Horror-Modus

Ich spiele gerade ein Browser-Game, da erscheint die Meldung auf dem Bildschirm: „Wollen Sie den Horror-Modus aktivieren? Ja / Nein.“ Natürlich klicke ich auf Ja.

Plötzlich gehen alle Lichter aus. Ich begebe mich zum Schaltkasten und bringe den Strom wieder zum Laufen. Den Computer lasse ich ausgeschaltet, da es schon spät ist und ich morgen Früh in die Schule muss.

Ich gehe zu Bett und schlafe bald ein. Mit dem Gefühl, verschlafen zu haben, wache ich auf. Und tatsächlich, ein Blick auf meinen Wecker zeigt, dass dieser stehengeblieben ist. Es ist zwar schon hell, Vögel sind aber keine zu hören. Ich stehe auf, kontrolliere die Uhren im Haus, sie sind alle stehengeblieben, und zwar um 10:30 Uhr, meine Digitalarmbanduhr um 22:30 Uhr, das war direkt, bevor der Strom ausfiel. Etwas beunruhigt schalte ich mein Handy ein, kein Netz, Uhrzeit: 22:30, Datum: gestern. Normalerweise aktualisiert sich das Handy über die mobile Internetverbindung, doch Uhrzeit und Datum sind immer noch die gleichen, als ich eine ungefähr eine halbe Stunde später das Haus verlasse. Was auch nicht anders möglich ist, da keine mobile Internetverbindung hergestellt werden kann.

Auf dem Weg zur Schule sehe ich keinen Menschen, kein Auto, nicht einmal ein Tier. Schließlich stehe ich vor der Schultür. Sie ist geöffnet. Im Flur steht die Uhr auf 10:30 Uhr, ich erwartete es nicht anders. Ich gehe in meine Klasse. Die Schulglocke läutet, eine Unterrichtsstunde hat begonnen. Ich bin völlig alleine. Auf der Tafel steht: „Lauf weg!“ Ich blicke nach rechts, auf der Innenseite der Klassentür sind Kratzspuren und kleinere Blutspuren, sie sind ebenfalls auf der Innenseite der Fenster zu sehen. Ich weiß genau, dass ich diesen Ort verlassen sollte, aber in meinem Hinterkopf sagt mir eine Stimme, dass jetzt Mathematik auf dem Stundenplan steht und dass ich mich darauf konzentrieren sollte, ein strebsamer Schüler zu sein. Ich gehe zur Tafel und schreibe Rechnungen aus dem Mathematikschulbuch an. Ich rechne sie durch. Es funktioniert problemlos.

Nach ein paar Minuten muss ich pinkeln gehen. Auf der Toilettenwand steht mit Blut geschrieben: „Hilf mir!“ und „Du wirst sterben!“. In einem Pissoir sind Menschenzähne. Ich gehe zurück in die Klasse. Meine innere Stimme sagt mir, dass ich das hier durchstehen und vorerst einmal weiterrechnen sollte. Als ich wieder die Klasse betrete, bemerke ich, dass die Tafeln gewischt sind. Plötzlich ertönt eine Sirene, Feueralarm!

Ich verlasse die Klasse und laufe den Gang entlang. Am Ende des Ganges sehe ich den Schulwart mit seiner kurbelbetriebenen Handsirene. Er geht in sein Büro. Ich laufe dorthin. Dort sehe ich den Schulwart in seinem Sessel sitzen, mit dem Rücken zu mir. Auf mein „Hallo, brennt es wirklich?“ reagiert er nicht. Während ich mich weiter auf ihn hinzubewege und ein zweites lautes „Hallo“ anstimme, fällt mein Blick auf das Regal an der linken Wand. Da stehen kleine, gegerbte Köpfe, Schrumpfköpfe. Die meisten sind mir bekannt, es sind Klassenkameraden und Lehrer. Von Panik erfüllt, stürze ich aus der Schule. Ich renne so schnell ich kann. Auf dem Fußballplatz der Schule sehe ich einen Ball rollen, obwohl niemand dort ist.

Erst nach mehreren Kilometern, als ich außer Atem haltmachen muss, fällt mir das vollkommen veränderte Stadtbild auf. Plötzlich tauchen von allen Seiten Menschen auf. Sie greifen nach mir. Ich will losrennen, doch ich stolpere. Ich schließe die Augen, ergebe mich meinem Schicksal, aber nichts passiert. Ich öffne wieder die Augen. Ich liege in meinem Bett, bin gerade aufgewacht.

Vom Erdgeschoß ruft meine Mutter nach mir: „Das Essen ist fertig.“ Mit Hunger im Bauch laufe ich hinunter. Vater und Schwester sitzen schon am Tisch. Es gibt Herrengulasch, Gulasch mit Würstchen, Spiegelei, zerschnittenen Gürkchen und Semmelknödeln. Appetitlich dampft der Topf. Vater, Mutter und Schwester grinsen ständig. Irgendetwas stimmt nicht. Möglichst beiläufig frage ich: „Sag mal, wie geht es dir denn eigentlich jetzt in der Schule, Sophie?“ Meine Schwester heißt allerdings nicht Sophie, sondern Magdalena. „Ganz gut“, sagt sie. „Möchtest du noch etwas?“, fragt mich meine Mutter. „Na klar, Mama“, sage ich. Sie gibt mir zwei Schöpfer Gulasch mit einem Semmelknödel in meinen Teller. Ich rühre mit dem Löffel um. Was schwimmt da. Es ist kein Fleischstückchen, kein Würstchen, es ist ein Zeigefinger. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Hat niemand außer mir den Finger gesehen? Alle drei sind völlig unbeeindruckt. „Danke, ich bin schon satt“, sage ich und stehe auf. Ich gehe auf mein Zimmer, setze mich an meinen Tisch und denke nach, wie ich möglichst schnell möglichst weit davonkommen kann. Draußen höre ich einen Zug vorbeirauschen. Mir fällt ein, dass weniger als einen Kilometer von unserem Haus entfernt ein Bahnhof liegt. Gespannt warte ich, bis ich aus dem Erdgeschoß keine Geräusche mehr vernehme.

Dann laufe ich los. Ich brauche ein paar Minuten bis zum Bahnhof. Auf dem Weg dorthin treffe ich auf keinen Menschen. Mein Plan ist es, den ersten Zug zu nehmen, egal, wohin er führt. Ich warte am ersten Bahnsteig, fünf Menschen, zehn Minuten, eine Würstelbude. Jetzt fährt von links ein Zug ein. Ich steige ein, betrete den Waggon und setze mich hin. Viele Sitze sind besetzt. Jetzt fährt der Zug an. ich blicke auf meine Armbanduhr. Es ist 22:30 Uhr. Sie steht still. Ich sehe mir die Menschen zu meiner Linken an. Es sind alles Männer mit dem gleichen Gesicht und dem gleichen Gewand. Meine Armbanduhr beginnt wieder zu ticken.

A.C.A.B. - ALL COMPUTERS ARE BROKEN

A.C.A.B. – ALL COMPUTERS ARE BROKEN

Johannes Tosin (Text und Bild)
und
Michael Tosin (Text)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23142

 

 

 

(Foto: A.C.A.B. – ALL COMPUTERS ARE BROKEN.jpg von Johannes Tosin)

 




zählen

Er und die zwei Jugendlichen, einer davon war sein Sohn, gingen vom Badeplatz durch den Wald und die Siedlungen nach Hause. Bei einem Haus stand dieses seltsame schwarzhaarige Kind. Es sah sie an, jeden der drei einzeln, sagte aber kein Wort, reagierte auch nicht, als sie es grüßten. Es stand einfach nur da.

Beizeiten begegnete er dem Kind wieder. Eigenartigerweise stand es vor verschiedenen Häusern. Und immer sah es ihn genau an, und nie sprach es.

Später kam er dahinter, dass das Kind kein Kind war, sondern ein Zählautomat des Österreichischen Statistischen Zentralamtes. Er registrierte Menschen, Hunde, Katzen, Vögel, Eichkätzchen und Touristen – gut: auch Menschen, aber Auswärtige halt. Hinter seinen Augen liefen Zahnräder, die die Zahlen erhöhten. Eine Stimmausgabe war nicht vorgesehen.

Der Blick über das gelb-weiße Haus in Pritschitz und über Maria Wörth am 1. Dezember 2020

Der Blick über das gelb-weiße Haus in Pritschitz und über Maria Wörth am 1. Dezember 2020

Johannes Tosin (Text und Bild)
und
Michael Tosin (Text)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21046