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Am Ende des Regenbogens

Sie schwebt. Ihre Füße berühren kaum den Boden, ihr Herz tanzt über den Wolken. Die Sonne verscheucht nur für sie die grauen Regenschleier und um sie herum wird alles hell und klar. In den Pfützen schillert Benzin, in den Fenstern spiegelt sich der Himmel.
Sabrina nimmt die Perücke vom Kopf und stopft sie in ihre Tasche. Wie gut es tut, die Luft am Kopf zu spüren, den Wind auf der fast kahlen Haut.
Tief atmet Sabrina ein. Sie taucht auf aus einem Vakuum, so als hätte sie die vergangenen 26 Monate unter Wasser gelebt, wo sie nicht atmen konnte, wo sie nichts riechen, schmecken, fühlen konnte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit ist ihr leicht zumute, ohne dieses zerstörerische Monster in ihrem Körper. Noch einmal saugt sie die Luft ein wie eine Ertrinkende.
Fast spürt Sabrina das Zittern noch in ihren Knien, das schnelle Schlagen ihres Herzens auf dem Weg in die Klinik. Gern gesteht sie sich die Angst nicht ein, die sie hatte, als sie vor der Tür zum Sprechzimmer ihres Arztes wartete. Alle Mühe hatte sie sich gegeben, ihn diese Angst nicht merken zu lassen. Lächelnd und scherzend hatte sie sein Zimmer betreten, wie immer hatte sie gerade ihm beweisen wollen, dass sie sich nicht unterkriegen ließ.
An der Wand hinter seinem Schreibtisch hing eine Kinderzeichnung. Das Bild eines schiefen Regenbogens, darunter ein winziges Mädchen im roten Kleid, das auf die Stelle zuläuft, an welcher der Regenbogen die Erde berührt. Das Bild, auf das sie bei jedem Arztbesuch ihren Blick konzentrierte, während sie dem Arzt zuhörte. Auch heute fixierte sie, während er sprach, den Regenbogen.  Dabei schien es ihr, als wäre das Mädchen dem Ende des Regenbogens heute nähergekommen.

An der Straßenecke das offene Parktor, es lädt sie ein.
Sie riecht das feuchte Laub, den erdigen Duft des Sommerregens. Sie hört das Hupen der Autos, das raschelnde Gras, das Gezwitscher der Vögel.
Allein ist sie in diesem Teil des Parks. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen dringen durch die Zweige. Vor ihr am Ende des Kieswegs steht eine Bank, feucht vom vergangenen Regen und bedeckt von welkendem Laub der Platanen. Sie geht darauf zu.
Vor der Bank bleibt sie stehen, innehaltend. Ihre Tasche rutscht ihr von der Schulter. Sabrina stellt sie auf die Bank. Alles was darin ist, gehört zu ihrem Leben vor heute, zu dem Leben, das hinter ihr liegt.

Die Perücke, die sie getragen hat, weil eine Frau eben nicht mit kahlem Kopf herumläuft. Sie hätte damit kein Problem gehabt, sie hatte sich ihrer Kahlheit nicht geschämt. Aber es hätte gewirkt, als wollte sie auffallen, Mitleid erregen. Und dies wäre ihr zuwider gewesen. Nie hatte sie Mitleid gewollt.
Die Pillen, die sie nehmen musste. Deren Nebenwirkungen teilweise so heftig waren, dass sie gerne auf die Einnahme verzichtet hätte. Ohne die sie die Chemotherapie aber nicht verkraftet hätte.

Das kleine blaue Schiffchen, das sie an ihrem Schlüssel immer bei sich trägt. Es ist das Bild ihres größten Traums, des Traums vom Leben und Arbeiten auf einem Schiff. Schon als Kind wollte sie Matrose werden oder Seeräuber. Doch weil ihre Mutter sie nicht gehen lassen wollte, arbeitet sie stattdessen in einem Reisebüro, wo es nach verstaubten Plastikmuscheln riecht, statt nach Seeluft und Meerwasser.
Ihr Handy, ohne das sie nicht aus dem Haus durfte, um im Notfall Hilfe rufen zu können. Das sie nie wieder brauchen will.
Und für den Fall, dass nichts helfen würde, das Skalpell, von dem sie gar nicht mehr weiß, woher sie es hat. Vermutlich nicht das angenehmste Mittel, ein Ende zu machen, aber alle anderen Methoden, die ihr eingefallen waren, schienen auch nicht besser.

Ein Blatt fällt von der Platane hinter der Bank, es schaukelt im Wind, als könne es sich nicht entschließen, wo es niedergehen soll. Als es auf ihrer Tasche landet, legt sie das Blatt hinein zu den anderen Dingen.
Sabrina löst das Plastikschiff vom Schlüsselbund und nimmt es in ihre Faust, lässt den Schlüssel zurück in die Tasche gleiten. Sie schließt die Handtasche mit einem Ruck und wendet sich um. Ohne zu zögern, ohne sich umzudrehen, geht sie fort von der Bank, von der Tasche.
Sie läuft mit festen Schritten. Zu ihrem Ende des Regenbogens.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22024

 

 

 




In tiefster Ergriffenheit

Hinweis der Redaktion:
Dieser Text kann verstörend wirken, er thematisiert Krieg, Leid und Tod.

 

Granaten, Martin, Deckung, runter …

Ich bin Willi Schuster, Schütze im 1. Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 7. Ich bin Willi Schuster, Schütze im 1. Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 7. Ich bin …

Ich kann nichts sehen.

Martin, bist du da? Ich höre Schreie, bist du das? Ich will dich rufen, Martin, aber ich kann nicht, ich kann nicht sprechen, ich sehe nichts, nur Schmerz ist in meinem Gesicht. In meinem Mund, in meiner Nase, überall ist Blut. Ich kann es schmecken. Martin, ich höre dich, ich höre dich rufen. Martin, ich bin hier, halte durch, gleich kommt jemand, gleich wird man uns helfen, Martin. Deine Schreie, Martin, sie werden sie hören.

Mir ist so kalt, ich kann mich nicht bewegen, ich spüre meine Arme nicht, meine Beine nicht, alles ist so kalt.

Mutter, ich habe dein Tuch bei mir, Mutter, das wollene Tuch, das du mir zum Abschied gegeben hast. Du hast gesagt, darin hättest du mich nach meiner Geburt eingewickelt. Es soll mir Glück bringen, hast du gesagt. Ich habe es hier, Mutter, das Tuch, unter meiner Jacke, aber es wärmt mich nicht. Mutter, mir ist so kalt.

Johanna, meine Beine, ich spüre sie nicht, ich glaube, meine Beine sind weg. Ich will meine Beine nicht verlieren. Ich brauche meine Beine. Wie soll ich arbeiten, wie soll ich mauern ohne Beine? Johanna, Liebste, kannst du dir vorstellen, wie viele Häuser wir zerstört haben in diesen Kämpfen? Viel mehr Häuser habe ich zerstört, als ich in den ganzen Jahren gebaut habe. Und all die Menschen, die in den zerstörten Häusern lebten, wo sind die hin?

Weißt du, wie sehr ich dich vermisse, Geliebte? Du bist so schön, du bist das schönste Haus für mich. Deine Haut ist der feinste Verputz, dein Körper gerade und fest, von perfekter Statik. Deine Augen sind weit geöffnete Fenster, dein Mund die verheißungsvollste Tür.

So lange habe ich keinen Brief mehr von dir bekommen, Johanna, ich wüsste so gern, ob unser sehnlicher Wunsch sich erfüllt. Bekommen wir ein Kind, Liebste? Seit wir das letzte Mal zusammen waren, Johanna, sind so viele Wochen vergangen, wenn du ein Kind erwartest, würdest du es jetzt wissen.

Martin, ich höre dich nicht mehr, Martin, schrei, damit sie uns finden! Es wird schon dunkel oder ist das das Blut in meinen Augen? Martin, Kamerad, bitte, gib einen Laut von dir.

Es ist so dunkel, ich kann mich nicht bewegen. Martin, lebst du noch? Martin, Kamerad. Ich kann nichts sehen, nicht sprechen, nichts spüren, nur das Feuer in meinem Gesicht und in meinem Körper. So gerne würde ich schlafen, aber das Brennen in mir ist zu heiß. Glühend wie flüssiges Eisen.

Ich will nicht sterben, hier im Graben. Im Dreck. Bitte, Martin, so schrei doch so laut du kannst, damit sie uns finden. Schrei für mich mit, Martin. Die Nässe dringt in meine Jacke, sie sickert in meine Unterwäsche, mir ist kalt, ich fühle nur Kälte und diesen Schmerz. Der Gestank nach Blut ist in meiner Nase wie einbetoniert. Ich kann mein Wasser nicht halten, Mama, wie ein kleiner Bub mach ich in die Hose, Mama.

Kamerad Karl-Heinz aus Köln, Karl-Heinz Denkert, der hat all seine Schuhe verschenkt, bevor er in die Schlacht zog, als der Befehl kam. Alle seine Schuhe, überzeugt, er würde seine Beine verlieren im Kampf. Er war so sicher, dass er schwer verwundet würde, Johanna, all seine Schuhe hat er an uns verteilt. Er ließ es sich nicht ausreden, so sicher war er. Als er zurückkam, Johanna, hatte er seine Beine noch. Aber sein Leben hatte er verloren.

Ich will meine Beine nicht verlieren. Ich spüre sie nicht mehr, auch meine Arme nicht.

Johanna, ich will bei dir sein, dich wieder im Arm halten, ich will nicht hier sterben. Ich will wieder auf den Bau, das Gerüst hinaufklettern, Häuser bauen, nicht zerstören. Ich will unser Kind aufwachsen sehen, mit meinem Sohn um die Wette rennen, nur so zum Spaß, nicht davonlaufen vor Granaten und Maschinengewehrsalven. Ich will deine Stimme hören, Johanna, dein Lachen, nicht dein Weinen vor mir sehen, deine Tränen bei unserem Abschied.

Mutter, ich habe dir versprochen, ich komme wieder, Mutter, ich hab versprochen, ich passe auf mich auf, aber Mutter, da habe ich noch nicht gewusst, dass hier die Hölle ist. Mutter, so muss die Hölle sein, dieses Schlachten, diese Schreie, dieser Donner und dieser Rauch, diese Schmerzen. Mutter, das ist die wahre Hölle, nicht das, was sie dir in der Kirche erzählen.

Hier ist nur Tod. Tote Menschen, tote Pferde, totes Land. Johanna, ich weiß nicht mehr, wie eine Amsel singt, ich habe vergessen, wie eine Rose riecht, ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie eine Rose aussieht. Hier gibt es keine Vögel mehr, keine Blumen.

Der Heinrich, als es den traf, sein Blut spritzte über uns alle. Nie werde ich diese Bilder vergessen, ich seh es, ich kann nichts anderes sehen als diesen Anblick, Heinrich, den es zerreißt, von der Granate getroffen direkt vor meinen Augen. Mutter, die Hölle kann nicht schlimmer sein als das hier. Wir sausen in den Tunnel, der kein Licht am Ende hat.

Der Tod arbeitet hier am Fließband: Der dicke Petersen, der kleine Finkenwald, grad 18 war er, Hansen, der so gerne Flieger geworden wäre, Mikula, der so gut kochen konnte, Geislinger, der große, dünne, dem keine Hosen passten, Maschewski, der Bergarbeiter aus Bochum, der sein Gesicht nie mehr sauber kriegte, Fritz Hahner und Friedrich Molzbach, die beiden Unzertrennlichen, die auch der Tod nicht auseinanderbrachte – alle tot. Mutter, alle sind sie tot. Auch Karl Pietrulla, mein Schulfreund, erinnerst du dich an ihn, Mutter, er liebte deine Butterbrote, mitten in die Stirn haben sie ihn getroffen.

Schlacht, das kommt von schlachten, Menschen abschlachten, das ist es, was sie tun in diesem Krieg, Menschen schlachten.

Ich hab den Kommandeur gesehen, wie er Briefe geschrieben hat, Hunderte Briefe waren das, die er schicken musste an die Angehörigen, Mütter und Väter, Frauen und Kinder all der Gefallenen. Mutter, ich will nicht, dass du so einen Brief bekommst, ich hab dir versprochen, dass du keinen solchen Brief bekommen wirst. Mutter, ich will mein Versprechen halten, ich will nicht sterben, Mutter.

Halt durch, Martin, unser Leutnant, der wird uns suchen lassen, ganz sicher. Er ist ein guter Mensch, keiner, der seine Männer im Stich lässt. Er wird uns retten wie die Katze, das kleine, graue Tier mit der weißen Pfote, das plötzlich in unserem Unterstand auftauchte. Es suchte sich unseren Leutnant aus als Zuflucht. Wir alle, dreckig und müde, waren gerührt, erinnerst du dich, Martin? Aber der Leutnant, der hatte Tränen in den Augen, ich hab sie gesehen. Und dann hat er einen Kameraden, den Hans Winterberg aus Düsseldorf, den hat er ausgewählt, ihm das Kätzchen in die Arme gedrückt und ihn nach hinten, hinter die Front geschickt. Vielleicht ahnte er den Gasangriff, der dann kam. Johanna, er hat einen Mann von der Front abgezogen, um eine Katze zu retten. So ein Leutnant, der sowas macht, der lässt doch seine Männer nicht hier im Dreck liegen. Martin, ich bin sicher, sie kommen gleich. Bestimmt werden sie gleich aufhören zu schießen, dann können die Sanitäter kommen, Martin. Bald wird es auch hell, dann finden sie uns. Sie schießen schon seit so vielen Stunden, irgendwann müssen sie doch damit aufhören.

Ich habe noch immer den Knopf von deiner Bluse, Johanna, weißt du noch? Ich trag ihn immer bei mir. Ich denk an das Grübchen, das du hast in deiner Kniekehle, Johanna, Geliebte, ich möchte so gerne meinen Mund auf dieses Grübchen drücken.

Da, Regen auf meinem Gesicht, er wäscht das Blut aus meinen Augen, ich kann dich sehen, Johanna, mein geliebtes …

Johanna, lächle. Johanna, nicht weinen. Johanna, verzeih mir …

 

 

Damvillers, 15. Juni 1916                               

Verehrte Frau Schuster,

ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Ehemann, Wilhelm Schuster, am 8. Juni vor Verdun für Kaiser und Vaterland den Heldentod starb. Er musste nicht leiden und glitt ohne Schmerzen in den Tod. Sie dürfen überzeugt sein von seiner hohen Tapferkeit und seiner treuen Pflichterfüllung.
Da aufgrund heftiger Kämpfe eine Überführung nicht möglich ist, wurde er hier an Ort und Stelle bestattet.

Seien Sie unserer allerherzlichsten Teilnahme versichert.
In tiefster Ergriffenheit,
Nachtigal, Regimentskommandeur

 

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21098




Der Hut

Der Hut schwimmt auf dem Wasser, vom böigen Wind getrieben. Ein schwarzer Schlapphut, nennt man den nicht Borsalino?
Es sieht aus, als liefe jemand mit einem Hut auf dem Kopf unter der Wasseroberfläche. Vielleicht ist es so. Nicht, dass da jemand unter Wasser läuft, natürlich. Aber dass da mal jemand unter dem Hut war, der jetzt nicht mehr da ist.
Da ist jemand ertrunken. Der Hutträger liegt ertrunken auf dem Grund des Sees. Ganz sicher.
Was soll er jetzt tun? Hilfe holen, klar. Aber wenn der schon tot ist, dann eilt es nicht. Dem kann niemand mehr helfen.

Sascha will in nichts hineingezogen werden. Man weiß ja, wie so was läuft. Nachher soll er noch schuld sein am Tod des Mannes. Sascha hat oft genug Tatort gesehen, er kennt sich aus. Wie schnell werden Unschuldige vor Gericht gezerrt. In Amerika werden Unschuldige sogar zum Tode verurteilt.

Nein, das ist nichts für ihn. Und wie gesagt, dem Ertrunkenen ist nicht mehr zu helfen.
So einen Hut trug der Pate. Ein Mafiahut!
Sascha bekommt eine Gänsehaut. Das ist ja noch schlimmer. Bezahlte Mafiakiller werden ihn verfolgen. Er verliert sein Leben, seine Familie verliert den Ernährer.
Dann lieber Gefängnis. Seine Kinder werden ihn verleugnen, aber besser als der Tod. Sascha hat gar keine Kinder, übrigens auch keine Frau, aber das tut ja nichts zur Sache.

Sascha schaut sich um. Er wird sich nicht einmischen. Das ist das Beste. Sich raushalten. Seine Ruhe haben.
Niemand zu sehen. Er kann sich verdrücken. Er hat nichts gesehen, nichts gehört, er weiß von nichts. Soll doch der Nächste, der vorbeikommt, die Polizei rufen. Soll der unschuldig ins Gefängnis wandern und auf dem elektrischen Stuhl enden. Oder im Kugelhagel umkommen. Er, Sascha, hat nichts damit zu tun.
Sascha wirft einen letzten Blick zum See. Der Wind ist noch stärker geworden und treibt den Hut immer näher heran. Jetzt aber weg.

Sascha dreht sich um. Und wird beinahe von einer Radfahrerin umgefahren. Sie kann ihm gerade noch ausweichen.
„He, passen Sie doch auf! Wollen Sie mich umbringen?“ Was sagt er denn da? Sein Herzschlag stolpert. Schweiß rinnt bis in seine Schuhe.
Er ist entdeckt. Heutzutage sind sogar die Killer weiblich.
Die Frau wirft ihr Rad ins Gras.  Sascha fällt auf die Knie, streckt die Hände in die Luft. Schon hört er das Zischen der Kugeln.  Sein letzter Gedanke, bevor sie ihn in sein nasses Grab schickt, gilt seinen ungeborenen Kindern.
„Sorry”, sagt die Frau, springt ans Ufer, fischt den Hut aus dem Wasser.
„Meiner“, ruft sie.

Renate Müller
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www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um … | Inventarnummer: 21077




Sie müssen das verstehen oder: Wie viele Zinken hat ein Kamm

Ich meine, Sie müssen das verstehen.
Ich liebe meinen Giorgio.
Mein Giorgio. Ein Bild von einem Mann. Ich weiß, wie sehr andere Frauen mich um diesen Mann beneiden. Und er liebt nur mich. Wir sind jetzt seit drei Jahren verheiratet und wahnsinnig glücklich. Er ist voller Glut und Leidenschaft, seine Augen verfolgen mich mit Sehnsucht und Verlangen, wann immer ich in seiner Nähe bin. Und wir sind fast immer zusammen, in Giorgios Frisiersalon. Er ist berühmt in unserer Stadt, alle wollen einen Termin bei meinem Giorgio. Giorgio mit den dunklen, feurigen Augen und der sanften Stimme. Es ist, als würde er mich streicheln, wenn er mit mir spricht. Giorgio, mein Giorgio, mit seinem vollen, glänzenden, pechschwarzen Haar – ich liebe ihn.

Aber ich hasse seinen Kamm!
Alle paar Minuten, immer wieder zieht Giorgio den Kamm aus der Hosentasche und kämmt sich damit seine Haare. Manchmal kommt es mir vor, als würde er ihn sofort wieder herausholen, sobald er ihn in die Tasche gesteckt hat.  Die Haare, die immer völlig glatt sind, nie verstrubbelt oder zerzaust. Auch der stärkste Sturm schafft es nicht, dass Giorgios Frisur durcheinandergerät. Niemals liegt auch nur ein einzelnes Haar nicht dort, wo es sein soll – und dennoch, Giorgio zieht schon wieder seinen Kamm und fährt durch seine Haare. Ich meine, das ist doch manisch, ein Tick, das ist nicht normal.

Ich habe im Guten mit ihm gesprochen, mit Giorgio, beim Frühstück, bei der Arbeit, sogar im Bett, nachdem wir …, Sie wissen schon, weil ich dachte, da sei Giorgio besonders weich gestimmt und ich könnte erreichen, dass er diese Kämmerei sein lässt.
Ich habe gebettelt: „Liebster“, habe ich gesagt, „Liebling, du siehst so gut aus, deine Haare liegen perfekt. Warum kämmst du dich schon wieder?“ Dabei habe ich ihn bewundernd und liebevoll angesehen. Es half nichts. Immer wieder erscheint der Kamm – ich hasse ihn. Ich meine, das hält man doch nicht aus.

Also habe ich seinen Kamm fortgeworfen in den Müll. Er holt sich einen neuen. Schließlich sitzt Giorgio ja quasi an der Quelle, in seinem Salon gibt es Kämme in allen Größen, Formen und Farben. Ich habe seinen Kamm im Garten in den Komposthaufen gesteckt, ganz tief hinein. Giorgio hat einen neuen Kamm.

Giorgio ist ein überaus ordentlicher Mann, geradezu besessen von Ordnungswahn. So sehr, dass er natürlich nicht verstehen kann, wie etwas von seinen Sachen einfach verschwindet.
„Ich hatte ihn doch hier hingelegt. Ich verstehe nicht, wo mein Kamm ist. Ich kann ihn nicht finden“, sagt er ein ums andere Mal und schaut mich dabei an, als müsse ich ihm helfen können. Aber ich schweige natürlich.
Und trotz aller Verwunderung holt er sich immer wieder einfach einen neuen Kamm aus dem Laden.

Danach habe ich seinen Kamm im Garten vergraben.
Den nächsten Kamm habe ich im Häcksler zerhackt – das war ein gutes Gefühl …
Am nächsten Tag hatte Giorgio wieder einen Kamm.

Ich habe einen Kamm von der Autobahnbrücke geworfen, den nächsten ein paar Tage später auf den Bahnschienen platziert.
Ich habe einen Kamm im Rhein versenkt (das fiel mir schwer, wegen der Umweltverschmutzung, verstehen Sie).
Und jedes Mal, am Nachmittag, wenn im Laden gerade die Hölle los ist, nimmt Giorgio einen neuen Kamm aus seiner Tasche und zieht sich den ohnehin perfekten Scheitel nach.

In einer Nacht bin ich schreiend aufgewacht. Ich kann mich noch an meinen Traum erinnern: Ich habe von Kämmen geträumt, Kämme, die mich verfolgen, wie tausend Tausendfüßler sind sie hinter mir hergelaufen, ich konnte rennen und rennen, sie ließen nicht ab von mir.

Ich liebe meinen Giorgio, aber das geht einfach zu weit. Das hält keine Frau aus.
Es muss etwas geschehen. Während Giorgio seine Morgentoilette macht, nehme ich seinen Kamm und träufele Sekundenkleber zwischen die Zinken. Bis Giorgio aus dem Bad kommt, ist der Kleber getrocknet und der Kamm unbrauchbar. Ich weiß, es wird nichts nützen, bis zum Mittag wird er einen neuen haben.

Am nächsten Tag besorge ich mir in der Apotheke Haarentfernungsmittel, mir ist jetzt alles egal, und verteile von der Creme großzügig auf seinem neuen Kamm.
Ich beobachte gespannt, was geschieht, als Giorgio diesen Kamm benutzt. Ich weiß nicht genau, wie das Mittel wirkt und vor allem nicht, wie schnell. Ein wenig tut es mir leid, Giorgios Haare sind so schön und ich liebe es, mit meinen Händen hineinzugreifen und darin zu wühlen – Giorgio mag das gar nicht und … Sie ahnen es. Aber es müssen Opfer gebracht werden, wenn ich ein Leben ohne Kamm führen will.

Nur, es passiert nichts, und als ich nach einigen Tagen immer noch keine Veränderung auf Giorgios Kopf feststellen kann, lese ich endlich die Packungsbeilage des Entfernungsmittels: Das Mittel muss großflächig aufgetragen werden und lange Zeit einwirken. Wie soll das gehen, wie soll ich das erreichen? Es ist zum Haare-Ausreißen.

Beim Abendessen beobachte ich, wie Giorgio den Kamm durch seine glänzenden vollen Haare zieht. Sehnsüchtig denke ich an die Packung mit dem Haarentfernungsmittel, die noch in meiner Hosentasche steckt.
Giorgio löffelt seine Minestrone und lobt mich für die gut gewürzte Suppe: „Du bist die beste Köchin der Welt, meine geliebte Chantal“, sagt er und ich könnte wieder einmal dahinschmelzen.
Da klingelt das Telefon und Giorgio geht in den Flur.

Mir geht die Warnung aus der Packungsbeilage nicht mehr aus dem Kopf.  Die Warnung, dass das Mittel giftig ist und man es keinesfalls schlucken oder auf die Schleimhäute aufbringen darf. Es sei besonders gefährlich, da es geschmacksneutral sei und daher versehentlich verschluckt werden könne.
Ich meine, Sie müssen das verstehen, dieser Kämmtick ist wirklich nicht mehr auszuhalten …

Drei Wochen nach der Beerdigung meines über alles geliebten Mannes kommen seine Brüder, um mir beim Ausräumen seiner Schränke zu helfen. Wir wollen seine Sachen für einen guten Zweck spenden, das wäre ganz in seinem Sinn gewesen. In den Taschen seiner Hosen, Jacken und Hemden finden wir 37 Kämme!
Ich meine, jetzt verstehen Sie, oder?

Renate Müller
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www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21056




Voller Einsatz

Eine Menschentraube auf der Straße vor dem Haus. Polizei, Feuerwehr, THW, Rettungswagen, Notarzt vor ihrer Haustür.
Ein trommelfellzerfetzender Pfeifton, schrill und irgendwie bekannt, dringt an ihr Ohr und in ihr Hirn. Pia lässt ihre Taschen fallen, drängt sich durch die Menschen. Was ist mit Otto?

Feuerwehrleute, Polizisten, Krankenpfleger, alle laufen durcheinander. Keiner achtet auf Pia. Ihr wird übel, ohne Vorwarnung erbricht sie alle Mahlzeiten des vergangenen Tages über die Füße eines vorbeieilenden Notarztes.
„Geht’s noch?”, ruft der und klammert sich an Pia, sodass beide zu Boden gehen. Dort liegen sie Brust an Brust, sprach- und atemlos.
In Pias Nase mischt sich der Duft ihres Mageninhalts mit dem seines Rasierwassers. Aber Rauch riecht sie nicht.

„Ich muss zu Otto”, ruft Pia und versucht, aufzustehen.
„Sie können da nicht rein.” Der junge Arzt bleibt einfach liegen, als hätte er sonst nichts zu tun.
„Wir haben alles unter Kontrolle”, ruft da ein Feuerwehrmann. „Kein Brandherd auszumachen. Wir gehen jetzt rein.”
Wut, Angst und Gestank verleihen Pia Kraft. Sie befreit sich, springt auf und rennt den Feuerwehrleuten, die nun ins Haus eindringen, hinterher. Niemand hält sie auf.
Im Treppenhaus wieder dieser gänsehautverursachende Pfeifton, noch viel lauter. Und er kommt Pia so bekannt vor, wo hat sie ihn schon einmal gehört?

Sie erreicht vor den Männern, die jede Etage sichern, ihre Wohnungstür im Dachgeschoss. Immer noch kann sie keinen Rauch riechen. Von unten hört sie jemanden rufen: „Hier sind keine Rauchmelder. Wir suchen weiter.”
Jetzt weiß sie, woher ihr der Ton bekannt ist.
Pia stürmt in ihre Wohnung.
Hier ist das Pfeifen lauter als bisher. Ihre Blicke suchen nach Otto. Finden ihn.
In der Ecke des Zimmers, auf der Lehne ihres Ohrensessels, hockt er.
Er reißt den Schnabel auf und wiederholt seine perfekte Imitation ihres Rauchmelders.

Renate Müller
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Revolte oder was?

Jetzt reicht’s. Jetzt ist Schluss!
Schluss mit der Diskriminierung, mit der Zweiklassengesellschaft.
Er wird aufbegehren, protestieren, revoltieren.
Es muss ein Ende sein mit Vorurteilen, Kastentrennung und Snobismus. Schluss mit Eitelkeit, Großspurigkeit, Dünkel.
Er wird ziehen. In den Kampf wird er ziehen gegen Hochmut und Angeberei, gegen Chauvinismus, Hochnäsigkeit und Selbstgefälligkeit.
Es muss Demonstrationen, Revolutionen geben. Gegen Ungebundenheit, für Anhänglichkeit. Gegen loses Herumtreiben, für gezieltes Herumhängen.
Ein für alle Mal muss aufgeräumt werden mit Überheblichkeit, Arroganz und Besserwisserei.
Er wird dafür sorgen, dass es Gleichberechtigung und Anerkennung geben wird für ihn und seinesgleichen.
So wie es ist, kann es jedenfalls nicht weitergehen. Diese Welt der Hierarchien, der Unterscheidung zwischen Unberührbaren und Oberklasse, muss sich ändern.
Die Benachteiligung, die ihm widerfährt, dieses Mobbing, wo immer er herumhängt, er wird das keinen Tag länger hinnehmen.
Wie es doch auch vollkommen unbegründet, so völlig aus dem heißen Wasser gegriffen ist, dass seine Art minderwertig sei, nur etwas „für eine schnelle Nummer”, wie es heißt.
Eine Frechheit ist das. Eine Beleidigung, anmaßend, herablassend und unverschämt.
Deswegen rüstet er jetzt auf.  Er wird sich reinhängen, mit aller Kraft und Energie, mit Achtsamkeit und Widerstandskraft. Sein Credo, mit dem er in die Welt zieht, wovon er die Welt überzeugen wird, ist, dass „die Anderen”, wie er sie nennt, nicht besser, nicht wert- oder gehaltvoller sind, dass seinesgleichen mindestens so voller Inhalt, Seele und Leben, mindestens so wohltuend, gesund und wirksam sind wie die lose Gesellschaft, die sich für etwas Besseres hält.
In dieser Aufgabe wird er aufgehen, auch wenn er sich dabei aufreibt oder gar auflöst.
Und jetzt geht es los.
Gleich.
Bald.
Zeitnah.
Demnächst.

„Aber erstmal ein heißes Bad”, sagte der Teebeutel und ließ sich in die Tasse fallen.

Renate Müller
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www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 20103




Mülltrennung

Ralf steht auf dem Steg am See. Er sieht den Hund von dem Mann, der die Yacht des Clubs pflegt. Der Hund geht auf und ab, macht hier und dort hin, riecht an dem Busch, dem Baum, er hat kein Ziel, ist nie im Stress. So wünscht sich auch Ralf zu sein.
Ralf träumt vom Meer und von dem Boot, das er baut. So lang schon baut er an dem Boot, nur der Mast fehlt noch, dann geht die Fahrt los. Das Boot ist sein Traum, seit er ein Kind war. Nur er weiß von dem Traum, kein Mensch sonst. Kein Mensch weiß von dem Boot, auch Liz nicht, grad Liz nicht. Liz, die Frau, die er liebt, Liz, sie soll nicht mit auf das Boot, weil er ganz für sich sein will auf dem Schiff, das er sich so wünscht und für das er so viel gibt. Doch er weiß nicht, wie er ihr das klar macht. Drum denkt er nach, stets von vorn, doch das führt zu nichts. Wie so oft schon dreht er sich nur im Kreis und weiß den Weg nicht raus.

Er kehrt um und läuft nach Haus. Dort setzt er sich an den Tisch und tut gar nichts, blickt nur vor sich hin. Bald wird sie da sein. Ralf fühlt sich nicht wohl, er will ihr nicht weh tun, doch er weiß, so sehr, wie sie ihn liebt, wird ihr Schmerz groß sein. Doch er ist nicht froh, so wie er mit ihr hier lebt. Er will weg, er fühlt, er ist nicht der Mann, der im Paar sein kann, er will für sich sein. Ralf schwamm stets nur mit dem Strom, war nie ein Mann, der für sich selbst sorgt, meist legt Liz Weg und Ziel fest. Doch jetzt muss Schluss sein, er will nicht mehr faul und sie soll nicht mehr der Boss sein. Er will nicht mehr tun, was sie will, er will der Mann sein, der denkt und lenkt.
Er schluckt und denkt: Sie joggt noch, ich wart nur, bis sie kommt, dann fällt mir schon was ein.

Dann kommt Liz, schwitzt vom Lauf durch den Wald. Sie schnauft, schaut sich um und fragt:  „Was tust du?“ Sagt er: „Na, nix.“ Sie merkt, es stimmt was nicht mit ihm, doch sie lacht und meint: „Das ist nicht viel!“
Ralf gibt ihr Recht und fragt: „Was denkst du, was soll ich denn tun?“ Liz grinst und schlägt vor: „Wie wär’s mit dem Müll?“
Er starrt sie an und mault: „Nein. Ich geh nicht raus und bring den Müll weg, mach es doch selbst.“
Da wird Liz bös und dreht sich zu ihm um. „Nie machst du was, nie hilfst du mit, meist mach ich es selbst. Mal kannst doch du was tun, meinst du nicht auch?“, sagt sie und schaut ihn an mit dem Blick, den er so hasst. Der Blick, den sie hat, wenn sie was von ihm will, das er nicht will. Mal ist es der Müll, kann auch sein, dass sie Schmuck will oder Sex, so oft will sie was von ihm, was er nicht kann oder nicht will. Wenn sie es nicht kriegt, dann weint sie und geht ins Bett, ist still und stumm und bockt. Er hasst das, doch er weiß auch, dass sie ihn liebt, nur nervt sie ihn halt oft.
Da fällt es ihm auf, das kann der Trick sein, jetzt find ich den Weg fort von ihr.

Ralf rennt raus in den Flur, nimmt den Sack mit dem Müll und wirft ihn durch den Raum. Dort, wo Liz steht, platzt der Sack auf. Sie ruft: „Was soll das jetzt, bist du irr?“
„Nimm den Müll, da hast du ihn. Nie mehr bring ich den Müll raus für dich!“ Ralf brüllt jetzt, brüllt sie an voll Zorn, doch nicht auf sie hat er Wut, auf sich hat er Wut, weil er so lang nichts tat, so lang blieb, wo er doch längst schon so gern so weit weg wär.
„Mach es selbst, ich mach es nicht, nie mehr. Ich hab es satt, stets willst du was, ich mag nicht mehr. Von nun an trägst du den Müll selbst raus. Ich geh jetzt und lass dich hier. Ich geh fort von dir. Dann muss ich nichts mehr tun für dich und du hast Ruh’ vor mir und dass ich nie was tu für dich und für uns. Ich lass dich in Ruh’ und du lässt mich in Ruh’, das ist doch gut für uns, für dich und mich. Ich pack gleich ein, viel hab ich nicht, das meins ist, da reicht ein Sack für mein Hab und Gut.“

Er dreht sich um und geht raus durch den Flur in das Bad und schließt die Tür. Sie starrt ihm nach und glaubt nicht, was er sagt. Das kann doch nicht sein, so geht das nicht, das tut man doch nicht, so kalt und knapp geht er doch nicht weg von ihr. Sie klappt den Mund auf und zu, doch fällt ihr nichts ein. Sie weiß, sie sagt nichts, sie sagt nie was, stets hält sie den Mund, klagt nie und macht viel nur mit sich selbst aus. Oft tut sie, was er will, folgt ihm, statt zu tun, was sie selbst will.  Doch hier geht das nicht, sie weiß, sie muss was tun, so dass er bei ihr bleibt, weil sie ihn doch so liebt und er sie doch auch, das weiß sie ganz fest. Nur, sie steht ganz starr, hat Angst, dass er geht, dass er meint, was er sagt. Kein Glied rührt sie vor Schreck, kriegt nur ganz schwer Luft. Dann hebt sie den Arm, greift nach der Tür, hält sie fest, hält sich dran fest, so dass sie nicht fällt vor Schmerz, den sie hat im Bauch, im Kopf und im Herz.

Er kommt aus dem Bad mit dem Sack, in dem er das hat, was sein ist. Er sieht sie an, sagt nichts. Sie will ein Wort nur von ihm, doch sein Blick ist so hart, dass sie sich nicht traut, sie fragt nicht, sie sagt nichts, ruft ihm nicht zu, wie sehr sie ihn liebt, dass sie nur ihn will, stets nur ihn. Und jetzt will er weg von ihr, wie hart und streng er sein kann. Das kennt sie von ihm, das ist nicht neu für sie, so war er oft im Streit. Schon so oft, er ist kalt und schroff, sie bleibt stumm und weint. So auch jetzt.
Sie tritt an die Wand, hält sich an der Tür fest, blickt ihn an und nickt: „Dann geh, ich halt dich nicht, wenn du weg willst von mir. Du weißt, wie lieb ich dich hab. Mein Herz schlägt wie deins, wir sind eins, du und ich.“
Er sieht sie nicht an, als sie spricht. Er weiß, dass er ihr weh tut und er ist ganz platt, wie sehr es auch ihn schmerzt.
Liz sagt: „Wenn du frei sein willst, kann ich nichts tun. Ich lass dich los, ich wünsch dir viel Glück, was du auch tun willst. Ich bleib hier und ich bin stets hier. Wenn du mich willst, dann such mich hier.“
Sie dreht sich um, geht jetzt auch ins Bad, schließt die Tür. Sie hört nicht, wie er geht.

Er geht aus dem Haus, durch den Hof zum Tor, dann den Weg, der zur Stadt führt. Er blickt sich nicht um, sieht nur nach vorn. Doch im Herz, da sieht er nur sie, Liz, wie sie an der Tür steht. Er merkt nicht, dass er weint.

Renate Müller
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www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 20091




Zwischen zwei Gefühlen

In den vergangenen Stunden hatte Charlotte den Heizungskeller porentief gereinigt, ihren Hund gebürstet, alle Möbel im Wohnzimmer umgestellt, den Hund gebürstet, ihren Kleiderschrank aus- und wieder eingeräumt, ihren Hund gebürstet, ihre Bücher alphabetisch geordnet, den Hund gebürstet – und 17-mal angefangen, einen Brief an ihren Mann zu schreiben.
Jetzt versteckte sich Dackel Hermann hinter dem Sofa und Charlotte saß verschwitzt und staubig an ihrem Schreibtisch und wusste nicht weiter. Sie las, was sie bisher geschrieben hatte.
„Es gibt einen anderen Mann, den ich traf vor einigen Monaten. Du kennst ihn nicht. Aber ich fühle, ich muss zu ihm. Es tut dir weh und es tut auch mir weh. Ich liebe ihn, obwohl ich dir gehöre.“ Hier hielt sie inne und starrte vor sich.
Wie sollte sie Sebastian klarmachen, was in ihr vorging? Wie sollte er sie verstehen, wo sie sich doch selbst nicht verstand?

Sie las weiter, was sie geschrieben hatte: „Er gibt mir etwas, von dem ich nicht wusste, dass ich es suche. Ich habe bei dir in all den Jahren nie etwas vermisst und doch spüre ich, dass etwas fehlte. Du bist das Wichtigste in meinem Leben und alles, was zwischen uns gewesen ist, bleibt wahr und richtig. Er weiß, dass ich nicht frei bin und dass ich es nicht sein möchte. Und doch zieht es mich zu ihm.“
Das klang so schwülstig, so kitschig. Wie sollte sie die richtigen Worte finden, ihre Gefühle beschreiben, ohne ihm furchtbar weh zu tun?
Charlotte stand wieder auf, ging zum Fenster und starrte blicklos hinaus. Sie kaute an der Nagelhaut ihres Zeigefingers, zog und zupfte mit den Zähnen, bis es blutete.
Durch das Fenster drang das Tirilieren eines Vogels, es klang wie: „Entscheide dich, entscheide dich …“

Lukas würde sie mit einem roten Teppich empfangen, er wartete auf sie. Sie fühlte die Wärme seiner Hände auf ihrer Haut, das Kitzeln seiner Finger, die über ihre Wirbelsäule strichen. Sie roch den Duft nach Tieren und Desinfektionsmitteln, der sie umwehte, wenn er ihr seine Jacke umhängte, sobald er glaubte, ihr wäre kalt. Seine Stimme war wie ein Kaschmirpullover und seine Umarmung schien ihr wie ein magischer Mantel, der alles Böse von ihr abwendete.
Charlotte spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Sebastian verlassen? Sie liebte ihn doch, sich ein Leben ohne Sebastian vorzustellen, gelang ihr nicht. Es war ihr unendlich schwergefallen, ihn in den letzten Wochen anzulügen. Nicht nur deshalb hatte sie sich vorgenommen, eine Entscheidung zu treffen, jetzt, solange er auf Klassenfahrt war. Sie hatte geplant, ihm danach den Brief zu geben, aber heute Abend würde Sebastian nach Hause kommen und der Brief war nicht fertig und sie zu keinem Entschluss gekommen.

Charlotte ging zum Schreibtisch und blickte auf den angefangenen Brief. Was sie hier aufgeschrieben hatte, würde Sebastians Welt zerstören.
Sebastian, der nie etwas forderte, sie nie bedrängte. Er war da, wenn sie Halt brauchte und ließ ihr Luft, wenn sie nach Freiraum verlangte. Sebastian, der ihr, sollte sie je einen Mord begehen, unaufgefordert ein Alibi geben würde, überzeugt, dass sie stichhaltige Gründe für ihre Tat gehabt hätte.
Charlotte blinzelte. Lukas dagegen, dachte sie, würde bedingungslos den Mord für sie begehen.
Charlotte schluckte und drehte das Blatt in den Händen. Sie liebte beide Männer und doch musste sie sich für einen entscheiden.

„Verdammt“, Dackel Hermann zuckte vor Schreck und stieß sich die Schnauze an der Sofaecke. „Verdammt“, noch einmal fluchte Charlotte und mit einer heftigen Bewegung wischte sie alles vom Schreibtisch. „Komm, Hermann“, rief sie, schnappte sich Handy und Schlüsselbund und verließ das Haus durch die Tür zur Garage. Dort setzte sie Hermann in den Korb am Lenker, schob ihr Fahrrad nach draußen, stieg auf und fuhr los.
Immer schneller, immer fester trat sie in die Pedale. Der Wind zerrte an ihren Haaren. Hermanns Ohren flatterten. Ihre Finger umklammerten den Lenker.
Sie wollte sich zwingen, das rational zu entscheiden, obwohl sie eher der der Typ für spontane Bauchentscheidungen war.

Charlotte wusste, in der Agentur war sie bei den Kollegen gefürchtet für ihre plötzlichen Ideen, mit denen sie die anderen in den Strategiesitzungen oft überrollte – vorsichtiges, taktisches Abwägen war nicht ihr Stil.
Doch jetzt fühlte sie sich eher wie eine Maus, die sich nicht entscheiden konnte, welche Käseecke sie fressen sollte, als wie der Tsunami, mit dem Sebastian sie so oft verglich.
Mittlerweile hatte sie die Mühle im Wald erreicht. Charlotte hob Hermann aus dem Fahrradkorb und ließ ihn laufen, während sie ihr Fahrrad vor dem geschlossenen Café ankettete. Sie ging zum Mühlenbach und setzte sich mit dem Rücken zum Weg auf die Felsbrocken, die quer im Wasser lagen.
Auf der anderen Seite des Baches hatte sich ein Luftballon mit der Schnur im Gestrüpp verfangen und torkelte im Wind.

Tja, wäre sie eine Französin, dann wäre das natürlich etwas anderes. Dann würde sie ihre Louis-Vuitton-Handtasche schlenkernd auf hohen Prada-Absätzen über die Champs-Elysée stöckeln, auf dem Weg zu ihrem aufregenden Liebhaber, nachdem sie gerade mit ihrem Ehemann eine heiße Liebesnacht verbracht hätte. Eine Französin würde nicht zwischen den beiden Männern wählen, sie würde eine solche Ménage à trois wahrscheinlich vollauf genießen – und ihren Freundinnen gegenüber damit prahlen.
Charlotte meinte, Sebastian lachen zu hören, als sie dies dachte. Sie liebte sein Lachen, in das sie eintauchen konnte wie in einen glitzernden Sonnenstrahl, sein Lachen, das nie völlig aus seinen Augen verschwand.

Charlotte knabberte an ihrem Fingernagel und beobachtete den Ballon, der an seiner Schnur auf und ab hüpfte.
Ihre Mutter hatte Knöpfe abgezählt, wenn sie sich nicht entscheiden konnte.
Als Teenager hatte Charlotte mit ihren Freundinnen Blütenblätter abgezupft: „Er liebt mich, er liebt mich nicht …“ Ein Orakel.
Ein Orakel? Ein Orakel!
Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie laut gesprochen hatte. Hermann kam angerannt und legte sich hechelnd neben sie.
Ihr Handy pfiff. Als sie es aus der Tasche zog und sah, dass eine SMS eingegangen war, fiel es ihr ein. Sie hatte eine Verabredung vergessen, eine Verabredung mit Lukas. Das war ihr noch nie passiert. Mit keiner Windung ihres Hirns hatte sie daran gedacht, dass sie ihm versprochen hatte, ihn heute Nachmittag in der Galerie zu treffen. „Wo bist du“, schrieb er, „ich warte auf dich. Ist dir etwas passiert?“ Sie stellte sich vor, wie er durch die Ausstellung wanderte auf der Suche nach ihr, wie immer um sie besorgt, nie verärgert. Charlotte schaltete ihr Telefon stumm und steckte es zurück in die Hosentasche, ohne zu antworten.

Ein Windstoß zerrte an dem Ballon und blies ihn flach über das Wasser, ohne ihn vom Busch zu befreien.
Ein Orakel. Sollte sie eine Margeritenblüte abzupfen: ein Blütenblatt für Sebastian, ein Blatt für Lukas, das nächste für Sebastian …? Sie könnte auch eine Münze werfen, Kopf für Lukas, Zahl für Sebastian. Oder Hermann das Orakel sein lassen: Hebt er beim Pinkeln das rechte Bein, bleibt sie bei Sebastian, hebt er das linke …
Alles nicht das Richtige, Charlotte stöhnte, Hermann blickte sie an, seufzte tröstend und … pinkelte. Dabei senkte er sein Hinterteil und alle Pfoten blieben fest auf der Erde. Charlotte prustete und zupfte Hermann am Ohr.

Da hörte sie, wie sich auf dem Weg hinter ihr Schritte näherten. Hermann legte den Kopf schief und lauschte ihr interessiert, als sie ihm zuflüsterte:
„Jetzt oder nie, Hermann. Wenn das ein Mann ist, der da kommt, bleib ich bei Sebastian, ist es eine Frau, gehe ich zu Lukas.“ Hermann sah ihr in die Augen und schien zu fragen: „Und wenn es ein Paar ist?“ Dann lerne ich Französisch, dachte sie.
Hermann lugte um sie herum. Charlotte starrte ihn an, holte tief Luft, hielt den Atem an.
Und da wusste sie es, in diesem Moment wusste sie, was sie tun würde.
Charlotte stieß den Atem aus, stand auf, nahm Hermann auf den Arm und ging, ohne sich umzusehen, den Weg zurück, den sie gekommen war.
Auf der anderen Seite des Baches löste sich der Ballon und flog über dem Wasser davon.

Renate Müller
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Boxer oder Eingriff?

Blau war seine Lieblingsfarbe. So viel war klar. Das war einfach.
Aber wie viele verschiedene Blaus gab es? Himmelblau, Nachtblau, Marineblau, Veilchenblau usw. Was würde ihm gefallen?
Robert stand auf der Straße und haderte mit sich. Boutique oder Kaufhaus? Amazon oder Otto Versand? Boxer oder Slip? Microfaser oder Feinripp? Eingriff oder Knöpfe? Seide oder Spitze? Nein, das dann doch nicht.

Erstmal eine Runde über den Marktplatz, eine Tasse Kaffee bei Tante Käthe. Und dann vielleicht Onkel Google fragen.
Strategisch angehen die Sache. So wie er es immer machte, so wie es immer zu guten Ergebnissen führte. Genau. Ein Projektplan musste her, eine Pro-und-Kontra-Liste, ein Gantt-Chart, Milestones definieren, Etat aufstellen, Stakeholder benennen.
Robert atmete auf. Das war der richtige Weg. Das wäre doch gelacht, wenn Ruth Recht behalten würde. Sie hatte vorgeschlagen, dass sie die Sache für ihn erledigen könne. Sie traute ihm eben nie etwas zu. Dabei war er der geborene Problemlöser. Der Stratege. Der durchsetzungsstarke Strippenzieher.

Wie lange stand die Bedienung schon neben seinem Tisch und wartete auf seine Bestellung?
„Ein blauer Kaffee mit Spitze, bitte.”
„Sie meinen doch wohl einen schwarzen Kaffee mit Milch, oder?”
„Hab ich doch gesagt. Und bringen Sie mir bitte etwas zu schreiben, ja? Einige große Blätter und mehrere Stifte in verschiedenen Farben.”
Als seine Bestellung kam, der Kaffee und das Schreibzeug, musste Robert erstmal den Platz wechseln. Die plakatgroßen Blätter, die der Kellner besorgt hatte, passten nicht auf den winzigen Bistrotisch. Robert zog mit allen Sachen in das Nebenzimmer des Cafés und entschied: „Hier kann ich gut arbeiten.”

Doch ohne Flipchart ging das nicht. Robert schaute sich um und entdeckte den kauenden Kellner: „He, kommen Sie mal. Geben Sie mir Ihren Kaugummi.“ Der Mann starrte ihn mit offenem Mund an. Robert juckte es in den Fingern, sich den Kaugummi selbst zu nehmen. Dann zuckte der Kellner mit den Schultern und spuckte den Kaugummi in Roberts Hand.
Der pappte damit den großen Bogen Papier an die Wand und vergaß sogar, sich zu ekeln.
Den anderen Bogen riss Robert in etliche kleine Stücke. Nun konnte er seinen Masterplan ausarbeiten.

Fünfzehn Minuten später stand Robert in unveränderter Haltung vor der weißen Wand, nur der Stift in seiner Hand war beinahe durchgenagt. Es war zum Mäusemelken, zum Das-Blaue-  vom-Himmel-Runterfluchen. Er kam keinen Schritt voran.
Aber noch würde er nicht aufgeben. Von vorne denken, nicht mittendrin anfangen. Geplant vorgehen, nicht impulsiv wie Frauen. Er war nicht emotional, er handelte stets rational.
Robert schrieb das Wort „Blau” mit blauem Stift oben auf das Blatt. Darunter mehrere Pfeile: ein roter führte zu Baumwolle, ein grüner zu Microfaser, der dritte in Violett zu Satin. Der vierte führte ins Leere, mehr Stoffarten fielen Robert nicht ein.
Nächste Stufe: Form Fragezeichen. Boxer, Slip oder großes Fragezeichen. Gab es noch andere?

Der Kellner brachte die fünfte Tasse Kaffee.
„Bitte bringen Sie mir einen Schnaps. Schnell”, flehte Robert.
Er kam nicht weiter. Und dabei war er noch gar nicht zur alles entscheidenden Frage vorgedrungen: Einzelstück oder Mehrfachpackung?
Der Schnaps kam und erschien ihm wie ein himmlisches Labsal, wie Manna, wie von Göttern gesandter Nektar. Jetzt würde es besser gehen.
Jetzt.
Jetzt klingelte sein Handy.
Ruth.
Sie rief so laut, als wollte sie ohne Satellitenhilfe kommunizieren: „Wo bleibst du denn? Die Besuchszeit in der Klinik ist fast vorüber. Hast du die Unterhosen für deinen Vater?”

Renate Müller
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