Apokalypse reloaded I

Als es am Gartentor klingelt, hält sich Mama gerade im Schlafzimmer auf, das zwei Fenster zur Straße hat. Sie sieht dort einen Mann und eine Frau stehen, die ein Bündel Zeitschriften vor der Brust tragen. Das oberste Exemplar ist in durchsichtiges Plastik eingepackt und hängt an einer Schnur um den Hals, „Der Wachturm“. So stehen sie auch jeden Samstag auf dem Hauptplatz unter der Marienstatue. Ah, das sind wieder einmal die Zeugen Jehovas, denkt sie, die schick ich zum Papa, der diskutiert ja so gerne. Sie verachtet die Sektierer aus tiefster Seele und ist in ihren Ansichten, wie alle Konvertiten, päpstlicher als der Papst. Bettler und Hausierer bekommen immer etwas, aber Missionare schickt sie gnadenlos weg, wenn der Vater nicht zu Hause ist. Sie öffnet das Gartentor, lässt die beiden in den Vorgarten eintreten und leitet sie weiter an ihren Ehemann. Der sitzt gerade einmal nicht an seinem Schreibtisch, sondern ist mit einem Kanalarbeiter damit beschäftigt, die übergeflossene Senkgrube zu entleeren. Die beiden Missionare stapfen durch die Einfahrt in den Hof, stellen sich höflich mit Namen vor und beginnen das Gespräch mit dem Stehsatz:
„Wir möchten gern mit Ihnen über Gott sprechen.“

Mein Vater, in Gummistiefeln und ledernem Arbeitsschurz, wendet sich ihnen zu, unterbricht aber seine Arbeit nicht. Er schaufelt mit einer langstieligen Kelle die Verdauungsreste einer zehnköpfigen Familie in Eimer und Bottiche, die der Arbeiter zu einem hölzernen Kastenwagen in der Einfahrt trägt. Es ereignete sich also zu einer Zeit, die noch weit entfernt war von geruch- und geräuschlosen Pumpen und Absauggeräten.
„Ja, bitte, Sie können mit mir reden.“

Die Zeugen sind freundliche, gesittete und geduldige Leute, denen es nicht in den Sinn kommt, das einmal gefundene Opfer zu bitten, die Arbeit einzustellen und sie vielleicht in ein Zimmer einzuladen. So stehen sie mit ihrem Propaganda-Organ „Der Wachturm“ am Rand der offenen Senkgrube, ein tiefer Schacht an der Mauer zum Klo. Wie dem Schlund der Hölle entsteigt ihm ein unbeschreiblicher Gestank und verbreitet über den ganzen Hof eine undurchdringliche Wolke. Der Situation entsprechend hätte man sagen können: bestialisch, teuflisch, höllisch. Dabei handelt es sich nur um allzu menschliche Dinge. Es ist ein heißer Sommertag, und die Schwaden der Hölle hängen brütend über der kleinen Gruppe.

Die Apostel der letzten Tage sind nicht nur bibelfeste, sondern auch tief überzeugte und standhafte Gläubige. Außerdem werden sie nicht alle Tage in ein großes Haus gebeten, sondern meistens von der Schwelle weggescheucht. Sie schicken einander ermutigende Blicke zu, richten ihre Rüstung vor der Brust zurecht und spulen die Standardsätze ab. Sie kündigen den Ungläubigen an, im ewigen Höllenfeuer zu schmoren. Wer Gott nicht gehorcht, wird alle Schmerzen dieser Welt erleiden. Alle Feinde Gottes werden am Jüngsten Tag vernichtet, wie der Prophet Jeremias, Jesaja 43, Vers 10 und 11, sagte:
„Ihr seid meine Zeugen (…) Ich – ich bin Jehova, und außer mir gibt es keinen Retter.“
Sie rattern ganze Bibelabsätze samt Strophen- und Versezahlen fehlerlos herunter wie eine aufgezogene Uhr, aus der immer wie ein Kuckuck der Name Jahwe hervorspringt. Sie werden fast zu Poeten, wenn sie in bunten, saftigen Bildern die Höllenqualen schildern. Eine wahrhaft hoffnungsfrohe Religion.

Mein Vater, ein nicht minder sattelfester Bibelkenner, erklärt ihnen geduldig, dass sie da etwas missverstanden haben müssen. Man könne nicht eine ganze Religion auf einen einzigen Prophetensatz gründen. Man müsse das Gesamtpaket der Bibel hernehmen, das ganze Alte Testament, da gäbe es viele Propheten mit vielen verschiedenen Aussagen. Vor allem aber sei für ihn als katholischer Christ das Neue Testament ausschlaggebend, Christus und seine Botschaft der Liebe. Das Christentum sei eine Religion der Liebe. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Überhaupt müsse man seit dem II. Vatikanischen Konzil die neuen Interpretationen des Bibelwortes berücksichtigen und das neue Christus-Bild als Vorbild für sein eigenes christliches Leben nehmen. Nachfolge Christi nennt man das. Wir glauben an einen Gott der Liebe und nicht der Rache.
Außerdem müsse man die Bibel in einem historischen Kontext sehen und dürfe nicht alles wortwörtlich nehmen, so wie etwa die Erschaffung der Welt in sieben Tagen. Das sind Sinnbilder. Auch habe sich die Wissenschaft seit Bibelzeiten weiterentwickelt. Darwin, zum Beispiel … Bei der Erwähnung dieses Namens fallen sie vor schwer unterdrückter Empörung fast in die Grube. Darwin, ein Name wie der leibhaftige Gottseibeiuns! Menschen, die von Affen abstammen …
Vor allem verurteilt der Vater die Scheidung in Gläubige und Ungläubige, denen von den Zeugen Jehovas die schlimmsten Strafen angedroht würden.

Mit der Spaltung in wahre Zeugen, die Auserwählten, und in die sündigen Schafe, die am Jüngsten Tag zur Schlachtbank geführt würden, sei er keinesfalls einverstanden. Das sei absolut unchristlich und widerspreche der Bergpredigt. Er ist nicht faul, den Aposteln der Letzten Tage die ganze Bergpredigt auswendig herzudeklamieren, während die Höllendämpfe sie umwabern. Er hält inne und stützt sich auf den Stiel seiner Schaufel. „Selig ist, wer …  Selig ist, wer … Das ist der Sinn der Bibel, mein Credo.“
Diskussion ist das natürlich keine, eher eine Begegnung wie von zwei Mauern, die gegeneinander anrennen.
Mein Vater und der Arbeiter sind mit einer solchen Arbeit vertraut, geht doch die Senkgrube regelmäßig einmal im Jahr über. Die Zeugen Jehovas jedoch, bibeltechnisch und rhetorisch exzellent geschult, sind mit dieser Situation überfordert und schnappen nach Luft. Da nützt ihnen auch die ganze antrainierte Bibelrhetorik nichts mehr. Sie kämpfen sichtlich mit unbezwingbarem Brechreiz, nicht mehr um seelisches, sondern statisches Gleichgewicht am Rande der Grube bemüht, unternehmen sie nicht einmal einen Versuch, den „Wachturm“ zu verscherbeln, wie  jedes Gespräch über Gott enden muss.

Ich bin mir sicher, dass nicht die schlüssige Argumentation meines Vaters sie in die Flucht geschlagen hat. Die Bündel mit den Zeitschriften vors Gesicht gepresst, nahmen sie freiwillig Reißaus und beendeten den Missionierungsversuch an einem seltenen Redewilligen. Unter anderen Umständen hätten sie ihn erst nach langer Quälerei aus ihren Krallen gelassen. Unser Haus bekam ein unsichtbares jehovisches Kruckenkreuz an die Wand gemalt wie von Hausierern und Bettlern: Hier ist nichts zu holen. Sie kamen nie wieder. Mama gab den Bettlern und Hausierern weiter eine Kleinigkeit, kaufte den Sieberl- und Ranftlmachern etwas ab und ließ die vazierenden Messerschleifer unsere Messer und Scheren schärfen.
Jauche schlägt Jahwe.

Warum ich das alles weiß? Ich stand im WC auf dem Klodeckel und lauschte beim Guckfenster hinaus. Warum ich das alles erinnere? Ich hab’s geträumt.

Pfingstsonntag, 31.5.20

Veronika Seyr
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