Leise, stockend und unterdrückt, aber es war eindeutig ein Schluchzen. Conny weint.

Was tun, überhaupt etwas tun, ich kenne sie nicht. Misch dich nicht ein, du hast deine eigenen Probleme, spiel dich nicht auf, immer die Samariterin, selbst hilflos, es ist kein Zufall, dass du hier bist, auf der Psychosomatik, wenn auch aus anderen Gründen.
So redete ich mir zu, und dann kam das Aber: Sie ist so jung und zerbrechlich, vielleicht braucht sie nur einem Menschen neben sich, ein Wort, eine kleine Aufmunterung. Ich klopfte an ihrer Tür und hörte ein leises, fragendes Ja? Sie saß tief gekrümmt in ihrem Rollstuhl, der Balkontür zugewandt. Ich sah, dass es ihren mageren Rücken im lindgrünen Frotteemantel schüttelte. Das Häubchen war verrutscht, und der Schal lag neben ihr am Boden.

„Conny, was ist, brauchst du was, kann ich etwas für dich tun?“
Ich hatte sie noch nie angeredet und kannte auch ihre Stimme nicht. In der Kunsttherapie arbeitete sie immer stumm vor sich hin, und beim Adventsingen war sie auch nur dabeigesessen. Durfte ich sie überhaupt mit Du ansprechen? Eine fast Sechzehnjährige? Sie kauerte zusammengesunken im Rollstuhl, protestierte aber auch nicht, als ich mich daneben auf einem Stuhl niederließ, vorsichtig, nur an der vordersten Kante, damit ich schnell aufspringen konnte, wenn sie mich verjagte. Ich wagte nicht, ihr auch nur die Hand auf die Schulter zu legen. Sie wischte sich über die Augen, zog durch die Nase auf und sagte fast unhörbar:
„Ich habe mich so auf die Party gefreut. Verstehen Sie das? Es ist ja mein Geburtstag und Weihnachten auch noch dazu.“
Ich glaube, dass die zu Heiligabend geborenen Kinder alle mit diesem Geburtsdatum hadern. Keines bekommt doppelt so viel.

Was sollte ich tun, völlig ausgeliefert ihrem Unglück und meiner eigenen Hilflosigkeit, aber ich hatte mich schon eingemischt.
„Conny, magst du mir was von deinen Arbeiten zeigen?“
In den Malstunden ließ sie nie jemanden in ihren Zeichenblock hineinschauen.
„Meinen Sie, aber das mach ich doch nur für mich, das ist ja alles nichts.“
„Aber mich interessiert es, ich würde so gerne etwas von dir sehen.“
Ich bin keine Therapeutin und habe keine eigenen Kinder. Wie lenkt man Unglückliche ab, wie bringt man sie an das andere Ufer?
Sie schniefte tief, rückte das Käppchen zurecht, hob den Schal vom Fußboden auf und rollte zu ihrem Nachtkästchen. Aus der Lade zog sie aber keine Zeichenmappe heraus, sondern ein Schulheft mit kariertem Umschlag.
„Die Zeichnungen sind schlechtes Zeug, nur Gekritzel, nix zum Herzeigen, aber ein paar Gedichte sind mir gelungen, glaub ich“, sagte sie fast entschuldigend. Schau, ist doch gar nicht so schwer, dachte ich mir.
Sie kam zum Fenster zurück und begann im Heft zu blättern, dann zu lesen, zuerst leise für sich, sie bewegte nur tonlos die Lippen.

Irgendwann kam die Stimme hervor und wurde lebendig, sie las mit brüchiger Stimme:

Gedanken
Gedanken wanken
schwanken
Gedanken über Sachen
die meist nur
Sorgen machen
Gedanken verbinden
Seelen und Herzen
das bringt nur unnötige Schmerzen
Gedanken
können böse sein
doch manche schrei‘n:
„erlöse, erlöse“
Hüte deine Gedanken,
hüte sie gut
verrate damit
keinen Mut
Deine Gedanken sind noch rein
Nun weißt du es genau
hoffentlich wird das lange
noch sein
Nun weißt du es genau:
Gedanken
schwanken
C.K.

Sie hatte das Gedicht ins Reine geschrieben und ihre Initialen darunter gesetzt, was mir wie ein Zeichen eines nicht unbedeutenden Selbstbewusstseins vorkam.
Später hat sie es mich abschreiben lassen.
„Conny, das ist gut, sehr gut sogar!“, platzte ich heraus, und legte nun doch meine Hand auf ihre Schulter.
„Wirklich, meinen Sie?“
„Ja, meine ich, du kannst was, es klingt so gut und ist so tief, ich glaube, ich verstehe, was du sagen willst!“ Was gibt es da zu verstehen, sie sagt es ja.
Gott, wie schrecklich primitiv ausgedrückt, aber mir gefielen diese Zeilen wirklich.
„Conny, ich würde es so gerne noch einmal hören, ich hab mir nicht alles gemerkt, magst du es noch einmal vorlesen?“

Wenn man bei einem jungen Greisengesicht von Strahlen reden könnte, wäre es das jetzt gewesen.
Gehorsam wie eine Schülerin fing sie noch einmal von vorne an, und ihre Stimme gewann zunehmend an Stärke und Sicherheit.
Sie begann zu intonieren und zu modulieren, versuchte sich in ungehörten Tönen. Wahrscheinlich hatte sie das Gedicht selbst noch nicht laut gehört und wunderte sich über den Klang und den Rhythmus. Sie schaute von unten auf mich herauf und blinzelte mir fragend zu: „Gut so?“, ja gut, blinzelte ich zurück.
Sie las es ebenso sehr zu ihrem wie zu meinem Trost, und die Schönheit der Sprache brachte uns beiden am Vorheiligabend im Krankenhaus Hoffnung und Frieden. Vor dem Fenster hatte es zu schneien begonnen. Die Flocken fielen schräg zwischen die Bäume und Büsche des Anstaltsparks.

Es klopfte kurz an der Tür, und eine Schwester schwebte lautlos wie ein Weihnachtsengel herein.
Essensausgabe.
„Bitte Schwester, bringen Sie mir mein Tablett hierher, wir essen gemeinsam, Conny und ich.“
„Gerne, bin gleich zurück.“
Inzwischen blätterte Conny in ihrem Heft, vor und zurück, die Zungenspitze zwischen den Lippen.
„Wollen Sie noch eins hören? Das da ist, glaub ich, auch nicht schlecht.“ Ich hörte ihr zu.

Fast unbemerkt hatte sie zu essen angefangen, langte zuerst nach einer halben Buttersemmel, dann kamen ein Alma-Eckerlkäs, auf die Schnitte Schwarzbrot eine Scheibe Emmentaler mit zwei Sorten Wurst, ein hartes Ei, einen Paradeiser und ein Gurkerl drauf; die zweite Semmelhälfte mit Honig, dann ein Linzer Auge, das zweite nahm sie von meinem Teller, zu dem allen gesüßter Tee. Das übliche Krankenhausabendessen ab vier Uhr nachmittags. Wenn auch nur aus dem Augenwinkel, es entging mir nicht, dass sie selbstvergessen die runden Marmeladelöcher zwischen den Keksscheiben mit der Zungenspitze auszulecken begann. Sie kehrte zurück.

Am liebsten hätte ich alle Ärzte, Schwestern, Therapeuten, Pfleger, Zimmernachbarn und Portiere zusammengetrommelt, denn das hatten sie in den letzten zwei Jahren noch nicht gesehen.

Die Party am 24. Dezember fand statt, für Connys Geburtstag und Weihnachten. Scharen von Besuchern, Familien und Freunden füllten den Aufenthaltssaal und feierten mit.
Conny las einige ihrer Gedichte vor, mit fester Stimme und einem rosigen Hauch auf den Wangen, vom Publikum begeistert beklatscht. Sie war schön, sie war ein Star.

Conny war ein Mädchen mit großartigem Mut. Als ich das letzte Mal von ihr hörte, hatte sie das Psychologie-Studium beendet und begann eine Ausbildung auf der Psychosomatik.

16.12.16

Veronika Seyr
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