Eine von vielen Geschichten

In mir wohnen viele Geschichten. Manche wollen gestaltlos im Verborgenen bleiben, andere verlassen zu Worten geformt den Mund und hangeln sich von den Lippen zu den Ohren, um eingelassen zu werden, wieder andere drängen zur Hand, um aufgeschrieben zu werden, und warten auf ein Paar Augen, das sie aufnimmt, bewahrt und vielleicht verwandelt. Manchmal hat eine Geschichte die Kraft zu verwandeln.
Auf jeden Fall setzt sich unser Leben aus vielen Geschichten zusammen, aus solchen, die wir selbst erleben, aber hauptsächlich aus tradierten. Es ist wichtig, Geschichten weiterzugeben.

Kurz vor dem dreiundzwanzigsten Geburtstag meiner Mutter, sie schlief im Dachgeschoß ihres Elternhauses, wurde sie durch ein pfeifendes Geräusch geweckt, das den Himmel durchschnitt. Sie schreckte auf und war im Nu hellwach. Dem scharfen Pfeifen folgte ein dumpfer Knall. Sie glaubte, etwas aus Metall sei auf das Ziegeldach unmittelbar über ihr gefallen und rolle nun nach unten. So plötzlich, wie alles gekommen war, so plötzlich hörte auch alles wieder auf. Es war eine angsteinflößende Situation. Eine Situation, die das Fürchten lehrt. Es war stockdunkel und die Januarkälte hatte es sich gemütlich gemacht. Meine Mutter, die damals noch nicht meine Mutter war, schaute zur Seite und sah, dass ihre um drei Jahre jüngere Schwester ebenfalls wach war. Wortlos lauschten sie in die Finsternis hinein, aber nichts folgte mehr.
Am nächsten Morgen schauten sie im Hof nach, suchten mit den Augen auf dem Dach des eingeschoßigen Hauses und fanden nichts, was das Geräusch der Nacht erklärt hätte.
Wenige Tage später erfuhr meine Mutter aus dem runden Lautsprecher des Volksempfängers, dass im fernen Russland eine grausige Schlacht gefochten worden war, und sie erahnte den noch grausigeren Ausgang.
Von Stalingrad kam keine Post, nicht in den nächsten Tagen, auch nicht in den nächsten Wochen und schon gar nicht in den nächsten Monaten. Auch in den folgenden sechzig Jahren und mehr kam kein Lebenszeichen mehr vom Fritz. Ich weiß nicht, wie lange meine Mutter gehofft hat.

Sein Foto hat sie mir oft gezeigt, ein postkartengroßes Schwarzweiß-Bild, das einen schneidigen Soldaten zeigte, mit fescher Uniform und klaren Gesichtszügen, voller Mut und Tatendrang. Sie hatte ihm mit Feldpost einen warmen Pullover geschickt und eine Mütze, die das ganze Gesicht gegen die russische Kälte schützen sollte und nur die Augen aussparte, natürlich selbst gestrickt.
Neben dem Foto hatte sie von ihm noch einen Ring aus arabischem Altsilber, wie sie immer sagte. Eine Hand zierte den Ring, den sie mir schenkte. Ich ließ ihn größer machen, um ihn tragen zu können.
Meiner Mutter war er zeitlebens zu klein. Es war ihr nie ein Anliegen, ihn an den Finger zu stecken. Ich hingegen trug ihn gern, weil mich die Geschichte, die mit ihm verbunden war, die aber eigentlich nichts mit mir zu tun hatte, faszinierte. Eines Tages kam mir der Ring abhanden und es bleibt mir nur noch die Geschichte.

Seitdem ich mich mit dem Hebräischen beschäftige, hat die Hand, die Chamsa, für mich eine besondere Bedeutung bekommen. Stellt sie doch das Verhältnis eins zu vier dar, zwischen Daumen und restlichen Fingern. In der Tora kommt das gleiche Verhältnis zwischen dem Buch BeReschit und den weiteren Vieren zum Ausdruck. Gott steht der Welt und den Menschen gegenüber. Ich denke, dass jener Ring mir schon vor langer Zeit die Botschaft brachte, die für mein Leben wichtig ist. Damals war ich auf unbestimmte Art davon berührt, schloss den Ring in mein Herz. Im Lauf von vielen Jahren erschloss sich mir ein Zusammenhang und nun, nachdem der Ring leider wieder weg ist, beginnt die Geschichte in mir zu leben.

Noch etwas gibt es, was die traurige Liebesgeschichte überdauert. Fritz war Schreiner gewesen und hatte ein Holzbrett in Form eines Schweins ausgeschnitten und meiner Mutter zum Geschenk gemacht.
Jahrzehnte lang wurde es in unserem Haushalt benützt und lag auf der Ablage im Buffet. Irgendwann, als die Vergangenheit keine Rolle mehr spielte, benützte mein Vater das Schwein als Vorlage für weitere Bretter. So findet sich auch in meiner Küche eines, das inzwischen von meinem Sohn Sebastian, der auch Schreiner ist, erneut als Vorlage für weitere verwendet wurde.

Claudia Kellnhofer
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www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt  | Inventarnummer: 15015