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Einsam

Welch eine Gnade Gottes ist doch das Alleinsein! Niemandem Rechenschaft abgeben müssen, was man den ganzen Tag über getan oder nicht getan hat! Keine dummen Fragen beantworten müssen, keine Fragen stellen müssen. Du bist einsam! Einen Dreck, entgegne ich. Das ist was anderes, füge ich hinzu. Ich bin nicht die Miss Sophie. Du verwechselt was, sage ich verärgert. Und ich kann mir meinen Himbeersaft noch alleine eingießen, brauche keinen Butler James dazu. Ich sitze nicht an einer langen Tafel und mir gegenüber ist kein Gedeck für Gespenster aufgedeckt, mit denen zu speisen ich mir heimlich vorstelle. Ich brauch tatsächlich niemanden. Außer meiner geliebten Frau. Das muss ich zugeben. Dann bist du nicht allein. Doch, wenn ich eben allein bin. Das soll ja hin und wieder vorkommen. Ich genieße es, allein zu sein. Ohne Sir Toby, ohne Admiral von Schneider, ohne Mister Pommeroy und ohne Mister Winterbottom. Aber warte, bis du alles überlebt hast und du wirklich alleine hier sitzt, sagst du. Na und?, inszenier ich mir meine Abendessen eben selbst!, antworte ich kühn. Und Weihnachten? Silvester? Was ist an deinem Geburtstag? Das macht mich nachdenklich.

The same procedure as every year, füge ich an. Eben, allein, pah! Aber ganz wohl ist mir nicht in meiner Haut. Nun, noch ist es ja nicht so weit, denke ich. Bis dahin werde ich mir schon alles zurechtlegen. Zurechtlegen, ja. Ich sage das sicherheitshalber zweimal vor mich hin, um der ganzen Angelegenheit mehr Gewicht zu verleihen. Ich weiß nicht, ob Einsamkeit eine Strafe ist. Manche behaupten das allerdings. Einsamen fehlt ganz einfach das Gefühl, von anderen beachtet zu werden. Mir ist das egal. Lügner. Halt’s Maul! Ich suche und finde meine persönliche Anerkennung und Gebrauchtwerden in mir selbst. Ja, das sieht man. Wie viele Bücher sind von dir im Umlauf? Und wehe, wenn du nicht gelobt wirst. Da möchte ich dich sehen! Ich konversiere derzeit nicht mit dir, sage ich überheblich.

Einsamkeit, die kommt nicht einfach so auf einen Schlag. Die sickert so langsam und stetig in dein Leben, und du bemerkst es gar nicht. Irgendwo bei einer Veranstaltung, einer Ausstellung meinetwegen oder vor dem Fernseher, ehe du ihn abdrehst, bevor du allein zu Bette gehst, weil niemand hier ist. Oder denk mal nach, wenn dir der Tod einen deiner Liebsten nimmt, so mir nichts dir nichts, ohne dich zu fragen. Was ist dann? Ich räuspere mich. In meinem Gehirn arbeitet es fieberhaft. Plötzlich ist das Kinderzimmer leer. Hör auf! Doch, gewöhn dich dran. Ich denke nach. Ja, aber – ja, es ist leer. Aber doch nur für ein paar Wochen, weil das Jüngelchen zum Studieren ist. Der kommt ja wieder. Ich wünsch es dir. Sag nichts, was du später bereuen wirst, entgegne ich stur. Und das andere Bubi? Das ist verheiratet. Das ist etwas anderes. Den kann ich jederzeit sehen, wenn ich will. So möge es sein. Is’ aber so, sage ich trotzig.

Prominente sollen zuweilen auch einsam sein, wer weiß? Wenn der Star am Himmel zu verblassen beginnt, könnt ja sein, nicht? Was macht man dann ohne den ganzen Rummel? Fernsehen? Auch fad. Wenn man einsam ist, soll einem das ein Warnsignal sein, sagen die einen. Ich selbst habe immer weniger oft den Wunsch, dazuzugehören. Angeber! Darauf antworte ich nicht. Bitte, eben nicht! Kann sein, dass sich mein Leben irgendwie verändert hat. Kann aber auch nicht sein. Vielleicht hat sich da draußen was geändert, dass ich es nicht mehr so sehr begehre? Oder ich leide an Mangel an Vertrauenspersonen, an Typen, an die ich mein Herz hänge und von denen ich erhoffe, erhofft habe, dass sie es umgekehrt genauso tun würden.

Freunde! Was sind eigentlich Freunde? Ich habe sie im Dutzend während meines langen Lebens verbraucht. Sie sind mir abhandengekommen. Keine Ahnung in den meisten Fällen, wie es dazu kommen konnte. Auf einmal waren sie weg. Hab ich mich zu wenig um sie gekümmert? Sie zu wenig bewundert? Ihren Kommentaren zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Dem einen, der stundenlang über dies und das so völlig belanglos dozieren konnte, wenn genügend Publikum vorhanden war? Auf den könnte es zutreffen. Irgendwann habe ich es aufgegeben, durch ein paar kümmerliche gut und klug gemeinte Zwischenrufe die Zuhörer auf mich aufmerksam zu machen. Vergebens. Es war todsicher sein Publikum.
Man kann nie genug neue Freunde haben, sagen manche, vor allem deshalb, weil einen die alten auf die Dauer nicht mehr genügend bewundern würden. Auf den trifft diese Feststellung sicher zu. Wie ich es auch dreh und wende, im Laufe der Jahre sind sie mir alle irgendwie auf den Sack gegangen, mit ihren Ängsten, Nöten, mit ihrem ewigen Geprahle von irgendwelchen Neuanschaffungen und dem andauernd mies schaugespielten Postitiv-Sein, wenn ich verdammt nochmal negativ sein wollte, eben weil es eine beschissene Welt ist und eben deswegen, weil es keinen Sinn macht, sie schönreden zu wollen. Sie, diese Welt, ist eben wie sie ist, ohne Tatütata daran herumlobzuhudeln, das hab ich schon gefressen. Du alter Pessimist! Ruhe auf den billigen Plätzen. Mach die Zeitung auf, dann kapierst du, was ich meine.

Freunde! Pah! Das sind Menschen, sage ich, die dich nur dann einladen, wenn du von Nutzen bist für sie. Nicht unbedingt gleich materiell, aber potenziell, wenn sie einen Witzeerzähler brauchen, eine Lachnummer, einen billigen Star, der nix kostet, aber der seinen Beitrag für die Allgemeinheit leistet. Freunde, das sind solche, die dich nie von selbst anrufen würden, die dir aber vorwerfen, dass du sie nicht anrufst, wenn du sie eben anrufst. Freunde, das sind solche, die alles, was du machst, als selbstverständlich hinnehmen, denn selber würden sie ja noch viel tollere Sachen anstellen, das kannst du dir gleich hinter die Ohren schreiben.

Freunde sind welche, die dich klassifizieren, beurteilen, die dich genau kennen, die sofort wissen, wo deine Stärken liegen, vor allem aber deine Schwächen, die kennen sie genau. Solche sind das, die dir ins Gesicht sagen, was du besser kannst, denn die wissen das genauer als du selbst. Freunde sind solche, die schon bei Kleinigkeiten umfallen, wenn’s mal ein wenig schärfer hergeht. Selbst vertragen sie keine Kritik, aber kritisieren ständig an dir herum. Du musst eine Therapie machen, du musst dies und jenes tun, damit du … Das kennen wir ja zur Genüge. Aber selbst setzen sie keinen Schritt zur eigenen Veränderung ihrer Göttlichkeit. Eben deshalb.

Alleinsein, ach, das hat was! Befreiend! Läuternd! Wohltuend! Hoffentlich kommt heute niemand, ist ein alter Stehsatz von mir. Auf den bist du auch noch stolz, was? Geht dich nichts an! Kommt noch jemand? Nein? Dann kann ich ja ungestört in Unterhosen rumlaufen, super! So hab ich das gemeint. Der Gürtel spannt ja ohnehin bloß um die Leibesmitte. Und auf niemanden Rücksicht nehmen müssen! Ist das nicht überirdisch? Du bist emotional verflacht, sagen die! Dass ich nicht lache! Ein emotionaler Flachwurzler, der leicht umfällt. Unsinn! Pessimisten sind schon einmal anfällig für Einsamkeit.
Ich würde mich zu wenig mitteilen, sagen die. Zum Totlachen! Besonders, wenn es um tiefere Gefühle geht. So ein Schwachsinn! Wenn einer solche Persönlichkeitsstrukturen wie du aufweist, hat er Probleme mit Kontakten. So ein Schmarrn! Früher, da war ich ein ausgekochter Partytiger, das kannst du mir glauben. Da hat es kein Weibsstück gegeben, das vor mir sicher war. Sicher, ja, früher! Wir reden aber vom Jetzt. Jetzt! Jetzt! Darf ich nicht in Würde alt werden? Irgendwann ist der Zenit eben erreicht. Und dann geht’s bergab. Jetzt geht’s eben bergab. Und darum will ich auch meine wohlverdiente Ruhe haben.

Du machst es dir leicht. Hast du eine Ahnung! Viele Einsame sind auf der Suche und finden gleichsam Einsame. Danke, das fehlte mir noch. Einsam bin ich selber genug. Muss ich nicht noch auch im Doppelpack zelebrieren. Es gäbe Warnsignale, sagt man. Wer nicht darauf reagiert, fällt der chronischen Einsamkeit in die Hände. Ich bitte um eine solche! Angeber! Warte nur, bis du von einem anderen physisch abhängig bist, damit du dein Futter kriegst oder aufs Töpfchen gehen kannst. Stille.

Jetzt sachste nix mehr, gelle? Brummig. Muss ja nicht so weit kommen. Hähähä, es wird aber so weit kommen, verlass dich drauf. Da gibt’s Statistiken. Sterb ich eher vorher aus Trotz! So siehst du aus, genauso. Positiv denken ist angesagt. Positiv denken! Bei den Nachrichten? Schalte sie einfach nicht ein. Das geht nicht. Der Mensch muss wissen, was da draußen passiert. Das darf man nicht verdrängen. Dann ist dir nicht zu helfen. Die Scheiße da draußen dringt in dein Bewusstsein und macht mit dir, was sie will. Schon möglich. Dann ist es nur die Bestätigung dafür, dass es eben doch eine Scheißwelt ist. Dir ist nicht zu helfen! Eben, drum lass mich in Ruh! Gehörst du auch zu denen, die glauben, dass sie nichts ändern können? Sicher! Versuch’s mal als freiwilliger Helfer in einem Tierheim. Meine Einsamkeit ist ein ernsthaftes Thema, du solltest darüber keine Witze machen, ja? Du meinst als Vorstufe zum Altenheim? Ich brauch keine neuen Kontakte. Ich bin froh, dass ich die alten los bin.

Ein Unheilbarer! Du fürchtest die Zurückweisungen, richtig? Welche Zurückweisungen bitte? Na, bei neuen Kontakten. Ich sage dir doch, dass ich keine neuen Kontakte suche. Genau wie Miss Sophie! Ihr seid euch ähnlich, echt. Das ist eine Beleidigung. Ich bin keine neunzigjährige alte Jungfer. Das nicht, nein. Aber du solltest deine Perspektive ändern. Inwiefern? Nun, Miss Sophie hat immerhin ihren Butler James, mit dem könnte sie doch besser feiern als mit den vier nicht vorhandenen Freunden am Tisch? Ich habe aber keinen Butler James, mit wem sollte ich denn also saufen? Tja, das ist natürlich ein Problem, das seh ich ein. Trotz allem, Einsamkeit macht sonderbar. Und Sonderbare werden irgendwann entmündigt. Sind wir doch schon längst. Wie? Na, entmündigt. Wir sind ohnehin schon fast entmündigt. Schau dich um, Autos, die alleine fahren, Kühlschränke und Herdplatten machen sich bemerkbar, wenn wir ihnen zu wenig Aufmerksamkeit schenken oder unnötig ihre (oder meine?) Energie verschwenden.

Die ganze Technik will uns insgeheim, was heißt insgeheim, die will uns bevormunden, besachwaltern will die uns, als ob wir bereits alle Idioten wären! Das sind – irgendwie Methoden, die uns umerziehen wollen. Erst waren wir froh, dass wir das Autofahren erlernt haben, und selbständig entscheiden konnten, was wir damit anfangen. Jetzt sprechen die Dinger bereits mit uns, sagen uns, warum wir wo ranfahren sollen, zum Ausrasten meinetwegen. Ständig beobachtet uns irgend so ein Mikrochip, ob wir auch das Richtige für ihn tun würden. Das ist doch krank? Kann ich die Karre nicht mehr allein lenken, ohne dass sich ein ferngesteuertes Männchen einmischt? Wen geht’s was an, wenn ich müde bin, verflucht? Andauernd will uns das Handy weismachen, was wir dringend benötigen. Der Zenit ist erreicht. Das Imperium schlägt zurück! Die Geister, die wir riefen, werden wir nicht mehr los! Irgendjemand ist da immer, der alles besser weiß, was für uns richtig ist.

Ist das nicht brandgefährlich? Die machen uns an, die Dinger. Die pushen uns irgendwohin, keiner weiß wohin. Ist das die neue Moral? Ändern die unsere Gewohnheiten? Machen sie die zu den ihren? Versuch mal, dich nicht anzuschnallen, wie lange hältst du das nervige Gepiepse durch? Für deine Sicherheit – für deine Sicherheit! Ja, zum Henker, mach ich ja, aber auf meine Weise. Muss ja nicht gleich die Revolution ausbrechen, wenn ich ‘ne Minute mal nicht am „Schlauf“ baumle, nicht? Wir sollen alle brave Mitmenschen werden, die gesund essen, ordentlich Pipi gehen und alle Risiken vermeiden, die kostspielig werden, wenn’s nicht geklappt hat. Is’ auch fad, oder? Na gut, alle halten sich ja nicht an diese Ordnung.

Es gibt ja genug Junkies, Säufer, Sportler, Bergsteiger zum Beispiel oder andere Typen, Polizisten etwa, die tagtäglich ihr Leben riskieren, der eine auf diese Weise der andere eben auf ‘ne andere. Werd nicht politisch! Meinst du, da ist ein Plan dahinter? Naja, könnt ja sein. Ich sehe den entmündigten Konsumenten auf seinem ferngesteuerten Weg ins Leben. Die andere Seite bedeutet, irgendjemand sieht uns als Vollhirnis, die man ganz einfach leiten und lenken muss, weil wir unsere täglichen Risiken gar nicht oder nur unzureichend erkennen. Also, wenn ich denke, dass mich irgendein Gerät bevormundet, dann find ich das schon bedenklich, oder? Schließlich erzwingen die hernach irgendwelche Taten von uns, oder? Mittlerweile implantieren sie uns die Richtung, die wir nehmen sollen.
So weit sind wir schon! Manche finden das modern. Echt? Ich pfeif drauf, ehrlich! Dem Typen vor mir darf ich nicht mal in die Nähe kommen, wenn der mich nervt und nicht weitertut. Da kriegst du rasch ein Problem mit den Warninstanzen in deiner „Mühle“. Nicht einmal ein wenig Angst darf man dem Vordermann (der Vorderfrau) mehr machen. So weit kommt’s noch! So weit ist es schon! Vielmehr, ja. Springt nicht an, die Mistkarre, wenn sie spitzkriegt, dass du ein Bier intus hast. Bieg rechts ab, o Gott, du bist zu schnell, steig auf die Bremse, die Tür ist nicht zu, zu wenig Abstand, leg eine Pause ein, falscher Gang. Kann nicht sein, ist ja ein Automatic. Was soll denn das?

Und? Immer noch einsam? Dein Kühlschrank steht offen, pfeifpfeif! Ja ja, ich weiß, das Hühnchen wird hin! Der Stromverbrauch, vergiss das bloß nicht! Ist ja meine Stromrechnung. Wie bringe ich das Gerät zum Schweigen, lässt in mir Mordlust hochsteigen. Ich kann ohne das piepsende Mistding nicht mehr selbständig einparken, sagt mein Nachbar. Die Kerle bauen einfach alles ein, was ihnen gerade in den Kram passt. Innovativ ist das, sagen sie. Damit stehlen sie sich aus der sozialen Verantwortung, uns uns selbst zu überlassen. Die versuchen, unsere Gehirne auszuschalten, sag ich dir! Das sind Eingriffe in unsere geistige Intimsphäre. Das alles deckt das sogenannte Bedürfnis nach Freiheit. Freiheit? Stell ich mir anders vor. Wollen die mir letztendlich auch noch das Lenkrad aus der Hand nehmen? Das letzte bisschen Entscheidungsfreiheit wollen die mir nehmen, wie? Und gaukeln mir vor, wir bequem, wie verantwortungsvoll das alles sein soll.
Sie übernehmen gerne die Verantwortung für mein Fortkommen, wirklich! Dass ich nicht lache! Irgendwann werden sie uns das Selbstfahren komplett verbieten. Das war’s dann. Bubenträume (Mädchenträume nicht?) müssen umgeträumt werden. Ferrari ade, Jeep offroad aus, Ende. Matchboxmodell am Küchentisch und selbst Brumm-brummgeräusche dazu machen. Geh, mach mir keine Angst. Meinen SUV hab ich erst seit fünf Jahren. Lenkrad abgeben ist wie Löffel abgeben. Pessimist! Viel Vergnügen dabei! Sieh das wenigstens als Vorteil der Umwelt gegenüber, sich von uns verantwortungslosen Umweltsündern erholen zu können. Was jetzt? Ist doch schön. Alles so belebt. Immer noch einsam? Ach, lass mich in Ruhe!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17132

 




plugged

Die funkferngesteuerte Hybrid-Spray-Fogger-Nebelmaschine qualmt wie wahnsinnig vor sich hin. Was es nicht heutzutage alles gibt! Man sieht die eigene Hand nicht vor den Augen. Nur so zur Probe. Es riecht stark nach Öl. Die Bühne, die zwölf mal vier Meter misst und aus düsteren, schwarz lackierten Spanplatten zusammengebaut ist, wird mit allerlei Gerät bestückt. Die Beleuchtung ist auf Schlafmodus gestellt, man sieht schon wegen des Nebels kaum, und doch gerade noch das Notwendigste. In der hinteren linken Ecke steht ein Keyboard, ein altes Yamaha aus den Siebzigern, das schon einmal bessere Zeiten gesehen hat. In der Mitte der Bühne, nach hinten gerückt, ein noch älteres „Ludwig“-Schlagzeug. Auch in Schwarz, aus den sechziger Jahren, links und rechts von Messingbecken, deren Glanz schon längst irgendwo verloren gegangen war, auf wackeligen Ständern flankiert.

Die nicht mehr sooo ganz jungen Musiker in ihrer nostalgischen Sixty-Bühnenkleidung, mit Glockenhosen und T-Shirts, in sinnigen Sprüchen allerlei auf Brust und Rücken dokumentiert, mit Peace-Zeichen und allem was dazugehört, eine Amateurband also, versuchen mühsam, ihr Equipment einigermaßen professionell aufzubauen. An die rückwärtige Bühnenwand ist ein mächtiges Che-Guevara-Porträt etwas schief angenagelt. Schön, dass er hergefunden hat.
Den Hobbykünstlern zur Seite gestellt, ist ein trauriges Häuflein tätowierter Junkies und Ex-Motorrad-Freaks, von denen keiner unter fünfzig ist und die von der Stadtgemeinde für diese Arbeiten engagiert worden sind, Beschäftigungstherapie, damit sie nicht n u r auf dumme Gedanken kommen. Die sind die Profis, wie sie unschwer zu vermitteln wissen. Allesamt schwere Jungs mit ausgeprägter Häfen- (sprich Gefängnis)-Erfahrung, wird gemunkelt. Jeder für sich ein Unikat.

Damals noch – ja, damals waren sie Mitglieder so manch einer wilden Gang. Hatten nur Unsinn im Kopf, wie man einen langen Tag erfolglos hinter sich bringt. Zugedröhnt bis zum Geht-nicht-mehr. Man war ganz vorn. Vor der Bühne. Bei allen Events. Von den Stones bis zu den Who. Bühnenarbeiter – ganz nah bei ihren Idolen. Sie sind mit ihnen in Würde gealtert. Aber die hier, die Band, die zählt noch zu den Lebenden, beinahe zumindest. Bloß kennt sie keiner. Das ist eben Schicksal. Einer von denen hatte vor zig Jahren tatsächlich selbst einen Hit gelandet, einen einzigen. Das ließ ihn gewissermaßen irgendwie zum Profi werden. Und genau das haben die Bühnenhackler (Hackler = Arbeiter, Wienerisch) irgendwie mitbekommen. Aber es fehlt ihnen anscheinend am nötigen Respekt, denn sie gehen sehr rüde mit dem Alt-Star um. Als der Hitlander sein Bierglas auf einer der Lautsprecherboxen vergisst, kippt das Glas samt Inhalt auf einen der Hackler, als der die Box soeben mit dem Handstapler wegheben will. Du bist a Profi!, meint der Hackler emotionslos ironisch, von oben bis unten nass, den Kopf schief haltend und ihn von oben bis unten musternd, um sich anschließend, ein angewidertes Ausspucken andeutend, kopfschüttelnd vom Hitlander abzuwenden. Womit das Kapitel des Profis neu geschrieben werden muss.

Draußen vor den Toren warten, chromblitzend in der Sonne funkelnd, die Bikes der Bühnencrew, wie zurückgelassene Hunde, angekettet, geduldig auf ihre Besitzer. Unschwer zu erkennen, wer zu welchem „Ofen“ gehört. Der Dickste von denen zur fettesten Harley. Rot-métallisé, mit Windschirm und Seitenboxen. Fat Boy. Der Fahrer ist auch so einer. Sie sehen sich ähnlich.
Der Schmalspurrocker mit dem ausgemergelten Gesicht passt eher zur mageren Variante, zu der mit dem hohen Lenker, Variante Easy Rider. Man ist tätowiert.
Noch muskulöse Arme schimmern grünlich im diffusen Rampenlicht, ragen aus verwaschenen ärmellosen Jeansjacken, deren Rückenteile das Emblem ihres Motoradclubs zeigen. Von den Hosentaschen baumeln verchromte Ketten an deren Enden Geldbörsen vermutet werden. Es könnte auch das eine oder andere Messer darunter sein. Der Bühnenraum ist eigentlich ein finsteres Loch, gelinde gesagt. Es riecht stark nach Zigarettenrauch und Bier. Und die Typen dazu? Mit denen wäre nicht gut Kirschen essen, sagt man. Gegen die Ledernen nehmen sich die Bandmitglieder wie Priesterseminaristen aus.

Wo ist denn das Licht?, fragt einer der Musiker. Was für ein Licht?, antwortet einer der Rocker geistesabwesend. Er steht auf einer Leiter und schraubt eben eine Glühbirne in die leere Fassung. Sein Gesicht ist tief zerfurcht, sein Körper ausgezehrt. Die Haut scheint vertrocknet wie bei einem Klippfisch. Die Haare hängen lang und fett in Strähnen bis an die Schultern und berühren die Lederjacke. Ein Zigarettenstummel glimmt emsig wie ein Glühwürmchen in seinem Mundwinkel. Sein Oberarm zeigt die Tätowierung eines Totenkopfes, dem sein Träger irgendwie ziemlich ähnlich sieht. Die Hose des Klippfisches schlottert um die dünnen Beine. Der Musikus bemerkt dessen grimmige Miene und belässt es bei der Frage. Niemand wagt, weitere Fragen zu stellen.

Irgendwann wird es hell, die Scheinwerfer sind an, blenden, werden gedreht und neu justiert. Mikrofonprobe. Sing du für mich, sagt einer der Musiker zum anderen. Alle lachen. Aber es ist doch dein Mikro! Wurscht. Sind eben nicht alle für die Bühne geschaffen. Heute fehlt irgendwie die Motivation. Man fühlt sich beobachtet. Von Profis. Wie viele Mikrofone?, fragt einer der Höllenengel. Fünf, lautet die Antwort. Samma a G´sangsverein?, brummt der. (Ein Gesangsverein ist keine Rockband, versus „Dienst ist kein Bärenfell“, aus „Vierzig Wagen westwärts“.)
Dann geht es los. Die Band intoniert oder interpretiert, je nachdem, Satisfaction. Jeder kennt das. Die Rocker blicken skeptisch. Sehen einander schweigend an. Keiner verzieht eine Miene. Sie haben die Nummer schon x-ten Mal original gehört, haben schon unterm „Original“ gedient, haben vierzig Jahre Wiener Stadthallenerfahrung. Denen macht man nichts vor. Und dann das! Einer schüttelt den Kopf, greift nach seiner Zigarettenpackung in der Brusttasche seiner ausgefransten Jeansjacke. Das Schlagzeug scheppert penetrant nach alten Topfdeckeln. Die Basstrommel klingt nach schlecht gespannter Lederhose und die Mikrofone quietschen erbärmlich infolge einer ungewollten Rückkoppelung. Bühnenleben macht Spaß.

Der Keyboarder erzählt in der Pause, er hätte einen aus so einer Motorradgang gekannt und ihn einmal zu seinen Schwiegereltern eingeladen, die hatten einen Heurigen am Land, und er selbst half am Wochenende dort aus, als Servierkraft und auch hinter der Schank. Aber der wäre nicht alleine gekommen, nein, ganz und gar nicht. Irgendwann war ein infernalischer Lärm auf der Gasse zu hören. Man stürmte zum Tor um nachzusehen. Das gibt’s nicht! An die dreißig Motorräder, Harleys, Hondas, Kawasakis, alle aufgemotzt und mit kunstvollen Bildern versehen, luftgepinselt und verchromt, wo es nur möglich war, versuchen, in beeindruckender Phonstärke die Parklätze vor dem Lokal für sich einzunehmen. Einer fährt über den Gehsteig, dann von dort über den gepflegten beblumten Grünstreifen auf das Gässchen und zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Ein anderer hatte eine Regenpfütze entdeckt und rollt mit dem überdimensionalen dicken Hinterreifen seiner Maschine rückwärts in dieselbe, wobei sich das Rad unter entsprechendem Gasgeben immer wieder munter durchdreht und der Dreck fensterhoch heftig auf die Hausmauer des gepflegten Anwesens spritzt. Der Keyboarder ahnte längst, was ihm bevorstand und wollte wegen des unangenehmen Ereignisses schon in einem Erdloch versinken, aber noch war es nicht so weit. Die Zeit war noch nicht gekommen.

Schließlich war das ganze Geschwader samt den heißen Bräuten, den Klammeraffen – (Beifahrerinnen) abgesessen und hatte sich, die meisten in enger Lederkluft steckend, streckend und reckend, cowboybestiefelt und krummbeinig in Richtung Innenhof bewegt, als auch schon der streng blickende Hausherr erschien, der Schwiegervater höchstpersönlich in Spencer und Loden, der mit den Worten – eis (ihr) kriagt´s do nix – eine klare widerspruchslose Ansage zu deponieren gedacht hatte, woraufhin ihn die Ledernen schräg ansahen. Und sie warfen auch gleich einen zutiefst verunsicherten Blick auf ihren Obmann und Leithammel, der auf den entzückenden Namen „Baby“ hörte, in dessen Bezeichnung jedoch schon allein wegen seines athletischen Körperbaus ein Widerspruch per se zu liegen schien und der er auch aufgrund seines Auftretens in keinster Weise gerecht wurde.

Besagter „Baby“ wiederum erwartete jetzt ganz offensichtlich eine dringende Stellungnahme des Keyboarders, von dem er wohl eine Korrektur der negativen Formalitäten erwartete, die die Stimmung des Hausvaters entsprechend zu wandeln imstande gewesen wäre. Jetzt war es für diesen also höchst an der Zeit etwas zu sagen, zu intervenieren, schließlich ging es irgendwie dabei auch um sein Fell, um seine Reputation, denn so sattelfest war er in der Familie noch nicht verankert, um Folgendes eben richtigzustellen, was schiefzulaufen schien, was sich dann also ungefähr so anhörte – Öh, die – die gehören zu mir, krächzte er nervös und räusperte sich verlegen. Und, ja, jetzt allerdings schien die Zeit für das Mauseloch gekommen.
Aus den benachbarten Häusern lugten verschreckte Augenpaare aus spaltgeöffneten Toren. Kinder versteckten sich hinter den Kitteln der Mütter. Hunde winselten wegen des immer wieder aufbrüllenden Motorenlärms, und die dunklen Wolken des sich bis vor Kurzem entladenden Gewitters standen immer noch drohend am Horizont, ergiebige Pfützen auf Gehsteigen und Gasse hinterlassen habend. Aber es war nicht ganz so schlimm wie erwartet.
Ah so?, reagierte der Hausherr knochentrocken, hob kurz die Brauen, verschwand ohne ein weiteres Wort zu verlieren, außer einem wirkungsvoll kryptischen – Naaa jo! – wieder in Richtung Weinkeller. Dem Tastenbezwinger standen die Schweißperlen an der Oberlippe. Heut wäre wohl kein guter Tag, um ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten. Morgen vielleicht auch noch nicht.

Wie auch immer. Die Begrüßung zwischen Keyboarder und Motorradclub verlief relativ nüchtern und emotionslos. Es arbeitete fieberhaft in des Klimpermaxis Gehirn. Der sogenannte berittene Freund stellte die Kumpane und deren Beifahrerinnen artig vor. Die hatten scheint‘s jede Menge Spaß dabei, so offiziell aus ihrer gewohnten Anonymität katapultiert zu werden. Dann bewegte sich der Tross lärmend über den Innenhof die Kellerstiegen hinunter. Die Schwiegermutter hinterm Tresen stand zunächst wie angewurzelt da, und – nie um ein Wort verlegen – blieb ihr jenes, welches sie eben noch auf den Lippen hatte, wohl unvermutet im Halse stecken, als sie die illustren Neuankömmlinge in ihren Nonkonformistenuniformen sah, mit mosaischen Bärten, in Lederjacken mit Nieten dran und drin, mit klirrenden Ketten wie zu Krampus und das im Mai, wo nichts, aber auch schon gar nichts auf einen Rückfall in dunkle Dezembernächte schließen ließ. Diese Art Heurigenpublikum war ihr grundsätzlich fremd. Und schließlich waren da all die Miniröckchen, oh Gott!, von denen kürzere Varianten wohl kaum noch möglich gewesen wären, wollte man dabei nicht gänzlich auf das letzte Bisschen Stoff verzichten. Die Mutter, die gute, fasste sich jedoch bald wieder und lächelte scheinbar wohlwollend über den seltsamen Kostümverein, der da dieses heiteren Samstagnach-mittags so mir nichts dir nichts über ihre Treppe in die heiligen Katakomben hereingeschneit war, und sie tuschelte irgendetwas mit der älteren weiblichen Hilfskraft an der Schank. Dann kicherten die beiden und kriegten rote Gesichter.

Die angehende Gattin des Keyboarders, Tochter des ehrbaren Winzerehepaares und ewige Studentin, zupfte dienstbeflissen ihr weißes Servier-Schürzchen über ihrem züchtigen Dirndlrock zurecht und wedelte sogleich mit Stift und Schreibblock bewaffnet an die sechs von derbem Rockervolk beschlagnahmten Tische herbei, um die Bestellung der guten Leutchen aufzunehmen, bemüht, die ätzenden Bemerkungen der kichernden Auspuffbräute wegen ihres konservativen Dresscodes tunlichst zu ignorieren. Indes ließen sich die Ledernen nicht lange lumpen, denn sie hatten ganz offensichtlich jede Menge Appetit mitgebracht und auch bezüglich ihres Durstes blieben sie den Erwartungen der Wirtsleute nichts schuldig. Neun Doppelliter und jede Menge Mineralwasser für den Anfang. Und, bloß so nebenbei – welcher biedere Landgendarm hätte es schon auf eigene Faust gewagt, diesen röhrenden und gefährlich aussehenden Pulk der oftmals nebeneinander oder sogar zu dritt nebenher Fahrenden, noch dazu mit Wiener Kennzeichen, selbständig und ohne Verstärkung angefordert zu haben, anzuhalten und nach den Papieren zu fragen? Dir Sauoasch zag i meine Papiere sicher net, soll einmal einer von denen zu einem Polizisten gesagt haben, und so was spricht sich herum. Und man hatte schließlich Familie.

Alsdann kredenzte die Serviermaid aufgekratzt und unermüdlich eine Weinhauerjause (auf dem runden Holzbrett versteht sich) nach der anderen. Darauf befand sich üblicherweise ein Potpourri aus Blunzenrädchen, dürrer Knoblauchwurst, Schinken und Käse, Radieschen, Leberpastete und Tomaten, Pfefferoni und Senf und Brot und weiß der Teufel was noch alles. Der Tastenakrobat konversierte in der Zwischenzeit mit dem hünenhaft blonden Anführer der Gang, der überdies sein Klavierschüler war und den er seit Jahren, bislang mit vergeblicher Müh´, in die Kunst des Boogie-Woogie-Spielens einzuweihen versucht hatte, was sich bei dessen rauen, rissigen und riesigen unbeweglichen Würschtelfingern zu guter Letzt ja auch als sinnloses Unterfangen erwiesen hatte. Aufgrund seiner eigenen schnellen Finger, aber leider selbst kein Biker, diese Zeit kam erst viel später, genoss er trotzdem ein Quäntchen Ansehen bei ihm, wenn auch bloß innerhalb einer geduldeten Toleranzschranke der sonst so überkritischen Benzingenossenschaft bei der Auswahl neuer Freunde, wenn es generell um bürgerliches Gehabe oder gewissermaßen um Andersgläubige ging. Schließlich war man darüber hinaus seiner Ehre und Gesinnung verpflichtet, Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten und damit aller verdammten Bürgerlichkeit und Scheinwelt soweit es ging, aus dem Wege zu gehen, um eben anders zu sein. Dazu zählten durchaus auch chevalereske Kavaliersdelikte wie etwa in unbeobachteten Augenblicken schon mal die Freundin eines Freundes flachzulegen. Diese Art der Moral galt ihnen als dehnbarer Begriff und beschreibt eindrucksvoll und nachhaltig, deskriptiv eben, eine Handlungsregelung, die für diese Gesellschaft leitend ist oder eben die in ihrer Gemeinschaft üblichen Verhaltensregeln. Mal rein empirisch festgestellt, eine Handlung dieser Art nimmt eine gewisse moralische Qualität an, wenn und soweit sie menschliche Achtung oder Missachtung zum Ausdruck bringen soll. Öh, was auch immer damit gemeint ist.

Die übrigen Gäste kriegten also alle lange Hälse und tuschelten hinter vorgehaltener Hand, was sie da nicht alles zu sehen bekamen, aber alles hatte seine Ordnung, und jeder hatte seinen Spaß. Der Hausherr (der Wirt) himself jedoch schielte in ihm günstig scheinenden Momenten mit geübtem Jägerblick, nämlich dann, wenn sein virtuoses (wirtuoses) Ziehharmonikaspiel es zwischendurch erlaubte und seine Frau an der Vitrine beschäftigt war, wo es galt, den Kümmelbraten zu filetieren, so unauffällig wie möglich, immer wieder nach den kurzberockten Rockerbräuten und auf deren knackige halbnackte Oberschenkel und die hinaufgerutschten Miniröckchen, die im Sitzen für den Betrachter kaum mehr wahrnehmbar waren, wodurch schließlich auch er, nach seiner mehr als enttäuschenden Rolle als Empfangschef und trotz aller ursprünglicher Skepsis, auf seine Rechnung zu kommen schien.

Alles war bis dato friedlich und harmonisch verlaufen, wäre da nicht der haltlos verfressene schwarze Kater Seppl gewesen, der, weil dies seit Jahren sein Revier, gewohnt war, auf den breiten Abschlussholzleisten der Sitzbänke hinter den Rücken der Gäste herumzustolzieren und sich von dort aus mit den leckersten Abfällen verwöhnen zu lassen. So drehte er auch diesmal erfolgsgewöhnt seine kulinarischen Runden, umschwanzte den einen oder die andere Gönner/In und schnurrte zum Dank und zum Jubel aller hier katzenliebenden Anwesenden um die Gunst weiterer Nachmittagsgaben abseits der Futterschüssel und ihrer geregelten Füllzeiten.
Die Fresstour musste gezwungenermaßen und logischerweise auch an den Lehnen der Benzinbrüder und -schwestern vorbeiführen, von wo es aufgrund der üppigen Fülle an Essbarem möglicherweise ganz besonders anziehend gerochen haben mochte, als einer der am wildesten aussehenden Outlaws, er hatte ganz unspektakulär einen verchromten Stahlhelm (Zweiter Weltkrieg) vor sich liegen, was die Sache jedoch enorm dramatisierte, das hinter ihm herumstreunende Vieh bemerkte, es mit seiner Pranke am Hals ergriff und mit dem Kopf quer auf sein vor ihm liegendes Schneidebrett knallte, unter frenetischem Jubel der anderen Ledergenossinnen und -genossen. Anschließend demonstrierte er eindrucksvoll, für jeden aufmerksamen Beobachter der skurrilen Szene unschwer zu erkennen, als wolle er mit dem Brotmesser den Kopf der malträtierten Kreatur vom Leibe trennen, um ihn anschließend zusammen mit Senf, Pfefferoni und Salatgurke zu verspeisen. Ein jäher Aufschrei der Hausfrau, die just in diesem Augenblick ihre wohlwollenden Blicke über die schmatzende Gesellschaft schweifen ließ, durchbrach die allgemeine Monotonie ausgelassener Weinlaune und Jausenstimmung.
Der angehende Katzenmörder ließ mit breitem Grinsen Katze und Messer fahren und lehnte sich mit zufriedener Miene ob seiner spontanen Performance mit einem Glas in der Hand entspannt zurück. Einer der Gäste hatte vor Schreck sein Weinglas in der Hand zerbrochen und blutete leicht. Der Schwiegermutter jedenfalls zitterten noch Stunden danach die Knie, leichtgläubig wie sie war, hatte sie vielleicht wirklich angenommen, der unzivilisierte Wüstling würde tatsächlich ihren geliebten Kater verspeisen. Und es war eine Zeit, als just Jimmy Carter Präsident der Vereinigten Staaten war, und der Wüstling lachte laut und rief dem Tier nach, Kater, Jimmy Kater!, als sich Seppl nach seiner wunderbaren Befreiung mit gesträubtem Schwanz, aus Protest lautstark miauend, rasch aus dem Staube gemacht hatte. Rein optisch wäre es dem Kerl durchaus zuzutrauen gewesen, so von Mimik und Gestik her, ihn zu … Die Geschichte hatte noch lange Zeit auch unter den übrigen Gästen Bestand.

Nach diesem kleinen Exkurs in die Welt der Ledernen lasst uns wieder zurückkehren auf die Bühne, auf der soeben wie verrückt gecovert und dabei gerockt und gerollt wurde. Die röhrende Sechziger-Band zog alle Register, und das spärliche Publikum, welches so nach und nach hereingetröpfelt war, war bemüht, so gut es eben ging, in allem mitzugehen, zu schreien und zu johlen und heftig und ausgiebig das Tanzbein zu schwingen. Kaum zwei Stunden dauerte der Auftritt der provinzialen semiprofessionellen Rockathleten und schon, kaum war der letzte Ton verhallt, zückten die grimmig aussehenden Roadies ihre zweirädrigen Schubkarren, hoben die Boxen an und transportierten den ganzen Kram in Windeseile von der Bühne, um neuen Platz zu schaffen, Platz für die anderen, denn vor den Eingangstüren standen schon die nächsten musikalischen Selbstdarsteller in den Startlöchern.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 17093

 




Brainstorming

In meinem Gehirn summt und brummt es: Train I ride, sixteen coaches long. Train I ride, sixteen coaches long. Well, that long black train got my baby and gone. Train train, comin‘ ‚round, ‚round the bend. Train train, comin‘ ‚round the bend Well, it took my baby, but it never will again (no, not again).
Train train, comin‘ down, down the line …

Da vorne steht der Ober und späht aufmerksam zu mir herüber. Vielleicht hat er damit gerechnet, dass ich irgendwie umfalle und doch zur Milch greife? Seh ich etwa so aus? Irgendwie ist man in meinem Alter ja so ziemlich mit allem durch. Obwohl – der Gedanke daran, nicht mehr so zu können, wie man es bisher für selbstverständlich gehalten hat – na ja. Gewöhnungsbedürftig! Wenn erst einmal das Abgeben schwer errungener Lizenzen kommt? Des Führerscheins zum Beispiel. Das sind Zäsuren! Echte Zäsuren sind das! Das kommt einer Entmündigung gleich! Wenn´s nicht nur mehr bloß um einen Zahn geht, der irreparabel ausgehebelt wird. Das wäre ja noch zu verkraften. Auch ein zweiter. Vielleicht noch ein dritter.

Da! Da liegt ein Haufen Blätter vor mir, alte Urkunden, Ariernachweise und so´n Zeug. Ich versuche, darin zu lesen und mich schlau zu machen, über die Zeit vor mir. Den Großvater, den Johann Bresslar, den hab ich leider nicht mehr gekannt. Mein Bub, soll er immer voll Stolz gesagt haben, wenn er über mich gesprochen hat. Passt’s mir auf meinen Buben auf! Ach, ein männlicher Nachfolger, das war etwas! Das wusste er zu schätzen, er, der in Zeiten aufgewachsen war, in denen Männer haufenweise als Kanonenfutter verbraucht worden waren. Die Großmutter kannte ich noch. Eine sehr strenge Frau war sie. Ich erinnere mich gut. Sehr ernst. Nach dem Mittagsschläfchen hat sie immer Kaffee gekocht, damals, in der kleinen Küche. Ich habe den Geruch noch in der Nase. Wunderbar hat er gerochen, wie heutzutage keiner diesen Duft verströmt. Schwarz hat sie ihn getrunken, so wie ich jetzt, aber im emaillierten Blechhäferl, mit blauen Blümchen darauf. Wahnsinnig gern hätte ich das noch besessen! Und sie hat eine Semmelhälfte eingetaucht, und den aufgeweichten Teil abgebissen. Wieder eingetaucht, abgebissen. Dabei hat sie nicht geredet. Nur das Ticken der Pendeluhr war zu hören. Passt mir auf den Buben auf! Aber niemand hat auf mich aufgepasst, so, wie ich mir das gewünscht hätte.

Niemand hat verhindert, dass ich dorthin komme, wo ich jetzt bin. Was soll´s? Alte Leute haben auf mich seit jeher eine ungeheure Faszination ausgeübt, vielleicht durch ihre Abgeklärtheit? Durch die Ruhe, die sie ausstrahlen? Weiß nicht. Ich habe das Gefühl, mit uns wird man nicht so ehrfürchtig umgehen, wie wir es mit den Alten gehalten haben, damals eben. Die Jugend heute hat keinen Respekt vor den Alten. Sondermüll, sagen die. Steh‘n bloß im Weg herum und sind für nix gut, sagen die. Wofür sollte man etwa eine Familienchronik schreiben, für wen, frage ich mich? Die Jungen lesen das ohnehin nicht. Dieser Standesbeamte scheint sich offensichtlich bemüht zu haben, schön zu schreiben. Die schlampigen „n“ und „e“ sind trotzdem schwer zu unterscheiden!

Wenn doch mein Vater oder meine Mutter oder eigentlich beide (wieder ein Romananfang) – denn beide waren gleichmäßig dazu verpflichtet – hübsch bedacht hätten, was sie sich vornahmen, als sie mich zeugten! (Laurence Stern. Tristan Shandy) Hätten sie geziemend erwogen, wie viel von dem abhinge, was sie damals taten! Jedenfalls, dass alles Mögliche dadurch bestimmt worden war, durch das Werkzeug der Vorsehung, oder wie auch immer man es zu nennen vermag, …

Zollwachtmeister also. Großvater war k. u. k. Zollwachtmeister. Merkwürdig. Ich erinnere mich noch, Mutter hat erzählt, dass er wegen Fettleibigkeit ins Flachland versetzt worden ist, damals, unterm Kaiser. Aus Bayern, nahe dem Böhmerwald, in den Flachgau. Grenzgendarm war er. Zollwache oder so. Aber die Berge waren zu hoch für ihn. Das hat er nicht mehr geschafft, keine Luft gekriegt, der Arme. Ich hebe den Kopf. Der Glatzkopf da ist mir schon vorhin aufgefallen, als ich über den Volksgarten in die Stadt spaziert bin. Ganz in Schwarz. Uniformes, das für uneingeschränkten Erfolg bürgen soll. Städtisches Ökonomiesoldatentum! Gleichgeschaltet, mit Telefon im Ohr und Laptop am Rücken. Man sollte ihnen das Telefon gleich in die Haut implantieren, der leichteren Handhabe wegen. Ein Theater. Meinen gewohnten Spaziergang durch die Stadt habe ich heute in der Gegenrichtung begonnen, über die Stadiongasse. Gleich zu Anfang hat mich die Silhouette der Michaelertor-Kuppel im diesigen Morgenlicht begrüßt.

Ich behalte mein Ziel im Auge, denn unmittelbar daneben ist das Café Griensteidl zu finden, Schauflergasse. So bummle ich, flankiert vom Rathauspark und seinen riesigen Baumwipfeln sowie der Westfront des Parlaments – ach, da ist ja der ehemalige Finanzminister! Was macht denn der noch hier? Mit Aktenmappe? Seniorenbundagenden erledigen. Repräsentable Limousinen und Sportwagen vor dem Hohen Haus, muss man sagen. Es geht uns offenbar gut! Kein Wunder, bei den Steuern? Frau Athene in neuem Glanz. Die barockisierten Minarette im griechisch-römischen Stil – auch frisch vergoldet. Das ist nicht gegen die Bauordnung? Artfremd sagen sie heute, wenn etwas so emporragt. Halb zehn. Der Tag ist noch jung.

Langes Zugfahren ist anregend für intensives Brainstorming. Was mir da alles durch den Kopf geht, wenn ich zum Fenster hinaussehe und die Landschaft an mir vorüberrast. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Ich muss lachen. Kennst du das? Pension Schöller, Theaterstück. Der Major: Hier ist der Feind gestanden, und da wir. Wääären wir hier und der Feind dort gestanden, wäre alles ganz anders gekommen! Ja, höchst wahrscheinlich wäre alles ganz anders gekommen.

Hätte ich neulich im Kino nicht Sportgummi gekaut, hätte ich meine Plombe am Stockzahn noch. Ich sitze mit meiner Frau in einer Hommage an das goldene Zeitalter des amerikanischen Musicals und versuche soeben, die ausgelassene Stimmung dieses Feelgoodmovies auf mich herüberzuladen, da war es auch schon passiert. Zwischen Nostalgie und Identitätskrise einer Love-Story-verdächtigen Tanzszene wandelt sich nicht bloß die Geschichte der beiden Hauptdarsteller in, wie man so schön banal sagt, in jenes verdammte Ding, wie es das Leben eben schreibt, da spüre ich schon einen Felsbrocken zwischen dem süßsauren Zuckerschmelz klirren und flugs spucke ich das Corpus Delicti in meine Hand. Ich brauche nicht nachzusehen, worum es sich handelt, denn meine geschickte, oder besser geschockte Zunge hat das Loch dieses Amalgam-Asteroiden im verdächtigen Zahn bereits geortet und voll Entsetzen über seine Ausmaße darin herumgebohrt. Hätte ich also keinen Sportgummi gekauft, wäre alles ganz anders gekommen.

Wäre ich nicht schon berufstätig gewesen, hätte ich mein Medizinstudium fertig gemacht. Hätte ich meinem besten Freund während einer Party vor dreiundvierzig Jahren nicht eine neue Bekannte ausgespannt, wäre sie heute nicht meine Frau und so weiter. Tja, wäre ich Alexander, der Sohn Philipps II. von Makedonien und der Olympia von Epirus, wäre ich auf Wunsch meines Vaters von dem berühmten Philosophen Aristoteles erzogen worden. Hätte was, nicht? Ich hätte im Alter von zwanzig Jahren den Königsthron bestiegen und, nachdem mein Vater ermordet worden wäre, das scheint mir Usus in solchen Königskreisen gewesen zu sein, hätte ich mich als Führer eines makedonisch-griechischen Heeres aufstellen lassen. Einfach so. Ohne Bewerbungsschreiben und Hearing. Klasse, oder? Aber, hätte ich das wirklich gewollt? Du kennst mich doch, ich habe nicht das Zeug zur Führernatur und auch nicht den Willen, eine solche zu sein. Ich müsste übrigens das Heer des Perserkönigs Dareios des Dritten erfolgreich, versteht sich, schlagen. Das täte mir leid, denn ich finde die Perser sind im Grunde nette Leute, als was sollte das? Und dann das viele Blut und die ganze Schweinerei drumherum. Nein, das wär nichts für mich.

Ich war einmal in eine Perserin verliebt. Sie hieß Sayeh, das heißt angeblich Schatten. Sie hatte mir erzählt, ihr Vater wollte sie so genannt haben, damit sie ihm sein Schatten in der Gluthitze der persischen Sonne sein möge. Ich habe sie vor vierzig Jahren aus den Augen verloren. Doch dann, ich hatte da einen Deutschschüler, für den habe ich im Netz etwas gesucht und bin auf einen Namen gestoßen, der mich an den ihren erinnert hat. Dort habe ich angesetzt, nach ihr zu suchen und ich entdeckte eine Bekannte aus der Vergangenheit und deren Telefonnummer. Nach einem kurzen Brief schickte sie mir eine SMS mit Sayehs Adresse. Und seither scheiben wir uns ein wenig oder telefonieren. Hast du mich gefunden, hat sie geschrieben und das klang – irgendwie überrascht, aber doch so, als hätte sie eines Tages damit gerechnet. Sie hat zwei bildhübsche erwachsene Töchter, die beide in Paris studieren.

Als ich sie bat, mir ein Selfie zu schicken, hat sie abgelehnt und gemeint, besser nicht, du wirst fürchten dich (sic!). Ich kriegte dann aber doch ein paar Fotos, und wir haben alte Erinnerungen und auch Fotos ausgetauscht, die überraschend bei uns beiden aufgetaucht sind. Und ich musste mich nicht fürchten, sie sieht immer noch gut aus und sie hat gesagt, ja, aber jetzt sind wir alt. Womit sie leider Recht hat. Nun bin ich aber froh darüber, nicht Alexander zu sein, obwohl ich billig nach Indien gekommen wäre, dort wollte ich schon als junger Mann hin, als die Hippies dorthin zogen. Doch auch dahin bin ich zu spät gekommen, wie sonst auch überall hin. Aber das Ende, also wenn du dir das anhörst, irgendwann hätte ich zu einer Massenhochzeit geladen, lese ich, und dabei zehntausend Perserinnen und Makedonier miteinander verheiratet. Damit fange ich leider nichts an. Mit derartigen Events habe ich nichts am Hut. Wie auch immer, in Babylonien jedenfalls hätte es mich erwischt, da wäre ich an Malaria gestorben. Pech gehabt, nicht? Und das hätte ich nicht gewollt, ehrlich. Aber was fange ich hier Grillen?

Der Tag ist also noch jung, bemerkte ich vorhin. Nur ich bin es nicht mehr. Sayeh hat es mir bestätigt. Ich spüre, wie die Zeit rinnt, unaufhörlich. Hier unten am Ring zähle ich jede Sekunde ein Auto, zwei sogar. Überall sitzt nur eine Person drin. Arme Umwelt. Zwei Mädchenporträts von Gustav Klimt und der Künstlercompagnie im Belvedere – und irgendwann wird mich so ein Radfahrer niederfahren, das seh ich schon kommen. Ich bin im Volksgarten – und – gerettet! Eine hochgewachsene, gelb-orange Valencia unter tausend anderen Rosen. Bildschön! Daneben, derzeit blütenlos, Ricarda. Vielleicht findet sie keinen Partner? Buchs in Fragezeichenformen. Peinlich genau zugeschnitten. Eine Kunst, so etwas. Der alte Theseustempel – stillschweigendes Relikt längst vergangener Zeiten. Die Treppen heute völlig unfrequentiert. Sie haben ihn zu Tode renoviert, mit Lack oder so einem Zeug. Ehemals war er aus Sandstein. Davon ist heute nichts mehr zu bemerken. Wahnsinnstat am Heldengrabmal. Auf den Bänken rundum sitzen Touristen und Pensionisten. Davor eine Gruppe Japaner in Tai-Chi-Trance. Haben ihre Arme hoch erhoben und lassen sie wehen wie Birkengeäst im Winde. Zwei üben Fächertanz, lassen den Fächer knallen wie die Aperschnalzer im Pongau. Die wüssten auch nicht, was unsere Älpler damit darstellen möchten. Trotzdem sieht es elegant aus! Unglaublich, was für riesige Hunde sich manche Leute halten! Wo verstecken sie die bloß in ihren engen Wohnungen? Meine Nationalbibliothek! Ach, wie lange habe ich dort beinahe schon gewohnt? Unten, im Tiefspeicher? Tonnenweise Bücher vor mir auf dem Tisch. Ein kleines Vermögen habe ich hier in Kopien investiert. Und – ich stehe auch in einem Regal, für die Ewigkeit. Also bin ich unsterblich. An manchen Tagen jedoch fühle ich mich aber eher sehr sterblich. Ich gehe über den Ballhausplatz, lasse die Hofburg rechts liegen. Wie leicht sich das sagt, hätte ich sie mitnehmen sollen? Was meinst du? Ich gehe in Richtung Schauflergasse. Gott sei Dank, jetzt ich bin am Ziel.

Aber ich bin ja da. Bin schon da! Und habe es gar nicht gemerkt. Die ganze Zeit über bin ich schon hier. Im Griensteidl. In Gedanken ziehe ich noch einmal die Glastür auf, sondiere in Sekundenschnelle das Terrain und finde meinen Tisch, lasse mich auf die kleine, von dunklen Holzwänden umgebene, mit rotem Plüsch überzogene Zweierbank fallen, an einem kleinen, runden Marmortischchen. Nun sitze ich schon seit einer Stunde hier. Immer wieder rekonstruiere ich, wie ich hergekommen bin. Meine Gedanken gehen im Kreis. Die Yuppie-Tussi, ich weiß. Jetzt könnte sie wirklich zu telefonieren aufhören. Typisch, trinkt natürlich Kaffee Latte. Modegetränk. Das passt zu ihr!

Kaffeehäuser eigenen sich auch hervorragend fürs Brainstorming. Ich denke an Papa. Der Vater hat alles weggeworfen, was von den Vorfahren stammte. Auf eine wilde Deponie gebracht, würde man heute sagen, fällt mir ein. Am nahen Bach. Mit „alles“ meine ich Großvaters Uniform, den Säbel, den Tschako. Mir kommen fast die Tränen. Ich habe so gerne mit diesen Sachen gespielt. Außerdem – der ideelle Wert von dem Zeug! So etwas ist unwiederbringlich verloren. Irgendwo hätte sich schon ein Platz gefunden für den ganzen Plunder. Vater war das egal. Alles Müll, hat er gesagt. Besonders Militärisches. Passte nicht in seine mühsam erklommene Welt. Neunzehnhundertelfer. Moderne Welt! Zeit ist immer modern. Neunzehnhundertsechzig hat er das gesagt! Lächerlich! Er war ja – irgendwie Pazifist! Zumindest bildete er sich das ein. Die Sachen rochen nach Moder, nach Mottenpulver, weiß ich noch. Der Säbel hatte Rost angesetzt, der war unglaublich schwer für mich, als Kind. Er mochte zehn Kilo gewogen haben. Aber war faszinierend. Hatte ich ihn umgeschnallt, zog ich ihn laut scheppernd hinter mir her. Es musste allen fürchterlich auf die Nerven gegangen sein. Damit spielt man nicht! Ich verstehe es ja … heute.

Die Gedanken. In Gedanken läuft alles ab wie in einem Film. Dann ist der Film zu Ende, und du bist wieder allein.

Norbert Johannes Prenner
Auszug aus dem Roman „Am Ende ist man doch allein“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 17058

 




Der Poltergeister-Rap

Es ist tiefste Nacht und irgendwann hoffst du,
mit der Nacht kommt endlich die verdiente Ruh’.
Doch im Stockwerk vier, quasi über dir,
geht was ab nach strenger Marschmanier.
Um ein Uhr Früh, da kommt Herr Polterer erst heim,
und knallt die Tür so zu, die geht fast aus dem Leim.
Dann trampelt er die vielen Stiegen hoch
vergeblich sucht der Schlüssel nach dem Schlüsselloch.
Doch irgendwann geht auch die dümmste Türe auf,
dann nimmt das Schicksal seinen grausamen Verlauf.
Er nimmt die Zimmerflucht in schwerem Nagelschuh,
das ist das Ende deiner Nacht und ihrer wohlverdienten Ruh.
Auf seinen Hacken latscht er lautstark über das Parkett,
das regt mich furchtbar auf, ich find das überhaupt nicht nett.
Von den Erschütterungen wackeln Tisch und Licht,
doch einen Polterer, den stört das alles nicht.
Sogar die Gläser in dem Schrank vor mir die klirr’n,
davon lässt sich der Herr da oben nicht beirr’n.

Und nach so ‘ner ganz und gar beschiss’nen Nacht,
da bist du armes Schwein auf einmal aufgewacht.
Dich hat ein Wasserrauschen früh am Morgen aufgeweckt,
von diesem ist man völlig unerwartet hochgeschreckt,
der Wasserhahn knapp über dir im Badezimmer braust
und die Brotmaschine oben völlig losgelassen saust.
Schon sieben Stück, dann acht, nein neun, gar zehn,
wieviel Brot braucht ein Mensch denn schon zum Frühstücken?

Zwei drei vier… Ich will so sein wie du, ganz dubidu,
so rücksichtslos gemein wie du,
du siehst nur dich allein juhu
und alle andern sind dir scheißegal.
Ich will so sein wie du, ganz dubidu,
so rücksichtslos gemein wie du
du bist ja nicht allein juhu,
ich schwör’s, so werd ich auch bestimmt einmal!

Doch wenn du glaubst, der Typ wohnt da allein,
dann irrst du, denn die wohnen dort zu zwei’n.
Wenn man am Vormittag doch noch ein wenig schlafen könnt’,
ein frommer Wunsch, den dir dein Nachbar nicht vergönnt.
Vor Müdigkeit zittern die Hände,
dröhnen über dir die Wände
wenn Miss Polterer behende
Stühle schiebt schier ohne Ende.
Da wirst du selber ganz verrückt bei diesem Lärm dort oben!
Es werden quietschend Tisch und Sessel hin- und hergeschoben,
dort saugt der Stauber stundenlang ganz ungehemmt dahin,
so lange bis ich schließlich munter bin.

An manch so einem wunderschönen Sonn- und Feiertag,
wo ich nach wochenlanger Arbeit nur noch schlafen mag,
such ich in Panik rasch nach dicken Wattepfropfen,
die will ich mir in die geplagten Ohren stopfen,
seit sechs Uhr früh hört man von oben nichts als Schnitzelklopfen,
so an die vierzig Stück und manchmal mehr,
warum? Die Polterkinder kommen heut zum Essen her.

Hey, zwo drei vier… Ich will so sein wie du, ganz dubidu
so freundlich nur zum Schein wie du,
ich möcht’ so geh’n wie du, wie ein Elefant,
so schubidu, wirklich allerhand.
Du siehst sonst niemanden nur dich allein, juhu,
bist nicht auf dieser Welt allein, schuhu,
und alle andern sind dir scheißegal!
Passt auf, genauso werd’ ich auch einmal!

Punkt zwölf Uhr dreißig sind die Kinder endlich alle da,
und auch der Nachwuchs ist dabei, juhu und tralala,
so an die vierunddreißig ruhelose Beine,
ihr könnt euch sicher vorstell’n, was ich damit meine.
Denn diese Biester sind so zwischen sechs und elf,
da kann man nur noch beten, dass der liebe Gott dir helf.
Möge der Spuk da oben rasch zu Ende sein und dann
gewöhn dich dran, dass sicher keiner dort vernünftig gehen kann.
Die trampeln durch die Zimmer, rennen auf und ab,
wenn ich doch schlafen will. Das alles hält mich ordentlich auf Trab.
Das treiben sie so lange, bis bei dir die Decke bebt,
und wenn du meinst, dass etwas über deinem Bette schwebt
und zwar ganz dreist,
dann hast du Recht, es ist ein Geist, der Polter heißt.

Drum ist es für dich besser, du fährst lieber fort,
zum Schlafen such dir eben einen and’ren Ort,
denn wenn du dich beschwerst, dann kriegst du bloß zu hör’n
wir wollten dich beim besten Willen ganz gewiss nicht stör’n, (höhöhö)
oder hast du neulich gar etwas bemerkt? No na!
Weil gestern war’n seit langem wieder alle da.

Wirklich sehr witzig! Drum: Zwo drei vier.

Ich will so sein wie du, ganz dubidu
so freundlich nur zum Schein wie du,
ich möcht so geh’n wie du wie ein Elefant,
so unverschämt,
es ist allerhand!
Du siehst nur dich allein, juhu,
bist nicht auf dieser Welt allein, schuhu,
und alle andern sind dir scheißegal!
Und so, genauso werd’ ich auch einmal.

Einmal geht’s noch…

Ich möchte geh’n wie du, so schubidu,
und Türen schlagen so wie du,
so deppert und so laut wie du. Ein Nachbar kann
beinah so sein als wie ein ganzer Mann.
Ich schau im Almanach
der süßen Rache nach,
und mach mich schlau.
Knall euch ‘ne irre Soundmaschin‘
vom Boden bis zur Decke hin,
mit tausend Dezibel, so wie beim Festival
hol ich euch sicher schnell aus eurem Bau.
Ein Rolling-Stones-Konzert, das eure Ruhe stört,
um vieles lauter, als wenn eins von euren Enkeln plärrt.
Ich dreh die Boxen auf, und das so furchtbar laut,
dass es euch hoffentlich aus euren Socken haut.
Dann warte ich voll Sehnsucht bis zum Schluss,
aufs Ende des Getrampels mit Genuss.

Lasst mich so sein wie du, so schubidu,
so rücksichtslos gemein wie duuuh,
ich mach mit meiner Soundmaschin‘
von jetzt an jeden Sonntag hin
und blas euch damit gnadenlos aus eurem Schuh.
Und dann, verdammt noch mal, ist endlich Ruh!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee | Inventarnummer: 17046




Der Railjetsimulator

Wenn ich nicht mehr Bahn fahre, kann ich auch nicht mehr schreiben. Ich überlege mir, eine alte Waschmaschine so umzubauen, dass ihr Schwungriemen eine Plattform rüttelt, auf der ein kleiner Schreibtisch und ein Stuhl stehen. Von einem Beamer aus werden Aufnahmen einer vorüberziehenden Landschaft auf die Wand projiziert. Ich besteige die Plattform, setze mich auf den Stuhl, vor mir auf dem kleinen Tisch – mein Laptop. Über eine Fernbedienung nehme ich die Waschmaschine in Betrieb. Die Plattform fängt an zu rütteln. Mittels einer zweiten Fernbedienung setze ich den Beamer in Gang. Ich ziehe meine Kopfhörer über. Alsbald tippe ich die ersten Sätze in den Computer. Das genaue Ziel ist ungewiss, sowohl des Schreibens als auch des Rüttelns Ende.

Und irgendwann habe ich aufgehört zu träumen.

Zurück ins Kaffeehaus. Ach, dort kommt endlich die Melange! Eine Zeitung der Herr? Nein danke, hab schon eine. Danke sehr! Ich winke ab. Wieder in die vor mir liegende Zeitung starrend. Hochwasser. Wo? Und? Was ist jetzt mit dem Hochwasser, mit dem depperten? Das geht jetzt schon seit Tagen so! Land unter, was? Gott sei Dank bin ich nicht in Bombay oder Lagos. Was sollte ich auch dort? Jedes Jahr dasselbe mit dem Wetter. Ich finde den Regen herrlich! (Er macht so schön depressiv, aussichtslose Katastrophenstimmung, passt so richtig zu meinem Inneren.) Und mit ein wenig Glück geht die Welt vielleicht doch unter (Der kleine Benedikt, Zitat aus „Der Salzbaron“), und man muss seine Kredite nicht mehr zurückzahlen oder braucht nicht mehr arbeiten zu gehen, weil alles unter Wasser ist.

Der Staat kommt für die Frühpension für alle auf. Sicher. Und das Wetter ist längst nicht mehr das, was es einmal war, sagen manche. In den Sechzigern hat es noch meterhohen Schnee gegeben. Richtige Schluchten hat der Schneepflug in die Straßen gegraben. Heutzutage kennt man sich ja nicht mehr aus mit dem Wetter. Im Sommer schneit es, im Winter hat es zwanzig Grad plus und mehr. Wer soll das ertragen? Mein Herz ist irritiert! Und erst der Kreislauf! Hilfsmannschaften bekommen Orden verliehen, typisch österreichisch! Orden verteilen. Monarchistische Altlasten. Fürs Sandsack-Legen! Ich halt’s nicht aus. Noch ein Kaffee.

Nun gut, wenn wir diese Leute nicht hätten, wer weiß? – Bitte sehr, der Verlängerte. Darf’s was dazu sein? – Danke, nein. Ich habe die Ahnenpässe meiner Eltern mitgebracht. Und Heiratsurkunden und so Zeug eben. Alles, was man für den Einstieg in eine Familienchronik eben braucht. Mein Gott, wer soll denn das alles lesen? Noch dazu in Kurrent! Also, Trauungs-Schein, Diözese Brünn. Na bitte, geht ja gar nicht so schlecht. Trauungsschein – Testimonium copulationis. Wenn man sich mit jemandem verbindet, zusammen ist, natürlich. Wurde gar nicht viel drum herumgeredet, damals. Beischlaf- oder auch Begattungslegitimation nenne ich das. Wie das klingt? Königreich Böhmen, Regnum Bohemiae. Wunderschön, nur leider längst nicht mehr wahr. Bezirksgericht Brünn. Blatt 403. Numerus currens zwölf. Der Bräutigam (sponsus) Stanislav K. Die Braut (sponsa) Frau Emilia O. Am sechsten November eintausendneunhundertsieben in Brünn. Dort drüben sitzt auch so eine aufgeputzte Yuppie-Tussi.

Was hat die andauernd zu telefonieren? Stundenlang ist die schon am Handy dran, unglaublich! Nee, so lange bin ich ja noch gar nicht hier. Aber immerhin. Wenn sie wenigstens leise spräche! Manche Menschen sind einfach nicht in der Lage, sich selbst in Relation zu den anderen zu sehen! Man kann hier ganz einfach nicht in Ruhe lesen! Seufzer. Das Leben scheint mit zunehmendem Alter wirklich ernster zu werden. Sollte es nicht leichter werden, verdammt noch eins? Wo doch ohnehin so gut wie alles bereits Vergangenheit ist. Was soll denn noch kommen, bitteschön, fragt man sich? War alles da. War alles schon einmal da. Jetzt werden die alten Hits wieder aufgewärmt, aus den Sechzigern. Auch schon was. Die Dichter schreiben Shakespeare um, anstatt sich selber was einfallen zu lassen! Die geht mir unheimlich auf die Nerven mit ihrer Telefoniererei! Ah, der Kaffee ist heiß, Donnerwetter! Die Milch hätt’ er sich sparen können. Hab ich schwarz gesagt oder nicht? Ignorant!

So ein familiärer Rückblick muss sehr genau beobachtet werden. Jede Entwicklung einzelner Personen darf nicht nur zur Routine werden. Es bedarf einer sorgfältigen Analyse der Fakten inklusive der Erläuterung diverser Auswirkungen auf andere Mitglieder der Familie, ähnlich der akribischen Arbeit, wie es Agenten tun würden. Man müsste bei der Niederschrift auch darauf achten, nicht bloß Satzellipsen stehen zu lassen oder rein rhetorische Fragen zu stellen, die letztendlich dann doch nicht beantwortet würden. Einer Überwachungskamera gleich beobachten. Insofern würden sich derartige Beobachtungen für den Unbeteiligten möglicherweise insistierend darstellen, vielleicht mit sarkastischen Zügen versehen und der logischen Frage, ob man je versucht hätte, vor solch einer Kamera beispielsweise unschuldig zu wirken?
Schließlich stellt man das Ergebnis unter den Scheffel der heutigen Gesellschaft, zeichnet ein möglichst genaues Bild derselben, dieses in ein System gedrängt, mit der Aussicht, Panik und Angst zu schüren, auf alle möglichen Bedrohungen aufmerksam zu machen, wie es heutzutage ja ein Leichtes ist, blickt man einmal kurz von seinem Boulevardblättchen hoch, und – wieder kurz zu Bewusstsein gekommen, das Ganze mit dem Nachsatz versehen, dass nämlich nichts besser würde, auch in der weiteren Zukunft nicht. Mit dieser Aussicht im Gepäck scheint es gar nicht so schwierig, die Haarnadelkurve in die Zielgerade der socalled „guten alten Zeit“ zu kriegen.

Apropos. Es ist vielleicht drei Jahre her, da fahre ich mit dem Abendzug zurück, von dort, wohin ich in der Früh immer fahre, immer hin und aus Richtung Westen. Eine Fahrt ohne Zwischenfälle, ruhig, wenig Passagiere, also kein Lärm, kein sinnloses Handygequatsche wie hallo, ich bin hier wo bist du?, und so weiter und was machst du eben – wen interessiert das bitte?, eine verfluchte Erfindung wahrlich!, und keine sonderliche Geruchsbelästigung, denn zahllose Mitmenschen halten offensichtlich nicht viel von Körperpflege und tragen das selbe Hemd und die selbe Hose, von der Unterwäsche ganz zu schweigen, offensichtlich mehrere Tage hintereinander.

Winter ist’s, auch wie immer in diesem Land, hat man den Eindruck. Ich verkable mich, und auch das wie immer, gleich nachdem ich es mir im Abteil zurechtgemacht habe und lege einen Film in den Laptop ein, damit die Zeit rascher vergehen möge. Ich weiß es nicht mehr, was es für ein Film war. Jim Jarmusch – Mystery Train – war’s nicht, das weiß ich mit Sicherheit. Egal. Er hätte mit Inhalt und Ausgang der Geschichte ohnehin nichts zu tun. Ich sehe also den Film zu Ende, während auch die Reise langsam ihrem Ende zugeht, packe meine sieben Sachen zusammen und gehe durch die zahlreichen Waggons in Richtung vorderen Zugteil, wobei ich auch durch jenen Wagen muss, der direkt hinter der Lok hängt, um dann, wenn er am Bahnhof ankommt, gleich zu allererst aussteigen und die U-Bahn erreichen zu können. Es ist ein Erste-Klasse-Waggon. Nicht, dass ich immer bloß Zweite Klasse fahre, es kommt auch vor, dass ich die Erste Klasse benutze und dann eben aufzahle, womit ich sagen will, sie ist mir ebenso vertraut wie die Zweite Klasse, jedoch benütze ich aus Kostengründen in der Mehrzahl die Zweite Klasse.

Als ich also die Schwingtüre dorthin durchschreite, kommt mir schon ein ziemlich aufgebrezelter, äußerst wohlbeleibter Schaffner entgegen, grußlos, wohlgemerkt, kein guten Abend, keine guten Irgendwas wünschend, nichts eben und schmettert mir in perfektem Meidlingerisch – He, hallo hallo, junger Mann, do kennan S’ oba net net durchgehn – entgegen. (Hier können Sie nicht durchgehen) Austria as it is – Charles Sielsfield, alias Karl Anton Postl, ausgewanderter Österreicher und Schriftsteller zahlreicher Romane und Betrachtungen, achtzehntes Jahrhundert, hätte seine wahre Freude daran gehabt, wenn er in der Gegenwart recherchiert hätte. Zuerst bin ich baff, um ehrlich zu sein, ich konnte zunächst gar nicht glauben, dass das jetzt die Wirklichkeit sein soll, in der ich mich befinde. Ich sehe ordentlich aus, keine zwanzig, fünfzig auch nicht mehr sondern – egal, den Schaffner schätze ich auf fünfundvierzig, bin schwarz gekleidet, schwarzer Mantel, Hose, Schuhe ebenso, schwarzen Trolley nachziehend. Sehe also nicht gerade wie ein Penner aus. (Ich bin wirklich froh über mein „r“ im Namen.) Habe eine intellektuelle Brille auf der Nase und bin plötzlich nicht würdig, durch einen Erste-Klasse-Waggon zu gehen.

Äh – ich gehe nur durch, sage ich anfangs schüchtern, zum vorderen Ausgang, weil ich gleich aussteige, alles in der Hoffnung, der Bahnangestellte würde sich vielleicht getäuscht, geirrt oder was auch immer haben, und der Satz sei ihm ganz einfach nur herausgerutscht, sodass ich hoffte, er würde ihm auch gleich wieder hineinrutschen. Doch da sollte ich mich irren. Nichts da. Genau – sagte er zu meinem neuerlichen Erstaunen, do däafn S’ net durchgehn, des is a Easchte Klass. (Da dürfen Sie nicht durchgehen usw.) Nun habe ich ja schon viel erlebt in diesen Zügen der sogenannten Staatsbahnen, schließlich fahre ich schon mehr als dreißig Jahre wöchentlich damit und da gibt es Mannigfaltiges zu berichten. Über spontane Halte wegen Personenschadens, Suizid auf offener Strecke. Also, dafür können die nix, das ist klar. Also zwei Stunden Wartezeit. Wegen eingefrorener Weichen ebenso wie aufgrund abzuwartender Anschlusszüge. Verspätungen wegen Betriebsstörungen bis zu Mitteilungen, Montagmorgen, man hätte keine Lok und müsse erst eine suchen. Ich habe mich, soweit es ging, nie aufgeregt deswegen, was auch sinnlos gewesen wäre, denn an der Abfahrtszeit hätte sich ohnehin nichts geändert. Auch nicht daran, dass in den Abfallkästen nahe den Sitzen der Schimmel regierte, und gar oft schon eine übelriechende Flüssigkeit, Reste aus Cola, Kaffee oder sonst was munter darin vor sich hinstank und schwappte.

Dass sämtliche Toiletten gleichzeitig kaputt waren, bis auf die im vordersten Waggon, der Ersten Klasse, dass es keinen Strom für den Computer gab oder überhaupt zu wenig Sitzplätze, weil man überzählige Waggons aus unerklärlichen Managementfehlern irgendwo anders halbleer herumkutschieren ließ, dass im Winter die Heizung nicht funktionierte und sich im Sommer in manchen Waggons nicht abschalten ließ, bis hin zu dem Satz, den einer der zahlreichen Generäle einmal abgelassen hatte, man wäre als Angestellter ja ohnehin bloß Bittsteller.

Auch wurscht. Dann aber gibt es noch die alljährlichen Sanierungsarbeiten am Gleiskörper. Die machen einen Schienenersatzverkehr nötig. Und das geht so – ich komm gleich zurück auf meinen Schaffner – also, da stehen in einem gewissen Ort Busse zur Verfügung, die die Reisenden in jene Orte bringen, die nun, über mehrere Wochen hindurch, per Bahn nicht passierbar sind. Nun fahren aber diese Busse durchs Unterholz, halten an Hütten, an denen nie jemand ein-, geschweige denn aussteigt und klettern mühsam versteckte Serpentinen hoch, um endlich mit Verspätung dort anzukommen, wo man eigentlich mit dem Zug hätte pünktlich ankommen sollen. Aber dort ist der Anschluss weg. Das bedeutet eine Stunde länger warten. Oder man ruft ein Taxi. Ist ja alles gratis. Hervorragendes Regionalmanagement, wirklich! Da gibt’s nichts zu meckern.

Nun gut, also der Schaffner verbietet mir, durch die Erste Klasse zu gehen. Jetzt komme ich ihm mit der Logik, dass es keinen Sinn mache, mich nicht durchzulassen, da ich ja ohnehin nicht Platz nehmen möchte, und wenn, könnte es ihm auch Pappendeckel sein solange ich bezahlte. Nein, das geht nicht und blablabla. Dann werd ich aber langsam grantig und fordere ihn auf, mir zu zeigen, wo dieses Verbot, hier nicht durchgehen zu dürfen, denn stehe. Weiß er nicht, aber es ist so. Ich sehe rot, das merke ich an meinen Herzrhythmusstörungen. Er soll zur Seite gehen, damit ich da durchgehen kann, und er sei ein Kasperl und solle sich nicht so aufführen. Da sieht er rot und stammelt irgendwas Wienerisches, von wegen ich solle mich aus dem Abteil entfernen, ich belästige die Gäste. Jetzt kriege ich aber meinen Anfall und niemand ist da, der mir die Schläfen massiert und mich davon abhält, ihm zu sagen, was für eine jämmerliche Figur er sei und dass er mir sofort Namen und Dienstnummer geben solle und er würde von mir hören. Das tut er auch, indem er meint, er wäre der Zugchef, Zuckscheff! (sic) 238 oder so, hähähä – schmettert und fett übers breite violett-rote Gesicht grinst.

Mir zittern die Knie vor Wut, und ich nehme meinen Koffer und ziehe mich mit den Worten – das gibt ein Nachspiel, Sie Kasperl – zum hinteren Ausgang zurück. Da hält der Zug auch schon am Endbahnhof. Wütend und rot im Gesicht klettere ich die Stiegen hinunter auf den Bahnsteig. Am vorderen Ausstieg steht der Zuckscheff und streckt seinen Bauch zur Tür heraus. Er lacht. Sie hören von mir, Sie Kasperl Sie!, rufe ich ihm zu und wende mich Richtung Ankunftshalle.

Zu Hause angekommen – meine Frau bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, beichtete ich ihr in allen Details mein Missgeschick mit der staatsbahnlichen Obrigkeit und dass hier immer noch Hof gehalten würde wie in der Kaiserzeit, Relikt aus grauer Vorzeit, denn die Pensionen haben sich die feinen Herren gleichfalls aus diesen Zeiten zunutze gemacht, weil sie ja so wahnsinnig schwer arbeiten, sage ich giftig zu meiner Ehehälfte. Aber ich ernte wenig Verständnis. Man ist am Ende dann doch immer allein.

Tags darauf tippte ich bereits früh am Morgen heftig in die Tasten und beschwerte mich bei der für Bahnangelegenheit zuständigen Schlichtungsstelle über die bodenlose Schikane, die mir da am Tag zuvor im Abendzug wiederfahren war und forderte, dass sich dieser herrschsüchtige und amtsanmaßende Zugbegleiter schriftlich bei mir für sein offensichtliches Fehlverhalten zu entschuldigen hätte.

Die Antwort, die ich nach vierzehn Tagen erhielt, fiel jedoch alles andere als befriedigend für mich aus, wie ich sie in meinem Gerechtigkeitsstreben erwartet hatte. Der Zuckscheff war einvernommen worden und hätte zu Protokoll gegeben, dass ich in aggressiver Weise versucht hätte, mich an ihm vorbei durch den Korridor in die Erste Klasse zu drängen und er mich daran gehindert hätte, die Fahrgäste der Ersten Klasse weiterhin zu belästigen. Zack! Die halten also alle zusammen, waren meine ersten Gedanken, komme da was wolle! Allerdings räumte man mir ein, dass es kein derartiges Verbot gäbe, durch die Erste Klasse gehen zu dürfen. Ich nahm meine Brille ab und schluckte. Da gab es für mich nur einen einzigen Satz, mit dem ich die überschüssige Luft ablassen konnte – ihr könnt mich doch allemal!, schrie ich durch das Zimmer, beendete das Programm und fuhr den Computer herunter. Luft – alles was ich jetzt brauchte – war Luft!
Und einen Railjetsimulator.

Norbert Johannes Prenner
Auszug aus dem Roman „Am Ende ist man doch allein“ – in Entstehung

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Mein Südtirol

Aurouggla – Teil 3

Als sich Tage danach der Stress um das Brautpaar gelegt hatte und der Alltag wieder seine ruhigen Bahnen zog, meldete ich mich bei Moidl (Mutter meines Schwagers, die Maria hieß) wieder zum Bardienst zurück, und ich muss sagen, ich war mit meiner Tätigkeit dort sehr zufrieden. Tagsüber kamen zahllose Italiener vorbei, denen ich Café Macchiato oder Limonata oder eben was anderes servierte. Ich war gefordert, mich mit ihnen zumindest irgendwie zu verständigen und im Laufe der Zeit lernte ich tatsächlich sogar etwas Italienisch. Ich konnte Bestellungen aufnehmen, kurze Fragen stellen und auch ein wenig antworten, wenn ich gefragt wurde, auch dann, wenn es sich dabei um Süditaliener handelte, was mit denen nicht immer einfach war.

Wenn ich Entspannung suchte und mir die Leute auf die Nerven gingen, lief ich einfach ums Haus, denn hinten, im Garten, saß oft ein zahmer Rabe auf einem Ast, der sogleich auf meinen Schultern landete, wenn ich ihn rief, und mir mit seinem kräftigen Schnabel liebevoll den Rücken klopfte. Vielleicht war er in seinem früheren Leben ein Specht gewesen, wer weiß. Ich fand das alles ziemlich aufregend, vor allem aber nicht so furchtbar langweilig wie bei uns zu Hause. Lag ich dann in meinem Liegestuhl, mit Pfeife und Karl May bewaffnet, setzte er sich ganz oben auf die Querleiste und tat, als läse er mit. Nur von der Pfeife hielt er Abstand, der beißende Rauch war dem sensiblen Tier offensichtlich nicht geheuer.

Gegen vier Uhr Nachmittag gab’s dann Marendn, also Jause. Oft kam Luis vorbei, ehemaliger Polizist, der von seinen Einsätzen gegen die Mafia in Süditalien erzählte und dem ich mit offenem Mund zuhörte, weil ich das alles nicht glauben konnte, was er so alles zu berichten hatte, denn solche Sachen kannte ich nur aus dem Fernsehen.
Manchmal, vor allem an Sonntagen, kam Frau Marie aus Meran herauf. Eine noch gut aussehende Sechzigerin mit einem eloquenten Mundwerk. Sie stelzte stets zuallererst an die Bar, beugte sich über diese und flüsterte mir leise zu, geh, Bua, gib ma an, zan Oischlenzgan. (Gib mir einen – zumeist Jägermeister – zum Hinunterspülen). Und ich gab ihr einen, aus dem rasch drei oder vier wurden.
Da war auch ein Buschauffeur, der alle Stunden hier Pause machte und entweder Kaffee oder ein kleines Bier bestellte. Er erzählte manchmal, wie die Partisanen italienische Bauern abgeschossen hatten, nur so zum Spaß, zum Zielschießen und so, auf den Feldern.

Eines Tages aber, es war schon gegen Abend, hörte ich ein furchtbares Pfeifen und Rauschen unten vom Tal her. Als ich, neugierig wie ich war, eilig auf die Veranda trat, da flogen plötzlich vier italienische Kampfjets von Meran aus den Hang entlang herauf und zischten über unsere Köpfe hinweg, dass uns die Luft wegblieb. Kaum dreißig Meter über dem Boden. Nie werde ich das vergessen, nie! Das war vielleicht ein Schauspiel. Die zahlreichen Touristen, die an der Seilbahn standen und warteten, kriegten die Münder nicht zu vor Staunen und es entfachte sich eine hitzige Debatte darüber, ob die Piloten das überhaupt durften, wo es doch viel zu niedrig gewesen wäre.

Manchmal waren die Brüder des Bräutigams meiner Schwester in der Bar. Sie hatten immer die neuesten Witze auf Lager, und ich mochte sie gut leiden, obwohl ich Probleme mit dem Verstehen ihres Dialektes hatte. Aber einen ihrer Witze hatte ich verstanden. Es ging um die Vespa, das beliebteste Verkehrsmittel für Alt und Jung hier in Südtirol.
Heute wäre alles nicht mehr so, wie es einmal war. Früher, sagte einer der beiden, wären die Vespen auf den Feigen gesessen, und sie meinten Wespen, aber heute sei alles anders, denn heute säßen die Feigen auf den Vespen, und sie meinten Mädchen damit. Ich weiß nicht, ob ich rot geworden war, aber ich musste furchtbar lachen.

Als der Luis, schon wieder einer, beinahe jeder hieß hier Luis oder Sepp, also der war ein Taxichauffeur, zum ersten Mal bei mir an der Bar gestanden ist, dachte er, ich sei Italiener, und ich dachte es auch von ihm, weil er italienisch bestellt hatte. So dauerte es eine ganze Weile, bis ich kapierte, was er eigentlich wollte, denn er hatte eine Pompelma bestellt, aber mit „aurouggla prego“. Das ging eine ganze Weile so hin und her, bis ich die Muata (Moidl) endlich fragte, was er eigentlich wolle und was denn um Himmels Willen „aurouggla“ bedeute? Bis ich endlich verstand. Aufschütteln. Er wollte, dass ich die Limonade aufschüttle, um das Fruchtfleisch gleichmäßig in der Flasche zu verteilen. Wir haben alle herzlich gelacht über unser Unvermögen, miteinander zu kommunizieren.

Als ich Jahre später wieder einmal hierher kam, mit meiner Frau, die im sechsten Monat schwanger war, machte ich eine Bergtour, alleine, und die wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden. Die vielen Jahre, in denen ich zumindest die Sommer so oft als Piccolo in der Bar Diana verbracht und Gäste bedient hatte, kamen mir vor, als wären sie erst gestern gewesen. Damals saß hin und wieder ein älterer Mann am Stammtisch, ausnahmsweise einmal der Hubert, und kein Luis oder Sepp, der sagte, oben, am Ifinger, das ist der höchste Berg auf der Meraner Nordseite, sei am Gipfelkreuz eine Blechschachtel befestigt mit dem Gipfelbuch. Und in dieses Gipfelbuch hätte ein deutscher Tourist folgende Worte geschrieben: Alpenrose, schöne Rose, schöne Rose, Alpenrose, und er hätte mit Silbernagel unterschrieben. Und darunter soll ein Einheimischer geschrieben haben: Silbernagel, dummer Nagel, dummer Nagel, Silbernagel und mit Alpenrose unterschrieben haben.

Das musste ich natürlich einmal einfach selbst sehen. Aber niemand von den Einheimischen am Stammtisch der Bar Diana war je dort oben gewesen. Als Junge wäre es mir auch nicht möglich gewesen, aber nun war ich achtundzwanzig und hatte schon einige Erfahrung im Klettern und Tourengehen gesammelt. Also ging ich los. Aber schon nach kurzer Zeit hatte ich mich verstiegen und den Steig verloren, der zum Gipfel führte. Als ich dann auch noch abkletterte, geriet ich in einen Überhang und wäre beinahe nicht mehr von alleine hochgekommen. Der Gipfel war in Sichtweite, nur eine steile Wand von etwas sechzig Metern trennte mich von ihm. In der Wand hing eine verrostete Kette. Ich nahm all meinen Mut zusammen und hantelte mich an dieser bis zum Gipfel empor, denn ohne Sicherung, nur im Fels, hätte ich es sicher nicht geschafft. Oben, am Gipfel, saß eine Gruppe Bergsteiger, und die staunten allesamt nicht schlecht, als mein Kopf plötzlich vor ihnen auftauchte, von der steilen Südwand her. Ja wo kimmsch’n du auf amol her?, fragten sie ganz außer sich. Na, von da unten, antwortete ich gelassen, obwohl mein Herz wie verrückt schlug, teils vor Anstrengung, teils vor Angst. Immerhin ging’s unter mir beinahe tausend Meter abwärts.
Ich denke heute, ich hatte eher ihr Mitleid als ihre Bewunderung. Als ich hinterher ins Tal abstieg, erreichte ich gerade noch vor Ausbruch eines Unwetters, das seinesgleichen suchte, das schützende Haus, in dem meine besorgte Gattin bereits seit Stunden wartete. Es hagelte und schneite mitten im August und am nächsten Tag erfuhr man, dass mehrere Personen in dem Unwetter als vermisst galten.

Und noch etwas, als ich damals noch der junge Kellner in der Bar Diana war, ich erinnere mich genau an die Geschichte, gab es da einen bekannten Kunstmaler, Stampfl Rudl haben sie den genannt. Ich habe seine Aquarelle sehr bewundert. Er war ein Genie, wirklich, und ich denke, man könnte ihn zu den ganz großen Malern zählen, die im Genre des Naturalismus zu Hause sind. Er war mit einer deutschen Frau verheiratet. Und immer dann, wenn er schon zu lange am abendlichen Stammtisch gesessen war, kam seine Frau ganz aufgebracht in die Stube und rief: “Rudl, hasch an Dampf? Was sitsch allm bei die Affen?“, (Rudolf, bist du betrunken, warum sitzt du andauernd hier bei den Affen?) indem sie sich in ihrem besten Südtirolerisch versuchte, holte sie ihn mit diesen Worten zu sich nach Hause, zum Gaudium aller Anwesenden, die aus vollem Halse lachten.

Norbert Johannes Prenner

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Die Hochzeit

Aurouggla – Teil 2

Nachdem meine Familie also erfolgreich im Hotel Belvedere untergebracht worden war, trat etwas Ruhe in die ganze Sache ein. Vater hatte aufgehört, nervös zu schnupfen, und Mutter genoss den ausgezeichneten Blick über Meran von der Terrasse des Hotels aus. Sie sah, zumindest für Momente, sogar etwas entspannt aus. Und ich? Nun, ich richtete mich in meinem kleinen Einzelzimmer so gut es ging ein, packte meine Lieblingsbücher aus und mein Malzeug und hängte meine Kultjeans und T-Shirts ordentlich nacheinander in den Kasten. Den grauenhaften Anzug ganz zuletzt. Den müsste ich ohnehin ja bloß nur einmal anziehen. Dann ging ich auf Entdeckungstour. Zuerst die fünf Minuten hinunter zur Bar Diana, wo ich mir ein Pompelmo (exotisch, was? Grapefruitsaft) genehmigte, welches sich die Muata nicht zahlen ließ. Wohin ich denn spazieren gehen sollte?, fragte ich artig. Dort, den steilen Waldweg hinauf zum Sulfner-See. Ist das weit? Na, geah, wann´d gmiadlich geasch, a holbe Schtund. Do hosch, a Tafele Schokolade fian Hunga. Ich wandte zaghaft ein, gegen, und lächelte, aber man verstand mich nicht.

Also ging ich los. Ein wunderschöner Wald! Hohe Fichten, unterwandert von allerlei Sträuchern. Dazwischen Farne in Überlebensgröße und eine sagenhafte Luft, die nach Harz, nach frischem Laub und Waldboden roch. Dort ein mir unbekannter Käfer, da ein Vogelgeräusch, das ich nicht kannte. Raubvogel vielleicht. Durch die hohen Wipfel blitzte warm die Nachmittagssonne und tauchte alles in ihr mildes Licht.
Ich denke, ich habe mich nie wieder so glücklich und frei gefühlt wie in diesem Augenblick. Oder vielleicht in den kommenden Spaziergängen hierher. Langsam wurde der steile Weg eben, als ich eine Art Plateau inmitten dieses Zauberwaldes erreicht hatte. Jetzt wechselte der braune Waldboden in sattes Grün. Dort vorne sah ich etwas glänzen, das musste die Wasseroberfläche des Sees sein. Und tatsächlich! Ich kam meinem Ziel rasch näher.

Ein mittelgroßer See, inmitten eines Hochwaldes. Wahnsinn! Das Wasser schien dunkel, beinahe schwarz und spiegelte auf seiner Oberfläche die es umgebenden Bäume wider. Ein gutes Drittel des Sees war mit Seerosen bedeckt. Große grüne Blätter lagen wie Matten, die zum Draufsteigen einluden, auf der ruhigen Wasseroberfläche verziert durch hunderte von Blüten, die, libellenumschwärmt ihre rosa Körbchen weit geöffnet hielten, als wollten sie damit die Sonnenstrahlen einfangen.
Ich ließ mich auf einem Baumstrunk nahe am Wasser nieder und weidete mich an der Fülle meiner Eindrücke, ich konnte diesen Anblick kaum fassen. Meine Augen glitten immer wieder rundherum, um nur ja nichts auszulassen, damit mir auch nichts entging, um dieses Idyll vollkommen zu verinnerlichen, ja um es mit nach Hause zu tragen, es in meinem Inneren abzulichten und um es eins zu eins wieder abrufbar zu machen, wenn ich seiner bedurfte.

Ich hatte von der Wiener Tante eine billige Kamera geschenkt bekommen, die stolz an meiner Knabenbrust baumelte. Ich nahm sie hoch und fotografierte beinahe den ganzen Film leer, als ich vor mir, im Wasser, eine Bewegung wahrnahm. Im seichten Wasser in Ufernähe ringelte sich grazil eine Ringelnatter (drum heißt sie ja auch so) über den See und nahm überhaupt keine Notiz von mir, dem Eindringling, der ich war. Ich knipste wie verrückt hinter ihr her. Und mit der Entwicklung dieses Filmes würde ich ganz sicher nicht warten wollen, bis ich wieder zu Hause wäre. Den wollte ich gleich morgen nach Meran tragen. Wir blieben zehn Tage hier, das ging sich locker aus. Ich weiß nicht, wie lange ich hier gesessen sein mochte, doch durch die Dämmerung aufmerksam geworden, trat ich schließlich den Rückweg an. Wer weiß, vielleicht machte man sich schon Sorgen, wo ich geblieben war?

Der nächste Tag, ein strahlender Sonntag, der nicht strahlender hätte sein können, war der von allen heiß erwartete Hochzeitstag. Mir, um ganz ehrlich zu sein, war er als solcher egal, eher lästig, denn es würde mir nicht erspart bleiben, meine geliebten ausgewaschenen engen Jeans mit dem scheußlichen Anzug zu vertauschen und meine hohen schnürbaren Rauleder-Boots, wie sie damals in Mode waren, durch schwarze spitze Halbschuhe zu ersetzen. Die kleine Schar der Hochzeitsgäste wuchs rasch an und formierte sich vor der Bar Diana zu einer unübersehbar langen Menschenkette in Festtagskleidung. Dann erschienen die Braut und der Bräutigam. Er mit dunklem Rauschebart in Schwarz, sie mit Blumenkrönchen und in Weiß. Die Sonne brannte um zehn Uhr vormittags schon herunter, als ob es Mittag wäre. Nach etlichen Gläsern Sekt, die gereicht wurden, ging es endlich in Richtung der nahegelegenen Kirche, neben den berühmten Haflinger Pferden offizielles Wahrzeichen des Dorfes, zu St. Kathrein genannt, einem aus grauem Stein erbauten Kirchlein aus dem 13. Jahrhundert, das weithin gut sichtbar war.

Der offiziell zeremonielle Teil zog sich genauso in die Länge wie sein Menschenzug, und mir wurde heiß in dem engen Sakko, welches ich am liebsten ausgezogen hätte. Die ungewohnte Krawatte würgte mich am Hals, und Schweißtropfen rannen in Bächen gesammelt über Brust und Rücken. Mutter wurde übel, wie immer, und sie musste von meinem Vater kurz hinausbegleitet werden, an die frische Luft, die gar nicht frisch, sondern sauheiß war. Aber bitte, Einbildung ist alles, und sie tat ihre Wirkung, denn beide kehrten nach einigen Minuten wieder zufrieden auf ihren Platz zurück. Endlich war diese Folter dann auch einmal vorüber, nicht nur für mich, das Brautpaar hatte sich die ewige Treue und so weiter geschworen und geküsst.

Mühsam verließ der Tross, schwerfällig vom langen Stehen und Sitzen, den kühlen Kirchenraum. Hände wurden geschüttelt, Glückwünsche und Segensworte gesprochen, Schweißperlen wurden mit riesigen Stofftaschentüchern weggetupft.
Männer und Frauen in Südtiroler Tracht hatten ordentlich an der dicken Kleidung zu leiden. Das Zeug hielt dicht, in vielen Schichten, wie eine Zwiebel. Kittel und Schürzen, in Schwarz und Blau, Wamse und Joppen, Hosen mit breiten Trägern, in Rot und Grün. Ich träumte von meinen Jeans und einem lockeren T-Shirt, die einsam im Hotelkasten hingen. Und nach Laufen war mir. So ganz leicht, mich bewegen können, und das dumme Zeug da ausziehen und niemanden sehen, mit niemandem reden müssen.

Die Leute formierten sich langsam zum Festzug, und das Ganze wälzte sich also wieder retour, vorbei an der Diana und hinauf zum Hotel Belvedere. Halb eins. Und heiß. Mutter musste mit einem Taxi geführt werden, weil ihr schon wieder übel war. Vater fuhr gleich mit. Er hatte die ganze Zeit keine Miene verzogen, nur leise geschnupft, wie er es immer tat, wenn ihm was nicht geheuer war. Schließlich handelte es sich um die erste Hochzeit eines seiner Kinder, seiner Tochter, noch dazu seiner Lieblingstochter, die, die er aus erzieherischen Gründen mit zehn Jahren in ein SOS- Kinderdorf bei Graz gesteckt hatte und die wir zu Allerheiligen, knochendürr wegen Unterernährung und Heimweh, wieder nach Hause holen mussten. Aber das ist eine andere Geschichte. Damals mussten sie „Hoch auf dem gelben Wagen“ singen, wenn sie frühmorgens zur Schule gebracht worden waren. Das hat sie mir beigebracht, mit fünf. Seit dieser Zeit denke ich immer an „Hoch auf dem gelben Wagen“, wenn ich an sie denke. So ein Schmarren!

Ich hatte noch nie so eine große Festtafel gesehen wie jene in diesem Hotel. Dreiseitig, an der vierten Seite wegen des Eingangs offen und für die Kellner bequem zugänglich. Der Vater des Bräutigams, der wortkarge Förster, und unser Vater saßen sich gegenüber. Es wurde nichts gesprochen, was keinen überraschte. Sie saßen nur da und starrten vor sich hin. Unserer schnupfte, der ihrige seufzte immerzu jajajaja. Mutter und Muata waren da schon aus anderem Holz geschnitzt. Frauen unter sich. Das funktionierte ganz gut. Ich saß zwischen den Brüdern des neuen Schwagers, die auch nicht gerade eloquent schienen. Und wenn sie mal was sagten, dann verstand ich sie nicht. Aber ich tat so, als verstünde ich und lächelte immer, wenn sie, mir zugewandt, was zu melden hatten. Südtirolerisch ist eine Wissenschaft für sich.

Erst als ich in der Bar Diana Servierdienste leistete, lernte ich diese höchst merkwürdige Sprache. Doch davon später. Egal also. Man trank und aß und fotografierte und nahm den Kaffee und dazu die Torte und trank wieder und aß wieder bis zum frühen Abend. Mir war scheußlich fad. Doch dann aber wurde die Braut entführt, und es kam Leben in die Bude. Wir Jungen sollten sie suchen. Blöde Idee, aber bitte. Und damit kam ich offiziell auf den Plan. Wir Burschen sollten sie also suchen, ich und die Brüder des Bräutigams, und wir hatten die Zeche zu zahlen, die die entführte Braut mit ihren Entführern hinterlassen hatte. Überall da, wo sie, kurz bevor wir eintrafen, bereits wieder weitergeeilt waren. Die ganze Angelegenheit hätte mir ja wurscht sein können wie nur was, wäre da nicht plötzlich eine eigene Vespa gewesen, wie bereits erwähnt, in Orange, die man mir zu Suchzwecken zur Verfügung gestellt hatte. Ich blühte auf! Das war natürlich was für so einen gut behüteten vierzehnjährigen Knilch wie mich, mit so einem Ding da die Gegend unsicher zu machen! Und ich nahm mich natürlich dementsprechend wichtig, indem ich ordentlich Gas gab, nachdem mir der ältere der beiden Brüder rasch beigebracht hatte, wie ich mit der Karre da umzugehen hätte. Und ab ging die Post, auf steilen krummen Wegen Richtung Falzeben, Meran zweitausend, wie das Hochplateau heißt, gar nicht so einfach zu bewerkstelligen auf so einem Zweirad, über Knüppelwege und sandige Stellen und in Spurrinnen, auf denen man leicht zu Sturz kommen konnte.

Uns jedoch war nichts zu blöd und nichts zu schwierig, kein Weg zu steinig und keine Jausenhütte zu abgelegen, wie sich herausstellen sollte, die wir abfuhren, um dort das entflohene Ehegefährt zu suchen. Und ja, die hatten überall eine ordentliche Zeche hinterlassen, wo sie gewesen waren, fürwahr! Und sie waren immer schon weg, wenn wir ankamen.
Oschtia, fluchten die Burschen gotteslästerlich. Ich hatte auch dieses Wort nicht verstanden, ließ es mir aber im Laufe der nächsten Tage erklären. Ganz einfach, es bedeutete Hostie. Genauso häufig fluchten sie „Madonna“. Das kapierte ich schon eher. Und die beiden Knaben blätterten die Tausender, wenn auch zwar nur Lire, nur so hin, und weiter ging die wilde Jagd.

Mich ließ man nicht bezahlen, ich sei ja bloß ein Schülerlein. Ich hätte auch gar nichts gehabt, womit ich hätte zahlen sollen. Die Brüder aber gingen schon in die Lehre und hatten Geld dabei. Also suchten wir wie verrückt. Bis man die Ausreißer, die übrigens mit einem geländegängigen Auto unterwegs waren, gegen einundzwanzig Uhr gefunden hatte. Und damit war die Jagd für uns Jungen beendet, Gott sei Dank unfallfrei. Im Konvoi ging´s dann talwärts, über Stock und Stein, wie wir gekommen waren, aber weniger stressig als bei der Suche nach der gestohlenen Braut.

Als Oberdieb outete sich übrigens der Geschäftsführer des Hotels Belvedere. Wir erreichten rasch bekanntes Gebiet. Vor der Bar Diana stellte ich mit den anderen mein Fahrzeug ab. Alle nahmen noch einen Abschiedstrunk und verabschiedeten sich recht bald und sehr herzlich, man war zusammengewachsen durch die waghalsige Tour. Es war genug für einen Tag gewesen, ganz ohne Scheiß, wie der Deutsche zu sagen pflegt, auch für uns Jungens, die wir nicht geheiratet hatten und es auch noch lange nicht vorhatten.

Norbert Johannes Prenner

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Die Bar Diana

Aurouggla – Teil 1

Es herrschte heller Aufruhr im Hause, die Koffer waren gepackt, das Taxi stand mit laufendem Motor vor dem Haus, fehlten nur noch die Fahrgäste. Wenn zwei junge Menschen einander die Ehe versprechen, dann ist das schon ein bedeutendes Ereignis für alle Beteiligten, für die Eltern selbstverständlich, aber auch für die engeren Verwandten und ganz besonders für die Geschwister des Brautpaares. Die Schwester heiratet! Mir, als dem jüngeren Bruder mit meinen vierzehn Jahren eigentlich ziemlich wurscht, wenn nicht – wenn nicht die Hochzeit im Ausland gefeiert worden wäre. Genauer gesagt, in Italien. Obwohl – so sehr in Italien wieder auch nicht, nämlich in Südtirol, in einem kleinen Dorf oberhalb von Meran, welches Avelengo hieß und heute noch so heißt, zu Deutsch – Hafling. Dieses idyllische Dörfchen liegt auf dem Höhenzug des Tschöggelberges, den kennt doch jedes Kind, links der Etsch zwischen Meran und Bozen. Es ist ein bekanntes Schi- und Wandergebiet und, wie sich später für mich herausstellen sollte, auch ein interessantes Klettergebiet.

Westbahnhof Juli neunzehnhundertsiebzig. Der Transalpin wartet geduldig, bis wir den ganzen Plunder an Bord haben. Es gibt noch Dienstmänner mit hölzernen Leiterwagen, die das Gepäck auf den Bahnsteig transportieren, wenn ich mich jetzt daran erinnere, mit Mützen auf und Nummern dran, wie im Film „Hallo Dienstmann“, beinahe unglaublich. Bin ich wirklich schon so alt?, denke ich eben.
Na, Mutter ist hysterisch, sie hat schon lange keine Reise gemacht, noch dazu eine mit dem Nachtzug. Vater ist schweigsam. Ihm gefällt die ganze Sache schon von Anfang an nicht.
Und ich? Ich schaue mir die Gammler an, die ihren Armysack vor sich liegen haben und sich eine Zigarette drehen. So möchte ich auch einmal werden, denke ich. Einmal in die weite Welt hinaus, allein, ohne, dass einem die Alten andauernd dazwischenquatschen. Und so einen grünen Parka möchte ich auch gerne haben. Mit vielen Taschen dran, und sehr weit muss er sein, und ziemlich zerknittert. Nie darf man was! Ich arbeite dran. Immerhin habe ich schon längere Haare als die anderen Jungs in meinem Alter.

Der Zug fährt ab. Wir sitzen zu fünft im Abteil. Meine Schwester, ihr zukünftiger Mann, Vater und Mutter, ich. Um einundzwanzig Uhr verabschieden sich die Eltern, um in den Schlafwagen hinüberzugehen. Mutter macht Zicken, sie faselt was von schwindelig sein und so. Ich kann das nicht verstehen, ist doch aufregend alles, eben! Um zweiundzwanzig Uhr ist sie wieder da, die Mama, hysterisch wie zuvor, kann nicht schlafen und setzt sich zwischen uns.
So, jetzt haben wir alle auch keinen Platz im Abteil. Spinnst du, hat der Schwiegersohn in spe zu ihr gesagt, als sie mit der Decke bei uns aufgetaucht ist. Das hätte er nicht zu ihr sagen dürfen, ein Leben lang hat sie das nicht vergessen und uns immer wieder davon erzählt, obwohl wir die bedauerliche Geschichte bis zum Kotzen kannten.
Ich aber liege in meinem neuen Schlafsack unter der Sitzbank und bin glücklich. So wollte ich schon immer mal reisen. Wenn auch allein. Es geht zwar nicht nach Indien, aber immerhin, das Gefühl ist es, das es ausmacht, das Gefühl! Denn sonst – it quite doesn’t make it! Auf diesen kurzen Satz bin ich stolz, habe ich aus „Good morning, Vietnam“. Man muss eine Olive haben, für den Martini, auch dort, wo es völlig unmöglich ist, eine herzukriegen. Das ist cool!

Um sieben Uhr Früh erreichten wir Innsbruck, stiegen dort in einen Expresszug nach Rom um und erreichten nach nochmaligem Umsteigen einen der schönsten Kurorte der Welt – Meran. In diese Stadt habe ich mich sofort verliebt und denke stets mit Wehmut an ihre blühende Blumenpracht im Kurpark, an die riesigen, exotisch anmutenden Palmen an den steilabfallenden Südhängen, an die sie wie zum Schutz vor allzu neugierigen Blicken umgebenden Berge oder an die reißende Etsch, auf der wagemutige Kajakfahrer für die neugierigen Zaungäste auf den Brücken ihren kunstvollen Wellentanz vorführten.

Was für eine Stadt! Wenn ich mich umsehe, alles in allem ein fein geschliffenes Konglomerat aus knorrigen Eingeborenen in blauer Schürze mit vom Munde hängender Pfeife, das – aufgelockert durch die unverwechselbare Grazie anmutiger italienischer Mädchen in knappsten Hotpants mit wehendem Haar auf ihren knatternden Vespas – (die Vespa, beliebtestes Fortbewegungsmittel aller Altersstufen. Die Jungen fahren eine 50er, führerscheinfrei, die Alten alles ab 75 Kubikzentimeter bis 250. Die kann schon ein wenig flotter sein. Ich kriegte dort eine 50er in Orange ganz für mich allein zur Verfügung, sie gehörte dem Bruder meines neuen Schwagers. Aber davon später.) – äh, wo war ich stehengeblieben? Aja, – seine Gegensätze kaum vielfältiger und bunter hätte erscheinen lassen können. Ich konnte dieses Schauspiel kaum fassen und mich gar nicht daran sattsehen. Auch in späteren Jahren nicht.

Zwei italienische Taxis brachten uns über die Via Winkel, Winkelstraße, diese Bezeichnung hält mich bis zum heutigen Tag in ihrem sonderbaren Bann ihrer Bedeutung , zur Drahtseilbahn nach Avelengo, die, sehr zu meinem Bedauern, bereits vor mehr als zwanzig Jahren durch eine großzügig angelegte Panoramastraße ersetzt worden ist.
Unnötig zu bemerken, dass mit diesem Bau wieder einmal eine Menge Natur zerstört wurde. Der Schwager regelte das alles mit den Taxlern auf Italienisch. Ich fand das sehr mondän. Und erst das fremde Geld. Tausend Lire! Ich dachte weiß Gott, wie viel das wäre.
Damals kriegte ich hin und wieder fünf Schilling Taschengeld. Aus pädagogischen Gründen, wie der Herr Papa immer zu sagen pflegte. Schließlich musste er es wissen, er war ja schließlich einer, ein Pädagoge nämlich.

Mit dieser Seilbahn also ging es hinauf auf das dreizehnhundert Meter hoch gelegene Hafling, an deren Endstation ein niedliches Holzhäuschen stand, Wohnhaus und Gaststätte zugleich, mit großzügiger Veranda, bunten Sonnenschirmen und einer vollschlanken lachenden Wirtin darin, mit roten Bäckchen, nicht zuletzt die Besitzerin sogenannter Bar Diana und – zukünftige Schwiegermama meiner Schwester.

Da war auch gleich der Hausherr zur Stelle, Förster von Gnaden, eher wortkarg und zurückgezogen, aber mit listigem Witz ausgestattet, den er, wenn auch nur selten, dann aber treffend, auf seine Mitmenschen loszulassen verstand. Ich selbst wurde einmal Zeuge seines krausen Humors, als er deutschen Touristen eine Auskunft gab. Es war immer dieselbe Situation. In Intervallen von zehn Minuten spuckte die Bahn täglich zehn bis zwanzig deutsche Gäste aus, die, aufgekratzt wie sie nun mal sind, eine Minute später vor der Bar Diana versammelt waren und sogleich, wie auf ein geheimes lautloses Kommando, die Anweisungen auf den grünen Orientierungsschildern unisono zu lesen begannen: Wandern und Reiten auf Haflinger Pferden! Was wie folgt so klang, und bei allen immer gleich, nämlich: Wandan und Raitn auf Hafflinger Ferdn! (sic!) Nachdem, und obwohl sie auch das Schild „Wanderweg nach Falzeben – Gehzeit zwei Stunden“ gelesen hatten, fragten sie sicherheitshalber dann doch beim Oberförster einmal nach: Sie, guter Mann, wie lange läuft man denn da? Abgesehen davon, dass manche Bundesbürger Probleme mit dem Lesen hatten und anstatt „Falzeben“ „Fallersleben“ lasen, der Namen durfte ihnen offensichtlich irgendwie geläufig gewesen sein.

Seine Auskunft fiel also ungefähr so aus: Erst sah er prüfend in den Himmel, dann rückte er, um die Spannung zu erhöhen, seine Hose über dem Bauch zurecht, knöpfte den obersten Knopf seiner Weste zu und sagte schließlich, während die gehfreudigen Germanen schon langsam zappelig geworden waren, ja, wenn sie laufen wollen, und dabei machte er ein sehr ernstes Gesicht, dann sind Sie in einer halben Stunde dort. Da erhellten sich die Gesichter der Wartenden, denen man die ungeheure Spannung schon an ihren Falten ablesen konnte.
Danke, guter Mann, pflegten die Wandervögel dann überglücklich und sichtlich erleichtert zu antworten und schritten ohne Umschweife, durch die präzise fachmännische Auskunft dieses hervorragenden Kenners der Region in ihrer Absicht bestätigt, dieses Stück Land für sich vereinnahmen zu wollen, sofort tapfer drauf zu, stolz, sich mit einem Einheimischen so wunderbar verstanden zu haben. Erst als sie gegen siebzehn Uhr völlig aufgelöst und kraftlos, mühsam auf ihre Wanderstöcke gestützt, mit den praktischen Fahrradklingeln dran, zurückkamen, um gerade noch die letzte Bahn nach unten zu kriegen, beschwerten sie sich bei der Wirtin, sie wären drei Stunden gelaufen, und die Auskunft dieses Mannes da sei nicht korrekt gewesen.

Unerhört das, man verließe sich sonst auf solche Informationen, hieß es! Solche Wanderstöcke, auch Alpenstangen genannt, mit st, nicht scht, setzten die deutschen Gäste übrigens sehr gerne gegen die auf der staubigen Straße Richtung Falzeben oftmals allzu eiligen Vespa- oder Autofahrer ein, und hielten sie quer über die Fahrbahn, sodass die Fahrer jäh abbremsen mussten. Das führte immer wieder zu Ärger mit den Einheimischen, die ja nicht nur zum Vergnügen auf diesem Wege unterwegs waren. Man kann sich denken, dass sich die Touristen dadurch bei ihnen nicht gerade beliebt gemacht hatten und so kam es immer wieder zu handfesten Auseinandersetzungen, die auf der einen Seite mit „Scheißpiefke, stellt’s aus“, also weicht aus, oder „Geht’s holt oubn aufm Woldweag, eis Oaschlächa!“, (nicht übersetzbar) und auf der anderen Seite „Bloß nich’ so dolle hier, ja, jute Leutchen! Wir wolle’ hier staubfrei!“ ausfielen. Die erschöpften Touristen aber taten der Muata (Mutter), auch Moidl genannt, was so viel wie Maria bedeutete, nicht unbedingt immer leid und so lachte sie nur aus vollem Hals und wünschte ihnen eine gute Reise hinunter nach Meran.

Mein Gott, was habe ich dieses Idyll geliebt! Die Muata hatte mich sofort ins Herz geschlossen. Und mehr noch, als ich mich nicht nur bloß als unnützer Fresser, sondern obendrein noch als geschickter Maler und Erneuerer der Hausfassade erwies. Dieser traditionelle Tiroler Blockbau hatte nicht zuletzt zahlreiche kunstvoll geschnitzte Holzsäulen an den verschiedensten Ecken vorzuweisen, sondern auch unzählige Fensterläden und jede Menge anderes Holzzeug, das nach frischem Lack verlangte. Mir war ohnehin langweilig und so hatte ich eine würdige Beschäftigung gefunden, indem ich lustig den Pinsel in Grün und Weiß tauchte, um dieses höchst ehrwürdige Denkmal bodenständiger Alpen-Architektonik so gut ich es verstand zu verschönern. In diesen Dingen bin ich ziemlich geschickt. Die Muata honorierte meine Arbeit nicht allein durch Lob, sondern ließ sich auch nicht lumpen und steckte mir in nicht allzu langen Intervallen immer wieder Zwei- oder Drei- oder Fünftausend-Lire-Scheine zu, für mich damals eine unglaubliche Menge Geld, welches ich in diversen Jeansboutiquen oder Buch- und auch schon mal Tabakläden in Meran sinnvoll anzulegen verstand.

Nach getaner Arbeit am Vormittag und einem opulenten Knödel-Mahl pflegte ich mich mit meiner Lektüre und einer Lesepfeife in Huckleberry-Finn-Manier in den im schattigen Garten des Anwesens aufgestellten Liegestuhl niederzutun und Karl May zu lesen, vorwiegend jene Romane, die im Morgenland und auf dem Balkan handelten, und zu denen mein Tschibuk also besonders gut zu passen schien, auch wenn mir beim Rauchen dieses filterlosen Kokshammers höllisch die Zunge brannte und mich ein trockener Husten quälte, so als hätte ich schon Tuberkulose.
Die eben erwähnte traditionelle Knödelspeise pflegte man hierorts jeweils in zweierlei Gestalt zu nehmen, einmal zu Wasser, also in der Suppe, und andererseits zu Land, etwa mit Geselchtem oder Gemüse. Dass es sich dabei um Speckknödel handelte, muss für Kenner der Region wohl nicht extra erwähnt werden.
In diesem Liegestuhl ward das Träumen geboren. Wenn ich heute die Augen schließe und mir vorstelle, wie das denn gewesen sei, dann fühle ich vorerst einmal die Sommersonne, wie sie unbarmherzig auf mich herabbrannte. Schließlich wollte ich eine knackige Farbe mit nach Hause bringen. Wenn ich es schaffte, angestrengt durch die engen Sehschlitze meiner Augen die Helligkeit des Lichts zu durchdringen, dann sah ich unter mir die Stadt in sirrendem Dunst liegen, ihre Silhouette in diffuses Licht getaucht. Dahinter die blauen Berge Richtung Mailand.

Noch schöner und fantasieanregender im Licht der frühen Abenddämmerung. Diese Stimmung trug ganz besonders dazu bei, mein Fernweh aufs Äußerste zu strapazieren, und ich sah mich schon mit Schlafsack und Gitarre auf dem Rücken in Richtung Rom unterwegs und dann nach Marokko und eben dorthin, wohin die damaligen Hippies in diesen Jahren normalerweise zu reisen pflegten. Das hatte ungeheuren Nachahmungscharakter, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Mich brennt’s in meinem Reiseschuh, hatte ein Freund damals gesagt. Und schon wurde er per Interpol in halb Europa gesucht. Dort war er aber nicht. Schließlich wurde man seiner in Delhi fündig, und er wurde auf Intervention der Österreichischen Botschaft nach Hause zurückgebracht.
Auf diese Weise wollte ich nicht   e n d e n !   Obwohl – aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht komme ich darauf noch einmal zurück. Aber vorerst musste ich einmal hier bleiben, trotz meiner Grundausstattung für Tramper, mit der ich schon einmal probeweise angereist war, unter elterlichem Schutz und deren Obsorge, untergebracht im vornehmsten Hotel vor Ort, dem Belvedere. Im großen Saal dieses Hauses sollten dann ja auch schließlich die Hochzeitsfeierlichkeiten stattfinden. Das Hotel stand direkt am Ende des Felsmassivs, welches geradewegs nach Meran hinunter abfiel. Eine Art Adlerhorst, so wie ich es empfand und genoss.

Von da an wusste ich, ich würde nur mehr an erhöhter Stelle wohnen, weil der Blick von oben immer erhabener ist als der von unten hinauf.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16081




Aufgedeckt

Mitte der Woche im Café Bräunerhof. „Junger Mann“, fragte Carl Hofbauer den Kellner, „wo ist denn der Franz heute? Dienstfrei, oder was?“ Der Kellner kam langsam näher, mit einem Geschirrtuch ein Weinglas polierend. „Ja, wissen Sie nicht?“, fragte dieser mit ernster Miene. „Was ist passiert?“, Carl richtete sich neugierig auf. Der Kellner schluckte und räusperte sich, beinahe wie ein Prüfling, dann begann er stockend: „Am vergangenen Freitag – es war schon spät, da ist er gestürzt. Dort, beim Abgang – über die Treppe. Er hat noch gelacht. Zuerst haben wir geglaubt, es ist eh nichts. Aber dann – der Hofrat Meier war noch da – wir haben ihm aufhelfen wollen, aber er hat so gejammert, dass der Meier gesagt hat, da kann man nichts machen, und ich soll die Rettung anrufen. Das hab ich auch gemacht. Die sind gleich da gewesen – Oberschenkelhalsbruch, hat der Arzt gemeint. Sie haben ihn ins AKH gebracht.“ „Aber!“, sagte Carl und schüttelte mitleidig seinen Kopf. „Gestern früh – hat seine Nichte angerufen. Der Herr Franz – ist in der Nacht auf Sonntag – verstorben. Lungenentzündung dazubekommen und …“
„Was?“ Carl erhob sich ganz langsam von seinem Sitz. „Was sagen S’?“ Carl starrte ins Leere. „Unser – Ober – Franz?“, flüsterte er, und setzte sich ebenso langsam wieder, so, als wäre er plötzlich um Jahrzehnte gealtert. Der Kellner trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Bringen Sie mir bitte – einen Kognak, Herr Rudolf!“, bat Hofbauer sanft, und starrte vor sich hin. „Sehr wohl“, antwortete der Ober und eilte davon, sichtlich erleichtert, von seiner unangenehmen Aufgabe entbunden zu sein.

Zwei Tage später. Josefstädterstraße, Ecke Stozzigasse. „Na alsdann! Jetzt hammas!“, rief Trafikant Hofer aufgeregt, als einer seiner Kunden eben um die Ecke bog, geradewegs auf Hofer zu.
Der konnte gerade noch ausweichen. „Na hallo, hallo!“, rief dieser erschrocken, „Sie rennen mich ja glatt über den Haufen, lieber Herr! Bleiben S’ ruhig! Wie is’ Ihna denn? Regn S’ Ihna net so auf!“
„Na hören Sie, jetzt, wo vielleicht die Russen wieder kommen, soll ich mich nicht aufregen?“
„Wer sagt denn, dass die Russen gleich kommen? Sie, übertreiben S’ nicht! Nur weil sich einer von denen nach Retzbach verflogen hat“, lachte Herr Huber.
„Also Ihren Humor möcht’ ich haben! Damals, im Sechsundfuffziger, da hat’s auch so begonnen. Und schon waren wir an der Grenze. Wissen Sie, was ich meine? Mobil gemacht haben wir. Heute Morgen – die aktive Truppe ist sofort in Alarmbereitschaft gesetzt, haben S’ das nicht gelesen? In den Kasernen ist alles abmarschbereit!“
„Ja, schon – aber, schau’n Sie, wir müssen uns ja ein bisserl wichtigmachen, sonst glauben die womöglich, es ist uns eh alles gleichgültig, wir sind ja ohnehin neutral, nicht? Natürlich müssen wir ein bisserl mit dem Säbel rasseln, aber doch nur zum Schein. Was wolln S’ denn mit unsere paar Mandln? Die Rettung können S’ hin schicken. Vielleicht gibt es ein paar Verletzte oder so. Aber glauben Sie mir, Herr Hofer, bei unserem Status, international gesehen versteht sich, traut sich kein Russ ungestraft über den Zaun spucken. Darauf können S’ Gift nehmen!“

Über diese unverschämte Relativierung blieb Hofer beinahe die Luft weg vor Empörung. „Ja sind Sie noch bei Trost? Ah, Sie glauben, wir haben unser Heer nur zum Spaß, was? Da oben ein bisserl die Geräte durchlüften fahren, oder? Schauen, dass uns der Kader nicht verrostet, wie? Sie möcht ich sehen, wenn Sie alles zusammenpacken müssten, warten Sie nur! Wie damals, im Vierundvierziger! Unsere Bundesregierung weiß sehr gut, was zu tun ist, glauben Sie mir! Das war ganz richtig, dass man die Soldaten hinschickt. Und nicht nur zum Repräsentieren! Merken Sie sich das!“

Huber musste schmunzeln. Er wollte den Hofer ja nicht unnötig strapazieren, also lenkte er reuig ein: „Sie haben ja Recht. Es ist empörend, was sich die Russen da wieder geleistet haben. Die Welt hat über Nacht ihr Gesicht verändert, wirklich! Unter diesem Eindruck – dieser, dieser Invasion – kann man nur erstarren. Ein Überfall ist das!“, sagte er. „Ein Überfall, sehr richtig!“, bestätigte Hofer.
„Wer hätte das gedacht?“, fragte sich Herr Huber, „jetzt haben sie uns den Zeiger der Geschichte wieder um zwölf Jahre zurückgedreht, könnte man meinen.“
„So is’ es!“, sagte Hofer und presste resigniert seine Lippen aufeinander, wobei sein stacheliges Kinn, mit den weißen Bartstoppeln, ein wenig zitterte.

„Wieso hat denn der Breschnew jetzt auf einmal so die Panik?“, fragte der Trafikant, „ich denk, durch wen will er denn den Dubcek und den Svoboda ersetzen?“
„Weiß nicht“, sagte Herr Huber, „das alles hat so den Modergeruch einer Scheinheiligkeit, dem Einmarsch eine gewisse Legalität verleihen zu wollen. Das kennen wir ja zur Genüge aus Moskau. Wir zwei sind ja lange genug auf dieser Welt, gell, Hofer?“
„Ja, ja! Und ich hab gedacht, dass der Kommunismus in den letzten Jahren vielleicht ein bisserl menschlicher und liberaler geworden ist. Einen Schmarren, lieber Herr Huber! Denen ihre Schwäche stützt sich immer noch auf Panzer und Kalaschnikows! Stimmt’s oder hab ich Recht, Herr Huber?“ Huber wiegte nachdenklich sein Haupt und beobachtete einen Hund, der soeben auf dem Gehsteig sein Geschäft verrichtete, während sein Frauerl völlig unbekümmert in die Luft blickte.

„Und wer wird die Sauerei da wegräumen?“, schrie  Huber sie völlig unerwartet an.
Die Hundebesitzerin zuckte erst zusammen, fasste sich aber sofort und konterte: „Kümmern Sie sich gefälligst um ihre eigenen Sachen, Sie Wichtigtuer!“, und zog mit ihrem Hund ab.
„Also Leut’ gibt’s!“, empörte sich nun auch der Trafikant.

Huber war fassungslos. „Unerhört, was?“, meinte er zu Hofer, „und unsereins steigt dann hinein! Die Josefstadt – total verschissen, Hofer! Ein einziges Hundeklo! Und die Politiker schau’n nur blöd. Machen tun sie nichts dagegen. So was! Aber – ich hab gehört, in Prag und Pressburg schießt man auf Zivilisten. Jetzt kommt’s natürlich darauf an. Sie haben ganz Recht gehabt vorhin, ich seh das ja auch so. Wir müssen jetzt eine entschlossene, besonnene und auf die Bewahrung der Unabhängigkeit und Neutralität ausgerichtete Haltung einnehmen. Ganz klar! Dass die alles vorbereiten, was zur Tradition unseres neutralen Landes gehört, damit alles gewahrt bleibt, Sie verstehen, auf dem Gebiet des Asylrechtes und der Hilfsbereitschaft, ist ja in Ordnung. Das wird immer allzu leicht vergessen, wissen Sie? Und einigen ist das überhaupt egal! Gott sei Dank gibt’s noch Grenzen und Zäune, was?“

Hofer nickte. „Natürlich erwarten wir, dass unsere Leute drüben in Sicherheit sind. Oder dass man ihnen ihre Ausreise ungehindert gewährleisten muss, nicht? Und wir mischen uns dafür eben nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten. So ist das!“
„Ja“, sagte Hofer, „wir schauen nur zu.“ Huber sah ihn für kurze Zeit verständnislos an. „Na, was wollen Sie denn dagegen machen?“, fragte er. „Ja, eh!“, meinte Hofer.
Sie gingen langsam in Richtung Trafik. „Ich muss wieder. Mein Herr Sohn da drinnen wird schon nervös sein, weil ich so lange weg bin“, lachte Hofer. „ Ja? Na, hoffentlich hat der sowjetische Hubschrauberpilot wieder zurückgefunden, sonst wird er ein paar Schwierigkeiten kriegen“, meinte Herr Huber abschließend, „und es geht ihm so wie den verschleppten Reformkommunisten – ab nach Sibirien!“, lachte er, „in guter alter Kommunistenmanier! Ha ha!“

Vor dem Verteidigungsministerium am Franz-Josefs-Kai hielt eine schwarze Mercedes-Limousine. Der Chauffeur, in Heeresuniform, niedrigere Charge, kaum dreißig, war bemüht, so rasch er konnte auszusteigen, um das Fahrzeug herum zu eilen und blitzschnell die rückwärtige rechte Türe aufzureißen. Haltung angenommen, mit der Rechten zackig salutierend. Aus stieg ein graumelierter Mittfünfziger im Range eines Oberst, der lässig dankte, indem er mit zwei Fingern an den Rand seines Kappenschildes tippte und, eine schwarze Ledermappe unter den Arm geklemmt, die Treppen zum Ministerium hinaufschritt. Der Chauffeur war inzwischen längst wieder eingestiegen und um die Ecke in Richtung hauseigener Garage abgebogen.

Der Oberst bestieg den Paternoster und fuhr in den dritten Stock, die Ebene des Ministerbüros. Zwei Ordonanzen schlugen die Hacken zusammen. „Geh’n S’, melden S’ mich dem General“, nasalierte der Oberst gelangweilt einem von beiden zu. „Jawoll, Herr Oberst!“ Er machte kehrt und klopfte an die hohe Zweiflügeltür. „Herrrein!“, hörte man von drinnen. Der Gefreite trat ein. Hörbares kurzes Gemurmel. Der Gefreite kam wieder heraus auf den Flur. „Der General lässt bitten, Herr Oberst!“, schnarrte er, Nase nach oben, Blick gerade aus, Kopf in den Nacken geworfen. „Is’ scho’ recht, junger Mann“, antwortete der Oberst und trat ein.
Man hörte Absätze aneinanderknallen. Drinnen: „Servus Ferdinand! Was ist? Wo brennt’s?“, fragte der General seinen alten Freund. „Servus. Wie geht’s dir? Hast was g’hört vom Schorschi? Der Gute ist angeblich geschieden, hab ich gehört. So eine liebe Frau, die Hanni. Na, ich sag’s ja, so eine Ehe ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.“ „Na, das kannst laut sagen. Und du, sag einmal, wo warst du denn am Samstag? Warum bist nicht nach Baden gekommen? Die Partie war doch lange ausg’macht?“ „Weißt, Fritz, ich war ein bisserl derangiert, vom Freitag noch. Roulette mit dem Oberstleutnant Langstein, du weißt schon, der von der Sophie“, antwortete der Oberst. „Die hübsche Blonde? Die Tochter vom Konsul Müller?“
„Ja, genau die! Siehst du, das merkst du dir“, lachte der Oberst und sah sich im Zimmer ein wenig um. „Noch ist ja nicht alles verloren mit dir, ha ha! Willst mir nichts anbieten, Fritz? Ich hab so eine Migräne! Den ganzen Tag über schon.“
„Verzeih bitte meine Unaufmerksamkeit. Aber hier herinnen – da vergisst sehr schnell deine gute Kinderstube, verstehst? Was willst denn haben? Ich kann die Ordonanz um ein Sekterl in die Kantine schicken, wenn’s d‘ magst?“ „Geh, das wär lieb von dir. Bitte, ja?“

Der General klingelte. Es klopfte. „Herein!“ Der Gefreite von vorhin nahm Haltung an, Kopf nach hinten, in Erwartungshaltung. „Sind S’ lieb, und gehen S’ mir in die Kantine zur Frau Prihoda. Ich lass um einen Pommery bitten, brut, wenn sie hat. Und – lieber Freund, nehmen Sie bitte zwei Sektglasl mit, ich hab ja gar nichts da derzeit!“ Der Gefreite krächzte sein „Jawoll“ und eilte davon.

„Setz dich doch, Ferdi. Erzähl! Was ist? Wenn du schon einmal da aufkreuzt, gibt es sicher einen besonderen Anlass, stimmt’s?“, forderte ihn der General auf. „Da hast auch wieder Recht. Pass auf, es gibt da eine unangenehme Sache, mit so einem Zeitungsreporter. Hat sich mit internen wehrpolitischen Angelegenheiten befasst. Kein Mensch weiß, woher er die Informationen hat. Jetzt ist die Sache nun einmal draußen und der Minister hat Wind davon bekommen. Ich will ja nix sagen, aber wenn’s d ’ mich fragst, steckt der mitten drinnen in dem Schlamassel“, erklärte der Oberst. „Was du nicht sagst?“, tat der General erstaunt. „Und worum geht’s eigentlich? Hat er sich was zu Schulden kommen lassen?“, fragte er. „Bis jetzt noch nicht. Aber wer weiß? Rein vom Gefühl her würd’ ich sagen, es riecht nach Landesverrat.“
„Für den Minister?“
„Nein, für den Journalisten“, betonte der Oberst.

Es klopfte. Die Ordonanz brachte Sekt und Gläser auf einem silbernen Tablett. „Bitte sehr, Herr General. Und die Frau Prihoda lässt schön grüßen und schickt eine paar Sachen zum Knabbern mit!“, sagte der Gefreite und stellte Getränke, Gläser und ein Schüsselchen mit Salzgebäck artig auf einen kleinen Tisch vor der alten Ledercouch. „Jö, dös is’ aber lieb von ihr. Na, ich geh dann eh noch rüber. Zigaretten sind mir auch ausgegangen. Ich dank schön, junger Mann. Können S’ wegtreten“, sagte der General. „Jawoll, wegtreten!“, wiederholte der Soldat zackig, und war zur Tür hinaus.

„Schau, Ferdi! Is’ sie nicht lieb, die Prihoda? Die mag mich ein bisserl, das hab ich eh schon lang bemerkt. Hübsch is’ sie auch noch. Nicht mehr ganz jung, aber knackig! Was, Ferdi?“ Der General kicherte. Der Oberst zündete sich eine Zigarette an.
In der Zwischenzeit machte sich der General am Korken des Pommery zu schaffen. Es knallte. Vorsichtig füllte er beide Gläser, ein jedes nur bis zum ersten Drittel. „Prost Ferdi!“ „Prost Fritz!“ Das erste Glas tranken sie ex. Dann wurde nachgeschenkt. „Also, was is’ jetzt mit dem Journalisten?“, wollte der General weiter wissen. Der Oberst blies den Rauch lässig aus seinem Mundwinkel in die Luft. „Schau, Fritz. Im Arsenal wollen sie die alten amerikanischen Geschütze loswerden. Du weißt schon, die alten SM 43iger. Das hab ich auch schon länger gewusst.“ „Wer tritt als Verkäufer auf?“, fragte der General. „Das is’ es ja eben. Ich weiß es nicht, und das Mil-Kommando weiß auch von nix. Mir kann das ja gleich sein wie nur was. Trotzdem! Blöd is’ nur, dass irgendein Informant aus unseren Reihen die G’schichte an die Journaille weitergegeben hat. Und ich soll das untersuchen. Als ob unsereins sonst nichts zu tun hätte.“ „Also wirklich! Wozu haben wir denn den Abwehrdienst? Sollen die sich doch damit die Finger verbrennen.“

Der General sah eine kurze Zeit zum Donaukanal hinunter und beobachtete ein vorbeifahrendes Ausflugsschiff. „Dort an Deck, in der Sonne liegen, Ferdi, das wär jetzt fein, wie?“, sagte er. „Fahrt eins vorbei?“, fragte der Oberst. „Ja! Die Vindobona. Kann man halt nix machen. Prost, Ferdi! Um halb vier geh ich, dass steht fest. Was willst du jetzt machen?“ Der Oberst ließ sich den Champagner schmecken und meinte dann schließlich: „Na ja, ich werd einmal im Planungsstab fragen, wer ihrer Meinung nach eventuell infrage kommen könnte, tät ich einmal sagen.“ „Sehr richtig!“, bestärkte ihn der General, „ich glaub, das ist das G’scheiteste. Und die sollen das an das Kommando melden und der Rest, Ferdi, der wird sich schon finden, nicht wahr?“ „Hoffentlich ist das so einfach, wie du dir das vorstellst. Wenn der Minister drinnensteckt, dann möchte ich nicht in seiner Haut …“ Der Oberst stockte. „Hört man uns da draußen?“, fragte er. „Geh! Wie kommst denn da drauf? Sind ja alte Türen. Die halten dicht!“, lachte der General.

Es konnten drei Wochen vergangen sein, auch vier. Dienstagvormittag. Sollten die Blicke zufällig auf den Parkettboden vor Hans Kleins Bett in dessen Schlafzimmer gefallen sein, ließen sich hier ganz leicht offensichtlich hastig ausgezogene, weibliche Kleidungsstücke erkennen, wie etwa eine eilig hinabgerollte Strumpfhose, in Manier einer Schlangenhäutung, mit dazugehörigem Slip samt Einlage, eingebettet in ausgewaschene Jeans, einem friedlichen Nest gleich, aus dem soeben geschlüpft worden war, wobei sich das Küken offensichtlich direkt in das geräumige Doppelbett des Herrn Klein verirrt hatte. Daneben kleinnummrige Tennisschuhe, nicht mehr so ganz blütenweiß, aus Leinen, nebst einem knallgelben T-Shirt mit Mick-Jagger-Kopf -Aufdruck, unter dem die Worte standen „Make Love, Not War!“
Über dem Bett hing ein vielversprechendes Plakat mit einer spärlich angezogenen jungen Dame darauf, auf dem gleichfalls ein Spruch stand, allerdings etwas länger als jener auf dem T-Shirt: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment! Daneben hing ein Plakat mit der Silhouette des Kopfes von Che Guevara. „Sag mir, dass du mich liebst!“, säuselte eine verschlafene Stimme neben Hans Kleins Ohr. Klein zog die Bettdecke über seinen und den Kopf des jungen Mädchens. „Jaaa! Total, echt!“, seufzte er, woraufhin seine Hände offensichtlich erfolgreich, im Schutz der Daune, nach ganz bestimmten Stellen ihres verführerischen Körpers zu suchen begonnen hatten, wie mühelos den anfangs noch hysterisch quietschenden, schon bald aber sich eher lustvoll steigernden Seufzern der jungen Dame zu entnehmen war, die sich nach und nach unter Kleins infernalisches Bariton-Geächze zu mischen begonnen hatten.

In der Folge entstand bald darauf ein Gewühl, welches in scheinbar qualvoll ansteigender, dann auch wieder abfallender Intensität Ekstase signalisierte, die wohl eine gute dreiviertel Stunde oder auch länger gedauert haben mochte, als plötzlich die Türglocke schrillte. „Wer is’n das?“, wunderte sich Klein und hielt in einer eben erst heftig ausgeführten Bewegung jäh inne. „Bitteee!“, hauchte die Stimme unter dem Bettzeug flehend, „nicht aufhören – jeeetzt!“ Hans wurde unruhig. Es läutete abermals. Diesmal länger. „Verdammt!“ Hans kroch aus dem Bett, raffte seinen Schlafrock zusammen, schlüpfte ungeschickt hinein und eilte ins Bad. Draußen läutete es wie verrückt. „Aufmachen! Herr Klein? Sind Sie zuhause? Machen Sie auf! Staatspolizei! Öffnen Sie!“
Dann wurde an die Tür gepocht. Wieder schrillte die Glocke. Hans wurde mulmig in der Magengegend. Was wollte die Staatspolizei bei ihm? Weswegen? Falschparken konnte es nicht sein. Ausgeschlossen! Hans eilte zur Tür. Die Polizisten trommelten wie verrückt. „Ja, ja! Ich komm ja schon. Sie schlagen ja die Tür ein!“, rief Hans und öffnete. „Sind Sie Johann Klein?“, fragte ein Staatspolizist in Zivil. „Ja, ja. Bitte?“ „Zieh’n Sie sich an! Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor!“ „Was?“ „Fragen S’ nicht lang, zieh’n sie sich an und kommen S’ mit!“, sagte der Beamte forsch. „Sofort, gleich“, antwortete Hans leise und lief ins Schlafzimmer. „Annemarie! Ich bin verhaftet!“, keuchte er und zog sich hastig die Hose an. „Spinnst du, oder was?“, fragte das Mädchen, wobei sie Hans ungläubig ansah. „Los! Aufstehen. Komm, komm, komm! Du musst weg!“

Hans hatte nicht bemerkt, dass die Beamten längst im Flur standen. Es klopfte an der Schlafzimmertüre. Die beiden fuhren erschrocken zusammen. „Hausdurchsuchung! Wer sind Sie denn?“, fragte der mit der Igelfrisur. „Annemarie …“„Sind Sie die Gattin?“ „Äh, nein …“, „Aha! Dann raus, aber ein bisschen dalli, ja?“ „Ich geh ja schon“, sagte Annemarie verstört und zog sich hinter dem Kleiderschrank an. „Darf man fragen, wie alt Sie sind, Fräulein?“, fragte derselbe noch einmal. „Neunzehn“, antwortete Annemarie. „Da schau her! Haben wir einen Ausweis dabei?“ „Ja, ja, sicherlich. Studentenausweis. Hier!“ Sie reichte dem Polizisten den gelben, leicht zerknitterten Karton. Dieser warf einen Blick drauf. „Na, zum Studieren kommen Sie wohl nicht so viel, was?“, bemerkte der Beamte zynisch, und gab ihr den Ausweis zurück. Sie verabschiedete sich von Hans und schlug die Tür hinter sich zu. „Fertig, Herr Klein?“, fragte der mit der Igelfrisur. „Ja.“ „Dann setzen Sie sich einen Augenblick hier hin. Wir machen jetzt eine Hausdurchsuchung“, sagte er und zeigte Hans den schriftlichen Befehl. „Das können Sie nicht machen! Das ist ja unerhört!“, rief Hans und sprang auf. „Sitzenbleiben, sonst lernen S’ mich kennen! Wir können auch ganz anders, verstehen Sie, lieber Herr?“, drohte der Polizist.

Gleichzeitig begannen vier Beamte, Kleins Wohnung von unten nach oben zu durchwühlen. Schubladen wurden herausgezogen, Papiere durchforstet, Schränke geöffnet und untersucht. Hin und wieder landete ein Schriftstück in einem mitgebrachten Karton. „Ah, da schau her! Der Herr Redakteur liest Playboy und solche Sachen!“, lachte einer von ihnen. „Seit wann kann man denn das lesen?“, scherzte ein anderer. Hans kochte innerlich vor Wut. Aber es half nichts. Da musste er durch. Nach einer halben Stunde waren sie offensichtlich fertig. „Nichts zur Sache gefunden, Herr Major!“, meldete einer der Polizisten. „Gut. Herr Klein, wir können gehen!“

Sie versperrten die Türe, und verklebten sie mit einem Siegel. Vis-à-vis steckte die Nachbarin neugierig den Kopf zur Türe heraus. Hans schnitt ihr eine Grimasse. Dann gingen sie die Treppen hinunter zu den Fahrzeugen, die am Gehsteigrand parkten. Hans Klein wurde auf einen Rücksitz geschubst, links und rechts je ein Beamter, wie bei einem Schwerverbrecher. „Vielleicht legen Sie mir noch Handschellen an, was?“, ärgerte er sich. „Können S’ haben, wenn Sie wollen“, sagte einer von ihnen ruppig, „ich hab rein zufällig welche dabei!“ Dann fuhren sie ab.

Etwa zur selben Zeit in einer Kaserne im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Ein VW-Variant Kombi der Militärstreife näherte sich dem Wachposten. Ohne besondere Formalitäten ging der Balken hoch. Der diensthabende Wachsoldat stand stramm und salutierte. Das Fahrzeug führ in den rückwärtigen Hof der Kaserne und hielt an jenem Platz, wo zwei militärgraue Blechbaracken standen. Zwei Polizisten stiegen aus. Weiße Schirmmützen, weiße Lederriemen und Pistolentaschen, Armbinden der Militärstreife – und gingen in die zweite Baracke. Der dort sitzende Korporal vom Dienst sprang wie von einer Tarantel gestochen auf. Eine Kaffeeschale auf seinem kleinen Tischchen kippte um. Der Kaffee ergoss sich auf die Standesliste und tränkte sie gelbbraun. „Melde – Wehrmann Dunst als KVT – 2. Kompanie, 1. Zug“, stotterte der junge Waldviertler, dem allein schon beim Anblick der Militärpolizisten die Luft weggeblieben war, ganz zu schweigen von den Geschichten, die sich um die Militärstreife rankten, und von denen er gehört hatte. „Alle auf ihren Dienststellen – bis auf den diensthabenden Unteroffizier!“, fügte er hinzu, kreidebleich.

Einer der beiden Polizisten grinste. „Jetzt können S’ die Listen noch einmal schreiben, was?“ Der Rekrut war verunsichert. Sollte er lächeln? Oder gar schon bequem stehen? Nein, er blieb bei seiner starren Haltung. Man konnte ja nicht wissen. „Wo ist der Spieß?“, erkundigte sich der andere. „Hinten, in der Kanzlei“, verwies ihn der Soldat, schon etwas erleichtert. Der Polizist bedankte sich. Sie gingen nach hinten. Offizierstellvertreter Weiß hatte sie kommen hören und stand schon auf dem asphaltierten Flur. Auch er grüßte sofort militärisch, etwas verunsichert vielleicht, und nicht ganz so zackig wie der Jungmann hinter seinem Tisch, aber immerhin. „Kommt’s ihr zu uns?“, fragte er auch gleich, um ihnen zuvorzukommen. „Servus, Weiß“, grüßte der eine, „ist der Oberleutnant Kosazky anwesend?“ „Ach der, nein. Soviel ich weiß, müsste er in seiner Dienststelle sein. Aber wart einmal, der hat heute OVT. Die Übergabe ist jetzt um halb. Eigentlich sollte er schon da sein. Ich schau gleich.“

Weiß lief zum letzten Zimmer der Baracke, drehte aber gleich wieder um, denn plötzlich war ihm eingefallen: „Er war ja im Ministerium heute, das weiß ich bestimmt!“, teilte er ihnen mit, völlig außer Atem. „Danke“, sagte der eine, „warten wir eben hier bei dir auf ihn. Gibt’s einen Kaffee?“ „Kaffee? In der Küche. Ordonanz!“, brüllte er auf den Gang hinaus, „Dunst, Sie Depp! Holen S’ zwei Kaffee aus der Kantine. Und ja nichts ausschütten! Verstanden?“ „Jawoll!“ Der junge Mann eilte über den Kasernenhof in Richtung Küchengebäude. „Was? Den aus der Blechkanne? Habt’s ihr keine Espressomaschine da?“, fragte der Oberwachtmeister enttäuscht. „Tut mir leid! Ist nicht bewilligt worden. Unser Chef hat eine beantragt. Aber – ist leider nicht bewilligt worden.“ „Vielleicht ist er nicht gut angeschrieben beim Wirtschaftler?“, lachte der Polizist, „euer Oberstleutnant? Wundern tät’s mich nicht, was, Eder?“ Der andere nickte verständnisvoll und grinste.

Offizierstellvertreter Weiß hob nur seine Schultern und machte eine Miene, als ob er überhaupt nicht wüsste, was die beiden meinten. In diesem Augenblick ging die Türe zur Baracke auf. Oberleutnant Kosazky eilte in Richtung Dienstzimmer den Gang entlang. Als er an der Kanzlei vorbeikam, verstellten ihm plötzlich die zwei Militärpolizisten den Weg. „Oberleutnant Kosazky?“, fragte der eine. „Ja?“ „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie …“, der Vizeleutnant stockte, er räusperte sich, „verzeih’n Sie, Herr Oberleutnant, wir haben Befehl, Sie mitzunehmen.“ Kosazky zog die Brauen hoch. „Was sagen S’ da?“ „Wir müssen Sie – äh, in Gewahrsam nehmen und dem Generalmajor Hohenegg vorführen.“ „Und darf ich auch erfahren, worum’s geht?“, fragte der Oberleutnant, sichtlich nervös. „Tut mir Leid. Das wollen Ihnen die Herren selber sagen. Ersuche höflich, dass Sie Ihre Sachen gleich mitnehmen. Und …“, er griff nach Kosazkys Aktentasche, „die muss ich leider beschlagnahmen. Vorschrift!“

Offizierstellvertreter Weiß stand hinter den beiden Militärstreifenpolizisten und hob und senkte in einem fort seine Schultern, so, als wollte er bedauern und zeigen, und dass er nichts dafür konnte, und dass alles so plötzlich gekommen war. Kosazky warf seinen Kopf stolz in den Nacken und wollte seinen Weg in Richtung Dienstzimmer fortsetzen. Die beiden Polizisten folgten ihm. „Sie warten hier!“, befahl er streng, „das wär ja noch schöner.“ Die beiden schreckten zurück. „Komm, Eder, wir trinken derweil den Kaffee“, sagte der Vizeleutnant gedämpft. Sie kehrten um. Soeben brachte Wehrmann Dunst zwei Tassen Kaffee. „Bitte sehr!“, sagte er und stellte sie auf den Schreibtisch. Weiß wollte protestieren, da saßen die Polizisten bereits am Tisch und bedienten sich. „Dankeschön, junger Mann!“, sagte Oberwachtmeister Eder. Der KVT kehrte zufrieden wieder an sein Tischchen zurück, und versuchte umständlich, das durchtränkte Standesführungsblatt zu trocknen. Schließlich war Kosazky zum Abmarsch bereit. „Gehen wir!“, sagte er trocken.

Die Militärstreifen-Männer hatten ausgetrunken und erhoben sich. Gemeinsam gingen sie nach draußen, wo das Fahrzeug stand. Eder schaltete das Blaulicht ein. „Drehn S’ das ab!“, befahl Kosazky, „wir sind ja hier nicht in Chicago!“
Nachdem die Wohnung Oberleutnant Kosazkys ebenso durchsucht worden war wie die des Redakteurs Hans Klein, kam es einige Wochen später im Straflandesgericht bereits zu ersten Verhandlungen. Verteidiger Wolfgang Braun ging mit den Anklägern ziemlich hart ins Gericht. Unter der Anwesenheit Kleins, Kosazkys und dessen Verteidiger, wie auch von zahlreichen Angehörigen von Militär und Presse sagte er: „Und ich meine, verehrte Anwesende, das, was hier passiert, ist ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheit der journalistischen Berufsausübung seitens der Behörden! Faktum ist nun eines: Ein Journalist hat sich ganz offensichtlich mit wehrpolitischen Angelegenheiten beschäftigt und äh – einen brisanten Artikel verfasst. Daraufhin wurden Pressepolizei, Staatspolizei, Staatsanwaltschaft und sogar der militärische Abwehrdienst auf ihn angesetzt.

Man hat den Informanten ausfindig gemacht. Auch gut. Das hat dem Militär intern sehr geschadet. Das sehe ich auch ein. Was ich nicht einsehe, ist, dass man beiden Herren in einer Art zugesetzt hat, die, kann ich nur sagen, menschenunwürdig ist! Jawohl! Menschenunwürdig! Man hat sie aus ihren Dienststellen geholt …“, „Ja, aus dem Bett!“, rief einer der Zeugen, ein Staatspolizist. „Ruhe!“, schnitt ihm der Richter das Wort ab. „… sie in ein Einsatzfahrzeug verfrachtet und dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Das soll doch wohl ein Witz sein?“ Der Verteidiger war noch lauter geworden. „Je sechs Mann haben die Wohnungen der beiden Angeklagten durchsucht. Auch den Landsitz des Herrn Oberleutnant! Und die Wohnung von Herrn Kleins Eltern. Peinlich, sowas, finden Sie nicht?“ Der Verteidiger schnäuzte sich.

Die Anwesenden unterhielten sich leise. „Ruhe!“, forderte sie der Richter auf, „Herr Verteidiger, fahren Sie fort!“ „Zwei Tage später hat man die beiden fünf Stunden lang verhört. Klein hat man nicht einmal gestattet, in seiner Dienststelle anzurufen, damit er sich entschuldigen konnte. Herr Oberleutnant Kosazky unterliegt in seinem Vorgehen als Informant selbstverständlich der Dienstaufsichtsbehörde, das ist mir schon klar. Ich finde es nur kurios, verehrte Anwesende, dass die wahren Urheber dieser Angelegenheit heute nicht zu unserer Verfügung stehen können. Das sind – nämlich der Herr Verteidigungsminister und noch ein paar sehr prominente Persönlichkeiten!“, donnerte der Verteidiger.

Im Saal wurde es laut. „Ruhe!“, rief der Richter abermals und griff zum Hammer. Der Verteidiger ergriff abermals das Wort. „Wir sind ein neutrales Land. Oder etwa nicht? Wie kommt es, dass sich Politiker und Militärs dieses Landes am Waffengesetz vergehen? Wo sind hier die wahren Schuldigen, die in dieser Sache zur Verantwortung gezogen werden müssten, Herr Rat?“, er blickte den Richter fragend an. „Ich teile vollkommen Ihre Ansicht“, sagte der Richter. „Nun verstehe ich auch die Übereifrigkeit des Verteidigungsministeriums“, sagte der Verteidiger etwas gemäßigter als vorhin, „ damit wollte man einer bereits geahnten Vorverurteilung wohl zuvorkommen, wie? Da hat man Herrn Klein ganz einfach der Ausspähung bezichtigt! So einfach ist das. Ihn hat man stundenlang verhört, unter erschwerten Bedingungen. Es ist an der Zeit, und ich bin längst dafür, sich in dieser Angelegenheit dringend an die Öffentlichkeit zu wenden, meine Herren von der Presse!“, sagte er zu den Reportern gewandt.
„Die Vorgangsweise der Behörden, die sich vor allem gegen das grundlegende Recht der Wahrung des Redaktionsgeheimnisses und den Schutz der journalistischen Informationsquelle gerichtet hat, ist hiermit entschieden zurückzuweisen! Handelt es sich dabei doch immerhin um die Grundsäulen der journalistischen Arbeit! Wer an ihnen rüttelt, öffnet Türen für die Farce einer Rechtsprechung, die in einer Demokratie nichts zu suchen hat! In diesem Sinne schlage ich daher vor, in erster Linie den Paragraphen über die Ausspähung als nicht geeignetes Mittel im Sinne der Pressefreiheit zu behandeln und plädiere in logischer Konsequenz seiner Unanwendbarkeit für die Entlastung meines Klienten. Ich danke Ihnen, meine Herren!“, schloss der Verteidiger und setzte sich erschöpft, Schweißperlen auf der Stirn.

Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Nach einer halben Stunde war man zurück und verkündete das Urteil. Oberleutnant Kosazky und Hans Klein wurden beide freigesprochen. Die Justizbehörden stellten das Verfahren ein. Kosazky fasste seitens seiner Dienststelle ein Disziplinarverfahren wegen unerlaubter Einsichtnahme eines Aktes aus, wurde jedoch nicht degradiert. Hans Klein wechselte bald danach zu den „Nachrichten“, und entging so dem jämmerlichen Ende der „Kleinen Österreichischen“.

Norbert Johannes Prenner

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