Die kleine Stadt an der Moldau

Eines Tages las ich von der früheren jüdischen Gemeinde in dem kleinen Ort Rosenberg – tschechisch Rožmberk –, der idyllisch an der Moldau liegt, überragt von der Burg. Bald darauf fuhr ich mit dem Auto hin. Ich nahm Elsbeth mit, die auch daran interessiert war, den Ort und den kleinen jüdischen Friedhof kennen­zulernen. Sie ist eine zarte Frau, die den Eindruck erweckt, als wäre sie aus Papier oder einem anderen Leicht­stoff und als könnte sie schon ein sanfter Hauch davonschweben lassen. Wenn es darauf an­kommt, kann sie allerdings ziemlich hartnäckig, fast widerspenstig sein. Dann schmollt sie lange.

Hat man die Eichenalleen an der Moldau erreicht, wird die Fahrt nach Ro­senberg romantisch, wie über­haupt die Fahrt bis Krumau. Smetana klingt im Ohr, und die Wellen der Moldau scheinen sich nach seiner Leitmelodie und deren Rhythmus zu bewegen. Die an­gesichts des kleinen Ortes große Burg Rosenberg übt eine fast autoritäre Dominanz aus. Der Ort selbst scheint ausgestorben und menschenleer bis auf Autos, die nach Krumau weiter­fahren, und Radfahrer, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor allem aus Österreich und Deutsch­land in ihren Taucheranzü­gen ähnelnden Bekleidungen über die Straßen fe­gen. Sonst sieht man dort nur we­nige Menschen, Einheimische scheinen sich kaum blicken zu las­sen, sie bleiben in ihren Häu­sern und kleinen Gärten. Und in der Moldau bewegen sich die Paddelboote, Rafter und Ka­jakfahrer.

Der Friedhof liegt links neben der Straße in Richtung Krumau, etwas nach Ro­senberg, und er fällt, wenn man ohne Kenntnis vorbeifährt, gewiss niemandem auf. Oberhalb des Friedhofs konnte ich parken, und ich wunderte mich, dass dort ein Auto stand, hatte ich doch Elsbeth und mich für die einzigen interessierten Besucher gehalten. Wir konn­ten von oben auf den Friedhof schauen und sahen einen Mann, korpulent und nicht sehr groß, mit einer Kappe oder einer Schirmmütze, keiner Kippa – aber vielleicht diente sie als Kippaersatz –, eine alte Frau und zwei Kinder, auf die der Friedhof of­fensicht­lich keinen Eindruck als Ort des Innehaltens oder der Besinnung machte. Sie lie­fen herum und spielten Fangen. Der Mann mahnte sie mehrmals laut zur Ruhe, seine Sprache ver­stand ich nicht, erkannte aber, dass es weder Deutsch noch Englisch war.

Elsbeth und ich betraten den Friedhof und waren gleich bei der Gruppe, so klein ist das Gelände, vielleicht dreißig mal dreißig Meter, nicht viel mehr. Wir kamen ins Gespräch, der Mann sprach eng­lisch mit uns. Wir stellten uns vor. Er heiße Charlie Kalech, sagte der Mann, und die Frau an seiner Seite sei seine Mutter, die seit einigen Jahren in Kalifornien lebe, ursprünglich aber aus dieser Gegend komme. Charlie setzte fort, er lebe mit seiner Familie in Israel, und die beiden Kin­der, die keine Ruhe gäben, seien seine Söhne. Die beiden sprächen Hebrä­isch, das heutige Alltagshebräisch oder Neu­heb­räisch, das man in Israel spreche, Ivrit heiße es.

Jetzt war mir klar, warum mir die Wörter, die ich bei unserer Annäherung gehört hatte, fremd gewesen waren. In der Schule lernten seine Söhne Englisch, sagte Charlie. Viel­leicht lasse er sie Deutsch lernen, die Sprache ihrer Großmutter, seiner Mutter. Was ihn hier­her führe, fragte ich ihn. Das Grab, vor dem er stehe, sagte Charlie Kalech, trage den Na­men Holzbauer, und so habe seine Mutter mit ihrem Mädchennamen geheißen. Ihre und somit seine Vorfahren seien hier begraben. Mir war der Name Holzbauer, der einen kaum an einen jüdischen Zusammenhang denken ließ und an mehreren Grabsteinen zu lesen war, gleich aufge­fallen, zumal einige mit mir befreundete Leute die­sen Namen tragen, ohne jüdi­scher Her­kunft zu sein, zu­mindest nicht meines Wissens. Seine Mutter, setzte Charlie fort, sei zur Zeit des Ein­marsches der deutschen Wehrmacht in die Tschechoslowakei ein Mädchen von etwa zehn Jah­ren gewesen. Sie stamme aus Oberhaid, dem tschechischen Horní Dvořiště, und habe mit ihrer Familie flüchten müssen, besser gesagt, sie hätten gerade noch flüchten können. Sie landete schließlich in New Jersey, arbeitete als Haushaltshilfe, lernte ihren Mann kennen, den sie bald heiratete.

Die alte Frau, die einen sehr rüstigen Eindruck machte, sprach – falls sie Charlie zu Wort kommen ließ – noch ungebrochen Deutsch mit uns, sie sprach ein paar Brocken des deutschen Dialekts, den vielleicht einige sehr alte Leute Südböhmens noch heute beherrschen und mit dem es wohl die eine oder andere Überschneidung im nördlichen Mühlviertel gibt, kaum mit Ak­zent. Über ein paar ihrer Wendungen, an die sie sich erinnerte, lachten wir, zum Großteil aber spra­chen wir englisch, damit Charlie folgen konnte. Einmal im Jahr, meist im Sommer, komme sie hierher in die Gegend ihrer Herkunft, sagte Charlies Mutter, immer mit ihrem Sohn, sie besuche den Friedhof, wo ihre Vorfahren liegen, und ihren Geburtsort Oberhaid, den sie habe verlassen müssen. Diesmal hätten sie ihre Enkel mitgenommen, deren Inter­esse an der Historie, nicht nur an der genealogischen, mit Si­cherheit noch erwa­chen werde, wenn sie erwachsen und erst recht, wenn sie älter seien. Char­lie hinge­gen habe immer – schon in den Vereinigten Staaten, später in Israel – großes Interesse an der Familiengeschichte und an der Geschichte dieser Gegend gezeigt. Ihr Mann, Charlies Vater, sei vor einigen Jahren gestorben. So habe sie die Grausamkeit der Ge­schichte in die Vereinigten Staaten versetzt und ei­ner Welt entrissen, die sie, wären die Zeiten ruhig verlaufen, wohl kaum verlassen hätte.

Charlie sei in New Jer­sey zur Schule ge­gangen, habe in New York studiert, dann habe er ein zionisti­sches Bewusstsein entwi­ckelt. Nein, das habe er schon früher gehabt, aber nach dem Studium habe er es umge­setzt und sei nach Israel gegangen, wo er in Jerusalem eine Inter­netfirma aufgebaut habe, etwas, wovon sie gar nichts verstehe. Dazu sei sie zu alt. Charlie sei ein gemachter Mann, man könne sagen, er sei reich, sagte die Mutter. Nach dem Tod ihres Mannes sei sie von New Jersey nach Kalifornien gezogen, wegen des milderen Klimas.

Die Kinder hielten mit dem Herumlaufen inne, unser Kommen hatte ihre Neugier geweckt und sie hatten sich zu uns gesellt, vielleicht konnten sie einige Wörter der Unterhaltung in englischer Sprache verstehen. Charlie fragte mich, warum wir den kleinen jüdischen Friedhof besuchten. Elsbeth schwieg, nicht so sehr wegen ihrer Schüchternheit, sondern weil sie kaum englisch sprechen konnte und gesprochenes Englisch nicht verstand.

Ich setzte Charlie die Gründe unseres Interesses auseinander, etwa meines an der Geschichte der Familie und der Firma Spitz, die – in Linz gegründet – zu einem weltweit bekannten Unternehmen für Getränke und Lebensmittel geworden war. Und die Geschehnisse im Nationalsozialismus bedürften immer noch einer Aufarbeitung, da es kaum eine Region gebe, die nicht kontaminiert sei. Dieses Interesse, das ich mit Elsbeth teile, habe mich einer verschwundenen, einer ausgelöschten Welt nahegebracht. Dabei stoße man, wenn man sich im regionalen Bereich bewege, unweiger­lich auf Rosenberg, auf den kleinen Friedhof und Reste ei­nes älteren im Ort, den ich noch nicht kenne.

Charlie fragte mich, ob ich ihm Informationen zum Judentum in Südböhmen und Linz zukommen lassen könne. Er gab mir eine Visitenkarte mit seiner E-Mail-Adresse. Die Visitenkarte bestätigte, dass Charlie ein Unternehmen für Internet-Services in Israel hatte, in Jeru­salem genauer gesagt. Später recherchierte ich im Inter­net und fand den Auftritt von Charlies Firma.

Charlies Söhne hatten ihre Neugier an den fremden Personen längst gestillt, Charlie oder seine Mutter mussten sie wieder regelmäßig ermahnen, sich der Würde des Ortes gemäß zu betragen. Das hatte kurze Zeit Erfolg, dann liefen sie wieder lär­mend umher. Schließlich verabschiedeten wir uns, und ich versicherte Charlie, ihm Informationen zu schicken.

Ich fuhr mit Elsbeth nach Rosenberg zurück. Wir spazierten in dem kleinen Ort, der von der Burg und der Straße nach Krumau dominiert wird und verlassen und trist wirkte. Nur selten ließ sich ein Auto sehen, auch die Radfahrer hielten sich zurück. Parallel zur Straße nach Krumau, aber höher gelegen, verlief eine Gasse, der entlang früher ein kleiner jüdi­scher Bereich lag, und in einem Garten erkannte man einige Relikte jüdischer Gräber. Als wir auf den zentralen Platz zurückkehrten, sahen wir in einiger Entfernung Charlie Kalech, wie er sich, sprachlich unterstützt von seiner Mutter, mit jemandem an der Haustür unterhielt. Die Mutter konnte neben Deutsch wahrscheinlich noch ein paar Brocken Tschechisch, wahrscheinlich genug, um die Kommunikation ihres Sohnes mit den Einheimischen zu unterstützen.

Einige Tage nach meiner Rückkehr schickte ich Charlie via E-Mail mehrere Hinweise und Dokumente und wies ihn auf einen Historiker der Universität Linz hin, Michael John, der sich unter anderem mit jüdischer Geschichte befasste, etwa mit Enteignungen, Arisierungen und Restitutionsfragen. Charlie antwortete mir, einige Ge­schäftsleute, die er kenne und die ihre Wurzeln in Rosenberg und der weiteren Umge­bung hätten, wollten der Geschichte des Dorfes intensiver nachgehen, im Besonderen der jüdischen. Eine Veröffentlichung sei geplant. Erfahren habe ich darüber nichts, aber vielleicht kommt noch etwas, falls Charlie Zeit dafür findet und nicht vergisst. Wenn ich zu lange warten muss, erinnere ich ihn.

Günther Androsch

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