Ein letztes Mahl

Was auch immer sich im kleinen steirischen Dorf Gratwein zutrug – Melitta Knehs wusste davon.
Sie war siebenundfünfzig Jahre alt, glücklich und vermögend verwitwet und widmete ihre Zeit ihrer Spitzhündin namens Ella und den Dingen, die im Ort vor sich gingen.
Melitta hatte sich als große Aufdeckerin einen Namen in Gratwein gemacht, zumindest sah sie das so. Die übrigen Einwohner des Dorfes, etwa dreitausend an der Zahl, sahen die Sache anders: Für sie war diese Frau einfach eine Plage, der man aber besser nichts entgegensetzte, aus wirtschaftlichen Gründen.

Ihr vor Jahren verstorbener Mann, Oswald Knehs, war der Besitzer des größten Sägewerkes im Ort. Außerdem hatten ihm ein Gasthaus, ein Lebensmittelgeschäft und das örtliche Bordell gehört.
Er war dem Trunk nicht abgeneigt, und oft kam es zu unschönen Szenen im Hause Knehs, wenn Oswald nach ausgiebigen Touren durch seine beiden Gastronomiebetriebe auf allen Vieren in das eheliche Schlafzimmer zu schleichen versuchte.
Eines Tages ging im Dorf die Meldung vom plötzlichen Tod des vermögenden Mannes um. Es wurde hinter vorgehaltener Hand getuschelt, doch wagte niemand öffentlich darüber zu sprechen, zu groß war die Furcht, als Urheber einer Falschmeldung zu gelten. Darüber hinaus hatte sich Melitta Knehs nicht zu dem Vorfall geäußert. Sie schwieg eisern und machte nicht den Eindruck, über den Verlust des Mannes traurig zu sein, der ihr Treue bis in den Tod versprochen sowie angetrunken ein von ihr abgefasstes Testament unterfertigt hatte.

Einer der drei Gratweiner Polizeibeamten gab in bierseliger Runde am Tresen eines Gasthauses Details zum Besten: Melitta hatte ihren Gatten auf die Jagd begleitet, was ungewöhnlich für sie war, denn sie verabscheute das Töten von Lebewesen. Sie musste ihren Mann mit einem Rehbock oder einem großen Eber verwechselt haben, jedenfalls war der Mann tot.
Die an der Theke stehenden Gratweiner Trinker bedrängten den Polizisten, Details preiszugeben. Nachdem dieser zwei weitere Gläser Schnaps geleert und seine Dienstwaffe sicher auf einem Garderobenhaken verstaut hatte, fuhr er fort.
Beide hatten einläufige Schrotflinten dabeigehabt, doch seltsamerweise war Oswald mit zwei Wunden auf der Brust und einem Tannenzweig im Mund aufgefunden worden.
Plötzlich wurde es still im Gasthaus.
Selbstmord schied aus, also stand die Annahme im Raum, dass es sich um einen tragischen Jagdunfall gehandelt haben musste, so stellte es der Polizist dar.
Als einer der Gäste die Tatsache, dass zweimal aus einer einläufigen Flinte auf Oswald Knehs geschossen worden war, erwähnte, und ein weiterer Gast den Tannenzweig im Mund des Verblichenen anführte und vom Ritual der letzten Äsung sprach, da nahm der Ordnungshüter Haltung an, seine Waffe von der Garderobe ab und begab sich in die Mittagssonne, die jeden konsumierten Schnaps unbarmherzig bestraft.

Die Umstände des Todes von Oswald machten bald die Runde im Dorf, doch Melitta schwieg. Sie ordnete ihre Angelegenheiten, verkaufte erst das Sägewerk und dann das Gasthaus. Der Verkauf des Freudenhauses gestaltete sich einigermaßen schwierig, doch schließlich einigte sie sich mit der Frau, die sich in diesem Betrieb vom ersten Stock an die Bar im Erdgeschoss hochgearbeitet hatte. Dass diese Frau bei der Beerdigung ihres Chefs am lautesten geweint hatte, wurde in Gratwein als erfrischendes Detail in der ansonsten dunklen Causa gerne angenommen und eifrig weiterverbreitet.
Melitta schwieg, bis ihre Unschuld vom Grazer Gericht festgestellt wurde. Der Aufsichtsjäger aus dem Nachbarort Gratkorn war als Gutachter hinzugezogen worden und hatte festgestellt, dass Oswald Knehs seine Waffe ohne weiteres gegen die eigene Brust hätte richten können. Melitta wäre wahrscheinlich zu ihrem Mann geeilt und hätte die Flinte dabei verloren oder weggeworfen, und ein mit den Eckzähnen geschickter Eber hätte durchaus den Abzug betätigen können.
Der Richter starrte den Gutachter erst ungläubig an, dann blickte er liebevoll auf seine Armbanduhr, die rotgolden und neu in der Sonne glänzte, woraufhin er den Wildschweinen in Gratweins Wäldern erhöhte Gefährlichkeit attestierte und Melitta freisprach.

Diese machte sich sogleich daran, sich all der Dinge, die sich in Gratwein zugetragen hatten und um die sie sich aufgrund einer kurzzeitigen Liaison mit dem Gratkorner Aufsichtsjäger nicht hatte kümmern können, anzunehmen.
Da sie jedoch bald bemerkte, dass die Menschen, die sie auf der Straße ansprach, ihr mit einer Mischung aus Furcht und Abscheu begegneten, verlegte sie sich darauf, ihre Kommentare und Vermutungen über das Internet unter die Leute zu bringen.
Das ging naturgemäß schneller als die Belästigung von Menschen, zumal sie bei dieser nicht mit der Tür ins Haus fallen konnte, sondern erst ein Gespräch beginnen musste, dem sie den Anschein von Harmlosigkeit verlieh, um ihr Gegenüber nicht zu verschrecken und in die Flucht zu schlagen.
Ihre gewonnene Zeit investierte sie in Spaziergänge mit ihrer Spitzin Ella und dem Lernen für die Jagdprüfung. Sie hatte nämlich Gefallen an der Jagd gefunden, an den vielen Möglichkeiten, mit mehr als nur leeren Händen aus dem Wald zu kommen. Sie bestand die Prüfung mit Bravour, und auch beim Schießtest zeigte sie eine gute Leistung, obwohl sie zuvor laut eigenen Angaben erst ein einziges Mal  eine Waffe abgefeuert hatte.

Im sozialen Netzwerk, in dem sie ihre Meinungen, Ansichten und Unterstellungen verbreitete, befreundete sie sich virtuell auch mit Menschen, die nicht in Gratwein oder einem der umliegenden Dörfer wohnten. Sie geizte auch nicht mit Informationen über ihren sehr gehobenen Lebensstandard und lud auch etliche Fotos ihrer Villa hoch, die von einem parkähnlichen Grundstück eingesäumt war.
Sie erhielt etliche Nachrichten von Männern ihres Alters, doch beantwortete sie keine einzige, denn sie sah sich nunmehr als Solitär, wie der in Weißgold gefasste Brillant an ihrem Finger.
Dennoch war sie nicht einsam, denn sie hatte eine Haushälterin eingestellt. Sie hatte immer eine Haushaltshilfe haben wollen, doch die Furcht, dass ihr Mann sich dieser hätte körperlich nähern können, hatte sie darauf verzichten lassen.

Eines Tages läutete es am Eingangstor des Grundstückes, und da die Haushälterin gerade einkaufen war, öffnete Melitta das Tor und wies die Person, die draußen stand, an, zur Villa zu kommen.
Sie öffnete deren Türe und erstarrte. Vor ihr stand ein Mann von, wie sie schätzte, dreißig Jahren und bat sie um Geld. Sie wies ihn brüsk ab, doch der Mann, der sich als Clemens vorstellte, ließ sich nicht abwimmeln. Eloquent setzte er die inzwischen im Gesicht rot angelaufene Melitta Knehs davon in Kenntnis, dass er sehr wohl für das Geld arbeiten wollte. Den Rasen wollte er mähen, die Bäume und Sträucher in Form halten und den Gemüsegarten pflegen. Die Wörter, die er verwendete, ließen Melitta annehmen, dass es sich um einen Mann von höherem, wenn nicht gar hohem Bildungsgrad handelte.
Mit einer knappen Handbewegung gab sie Clemens zu verstehen, dass er ihr in ihre Bibliothek folgen sollte.
Sie tranken alten Cognac und unterhielten sich über das Anliegen des Mannes.
Da der Mann keine Bleibe hatte, gab die Hausherrin Anweisung, die am Rande des Grundstückes gelegene Jagdhütte des verblichenen Oswald Knehs so herzurichten, dass sie Clemens als Unterkunft genügen würde.
Da sich in der Hütte auch ein Raum befand, in welchem das erlegte Wild zerlegt wurde, gab es Wasser, einen Schlauch, mit dem er sich duschen konnte, und sogar über einen Abort verfügte sein neues Heim.

Clemens verrichtete die ihm aufgetragenen Arbeiten schnell und gründlich, sodass Melitta sehr zufrieden war und ihm jedes Monat eine kleine Prämie zukommen ließ. Er rauchte nicht, trank wenig und seine Freizeit verbrachte er damit, in schwarze Notizhefte zu schreiben. Jeden Sonntag durfte er in die Villa kommen, um sein Mittagsmahl einzunehmen.
Melitta genoss die Gespräche mit Clemens, der belesen war und über Malerei Bescheid wusste, so sehr, dass sie ihn an jedem Sonntag ein klein wenig mehr ins Herz schloss.
Melitta wollte unbedingt wissen, was Clemens in seine Notizbücher schrieb. Heimlich suchte sie nach diesen, doch hatte er sie so gut versteckt, dass sie neugierig bleiben musste.
Mit der Haushälterin verstand sich Clemens gut, und bald fragte diese Melitta, ob er nicht in eines der Gästezimmer übersiedeln könnte. Diese war außer sich vor Wut und beschied ihrer Angestellten in deutlichen Worten, dass in ihrer Villa niemals jemand einziehen würde, der nicht von ihrem Stand wäre. Die Haushälterin bat um Verzeihung, sie würde niemals wieder darauf zu sprechen kommen.

Dann fand Melitta die Notizbücher und las sie. Mit zitternden Händen legte sie sie in das Versteck zurück. Sie enthielten die Lebensgeschichte eines jungen Mannes, dessen Vater ihn verleugnet, aber dennoch großzügig unterstützt hatte. Seine Mutter hatte ihn alleine großgezogen, und als sie eine Stelle als Haushälterin bei der Witwe von Clemens Vater antrat, vereinten sich ihre Wege aufs Neue. Um seinen Vater rächen zu können, so schrieb Clemens, musste er Oswald Knehs Witwe aus dem Weg räumen.
Melitta eilte in die Bibliothek, wo der Waffenschrank stand, doch dieser war geöffnet und zwei einläufige Schrotflinten waren entnommen worden.
Sie wollte aus der Villa laufen, doch Clemens und seine Mutter versperrten ihr den Weg. Sie zwangen Melitta, mit ihnen in den Wald zu fahren, die Flinten nahmen sie mit.
Bevor sie zu der Stelle gelangten, an der Oswald Knehs sein Leben verloren hatte, brach Clemens einen Tannenzweig vom Baum und schob ihn Melitta in den Mund. Als letzte Äsung.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um |Inventarnummer: 25220