Schlagwort-Archiv: Wortglauberei

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Vielleicht klingt es wie Thomas Bernhard

Also sagte sie, nachdem sie den Lehrling, der ahnungslos war, nämlich von so einer großen Ahnungslosigkeit, wie sie nur den Lehrlingen eigen sei, und diese Lehrlingsahnungslosigkeit, das sei doch eigentlich das Schlimme, nicht wahr, es gebe nur Weniges, was von ebendieser Ahnungslosigkeit übertroffen werde, dieser Dumpfheit und Gleichgültigkeit. Ebenjener Lehrling, dieser Dümmling, der es doch fertiggebracht habe – und das müsse man sich einmal vorstellen –, ja, das könne man sich eigentlich gar nicht vorstellen, wenn man es recht bedenkt, so wie die meisten Leute es eben bedenken, dieser Lehrling hat es doch fertiggebracht, dass er diesen Waschlappen, diesen Fetzen Stoff von billigster Ausschussqualität, diesen Wegwerflappen –  und es seien dies heutzutage nur noch Wegwerflappen, so wie alles heutzutage nur noch Wegwerfprodukte von billigster Ausschussqualität –, in die Wäscherei bringt und dafür noch eine Rechnung von zwei Euro neunundneunzig bekommt. Diesen Waschlappen, diesen billigen Ausschusstextilwegwerflappen habe sie sich, weil sich die Gelegenheit biete, und diese biete sich ja und umso mehr als studierte Kunsthistorikerin, das solle man sich einmal vorstellen, sie habe, sagte sie mir, sich diesen Wegwerflappen in ihr Büro hängen und rahmen lassen, und der Rahmen, nicht wahr, verändere ja alles und mache diesen Wegwerflappen zu einem Kunstobjekt und – das wäre nicht das  Erstaunliche – jetzt sehe er ja aus wie Kunst und es könnte ja von Joseph Beuys, was ja der ungelernte, der ahnungslose Betrachter nicht wissen könne, und da sei sie jetzt stolz, und nachdem sie das sagte, notierte ich mir diese dümmliche Geschichte, wie beinahe das ganze dümmliche Geschwätz, das sich ja letztlich nur noch um sich selbst im Kreise drehe, um den eigenen Status zu bestätigen, denn den Dümmlichen sei ihr Status gewissermaßen heilig und ebenjene  Person, deren Stolz jene verblödete Geschichte, die sie mir erzählte, und heutzutage häuften sich diese verblödeten  Geschichten ja, ebenjene Person brachte mich auf die Idee, eine Idee, die vielleicht selbst dieser Verblödung nichts entgegenzusetzen hätte, aber immerhin hätte es mich auf die Idee gebracht, diese Geschichte, wie sie sagte, zu erzählen (und durch meine Worte, meine jämmerlichen Worte bewegten doch nichts, eben das sei ja das Tragische) und sich dabei zu denken, dabei sei das Denken in diesem Moment überhaupt nicht förderlich, ja das Denken sollte in solchen Fällen verboten werden: Immerhin klingt es jetzt ein wenig wie Thomas Bernhard.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 22065

BTS

„Suga, ich will ein Kind von dir!“, ruft mir eine sehr junge Frau zu. Eine besonders hübsche, wie ich bemerke. „Ein Kind von mir?“, frage ich mich. „Das ist nicht möglich. Ich bin doch ein Loser, ein Niemand, und noch dazu ständig pleite. Außerdem heiße ich anders.“ „Tschuldigung“, ruft mir nun die sehr junge Frau zu. „Ich habe nur geübt, fürs nächste BTS-Konzert, wissen Sie?“

Der rote Frauenmund

Der rote Frauenmund

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 22061

Understanding Mölzer. Ein Essay

In den letzten Wochen ist es immer wieder zu Diskussionen über die Äußerungen von Andreas Mölzer gekommen. Wie ist damit umzugehen? Es gibt die eine Fraktion, die zu Recht empört ist und die Äußerungen Mölzers als neuesten verbalen Tiefpunkt in der österreichischen Politik ansieht. Beschweren sich nun Erstere über die unhaltbaren und unerträglichen Sätze, werden diese wiederum als linkslinke Wortverdreher abqualifiziert und Mölzer als deren Opfer stilisiert.

Was können wir als langfristig daraus lernen? Dass wir mit unserer medialen Empörung der FPÖ in die Hände spielen, möglicherweise.

Versuchen wir doch einmal, Mölzer wortwörtlich zu nehmen und uns in seine Gedankenlogik hineinzuversetzen. Als Erstes wäre da der Textausschnitt aus dem SZ-Magazin. Darin behauptet der EU-Abgeordnete:

Es ist eine Frage auch des gestalterischen, des Arbeitsethos, was aus diesem Europa wird:
Entweder sind wir ein Negerkonglomerat, totales Chaos, sage ich jetzt bewusst brutal
politisch nicht korrekt. Wo das Chaos sich vermehrt, wo Massenzuwanderung, wo
institutionelles Chaos, wo wirre Konzerninteressen ...(SZ-Magazin)

Was will uns Mölzer also damit sagen? Er entwirft in diesen Sätzen ein Krisenszenario, das er durch seine Wiederwahl ins Europäische Parlament zu verhindern hofft: also ein durch ein wie auch immer beschaffenes Konglomerat ausgelöstes oder kultiviertes Chaos, das Massenzuwanderung und Konzerninteressen nichts entgegenzusetzen habe. Dies sage er „bewusst brutal politisch nicht korrekt“. Andererseits beklagt er sich wieder darüber, dass es „sicher nicht so viele Regeln und Vorschriften, Gebote und Verbote“ in den „düstersten Systemen“ des 20. Jahrhunderts gegeben hätte. Wie passt dies alles zusammen?

„Und allmählich dämmerte es ihm, ... dass er von jetzt an, falls es ein Von-jetzt-an für ihn
geben sollte, sein krankhaftes Streben nach Ordnung aufgeben und sich ein wenig Chaos
gönnen musste; denn Ordnung war nachweislich kein Ersatz für Glück …“ (John Le Carré)

Schon ein Blick in den Duden „Abwesenheit, Auflösung aller Ordnung; völliges Durcheinander“ hätte genügen müssen, um zu sehen, dass ein Konglomerat, das totales Chaos in sich birgt, nicht viel mit „Regeln, Ge- und Verboten“ zu tun haben kann. Weitere Quellen oder Beispiele für seinen eigenartigen Vergleich nennt er natürlich keine. Was kann es denn dann sein, das den EU-Abgeordneten Mölzer so sehr an seiner Institution zweifeln lässt? Wozu möchte Mölzer dann in das EU-Parlament gewählt werden? Und wie stellt er sich eigentlich die EU vor, für die er doch kandidieren möchte?

Gehen wir dafür nun einen Schritt weiter mit unserer Analyse und nehmen wir uns die Interpretationsansätze zu Hilfe, die Mölzer selbst nachgeliefert hat. Es könnte ja Mölzer durchaus – und besonders als Österreicher – ein Freudscher Versprecher unterlaufen sein und er sich „zu den Wünschen bekannt“ haben, welche er als seiner „Persönlichkeit nicht gemäß und als peinlich abgewiesen hat“.

Setzt man nun in den oben genannten Text ein – Zitat „nekrophiles Konglomerat“ ein, so könnte auch Mölzer selbst – immerhin mit seinen 61 Jahren auch nicht mehr der Jüngste – und seinem Wunsch nach – ich zitiere: „nicht so viele[n] Regeln und Vorschriften, Gebote[n] und Verbote[n]“ in den düstersten Systemen (Stichwort: Nekrophilie!) vielleicht ja selbst Teil dieses Problems sein, ohne es sich überhaupt bewusst geworden zu sein. Wie heißt es doch im Matthäusevangelium 7, 3 (Jawohl, Abendland in Christenhand!): „Den Splitter im fremden Auge sehen, aber nicht den Balken im eigenen.“

Auch die Phonetik birgt manchmal größere Schwierigkeiten in sich, als sie auf den ersten Blick vermuten lässt: Trotz oberflächlicher Ähnlichkeit kommt das N-Wort von „niger“ (schwarz), „nekrophil“ hingegen von „nekros“ (tot). Und dann wären wir wieder einmal beim Thema Freudscher Versprecher: Vielleicht hat das Ausländerbild der FPÖ schon dazu geführt, beides in eine  besorgniserregende semantische Nähe zu rücken: Omofuma oder die jüngsten Ereignisse im Mittelmeer zeigen es ja.

Es ist darum fast schon schade, dass Mölzer sich nicht so elegant und einfach – dem Vorbild seines Parteivorsitzenden Strache folgend – aus der Sache herausredet, er habe doch nur so ganz spontan während des Interviews etwas Trinkbares bestellen wollen (Drei Bier! – Konglomerat).

Spätestens hier aber rudert Mölzer zurück und entschließt sich für eine andere Argumentationsstrategie: Er geht noch einmal zurück zum N*-Wort und behauptet offensiv:

„Das Wort Neger als solches ist ein normales deutsches Wort, das weder eine Wertung noch sonst etwas beinhaltet. Das kann man verwenden, genauso wie das Wort Zigeuner.“

Was heißt das? Will Mölzer etwa damit sagen, dass nur ein „normales deutsches Wort“  die Weltsicht des „normalen Deutschen (oder Österreichers)“ im FPÖ-Sinn repräsentieren darf? Dann scheint diese Aussicht logisch. Vielleicht ist auch Mölzer jemand, der sich im Gegenzug sehr gerne als Gringo, Gadscho, Langnase, Bleichgesicht bezeichnen lässt, denn wenn schon biologische und rassische Taxonomien, dann bitte richtig!

Warum stand Mölzer dann anfangs nicht zu seinem N*-Wort,wenn es doch so ein „normales deutsches Wort“ ist? War es für sein Über-Ich vielleicht nicht ebenfalls ein genauso „normales deutsches Wort“? Oder war es ebenfalls wieder nur der Freudsche Versprecher, der im Übrigen besonders häufig im Vergessen fremdsprachlicher Worte zu Tage tritt: Natürlich bedeutet die metasprachliche Äußerung „brutal politisch nicht korrekt“ auch dasselbe wie „satirisch-ironisch“. Ist ja eh wurscht, sind ja alles Fremdwörter. Da kann man ruhig auch mal „satirisch-ironisch Tacheles“ reden, wie er auf seiner Webseite schreibt.

Was sollte dann auch der Begriff N* für Mölzer beinhalten? Einen Menschen, möglicherweise? Vielleicht definiert ja der freiheitliche EU-Abgeordnete „normale deutsche Wörter“ einfach so, dass sie „weder Wertungen noch sonst etwas beinhalten“. Damit ist schon einmal ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur De-Chiffrierung Mölzers getan. Sollte es sich am Ende gar noch herausstellen, dass es sich bei ihm um einen Sprachskeptiker Wittgensteinscher Prägung handeln sollt?

Vielleicht hat die sprichwörtliche FPÖ-typische Gedankenfreiheit einfach schlicht Angst vor der bösen EU und der noch viel böseren NSA und dafür eine dem Laien unverständliche Chiffrensprache entwickelt?

Es stimmte übrigens auch: Das N*-Wort ist rückwärts gelesen, ein ganz normales deutsches Wort: Es bedeutet nämlich „Regen“. Diese Lesart (engl.: Backward Messaging) ist natürlich berechtigt – ein jeder Fan von Led Zeppelin, Nirvana und Co. weiß das. Vielleicht sei das N*-Wort ja als dezenter Hinweis darauf gedacht gewesen. In diesem Sinne:

„Tkerrok tchin hcsitilop laturb tssuweb tztej hci egas, soahC selatot, taremolgnokregeN nie riw
dnis redewtne.“ (saerdnA rezlöM)

Quellen:

Geschrieben im Vorfeld der EU-Wahl 2014 anlässlich der Kandidatur Andreas Mölzers

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 22058

Lesen, ein Fenster in die Welt hinaus

„Die Sprache macht den Menschen – die Herkunft macht es nicht“, meinte im Film „My Fair Lady“ der erfolgreiche Sprachforscher Professor Higgins.

Ja, die Sprache formt den Menschen, und erst mit der Sprache kann er Bildung erwerben. Wobei die Sprache bereits Teil der Bildung ist. Und wie ein Mensch ist, weiß man erst, wenn man mit ihm gesprochen hat. Man wird eingeschätzt, wie man sich neben Erscheinung und Benehmen auch sprachlich gibt. Das Kind lernt von Eltern und Umgebung, sich auszudrücken und zu verstehen, was von ihm erwartet wird. Das genügt vorerst zum täglichen Gebrauch. Später wird verlangt (und auch vom Kind selbst gewollt), mehr von der Welt der Erwachsenen zu verstehen, auch seltener verwendete Wörter richtig zu interpretieren. Dafür sind die Gespräche der Erwachsenen untereinander so wichtig, bei denen die Kinder zuhören und mitlernen („Papa, was ist ein …?“). Hand in Hand geht damit auch das Erlernen und Anwenden des „kleinen Einmal eins“, der Umgang mit kleineren Zahlen fürs tägliche Leben. Spätestens mit der Schulreife wird ja das (eigene Taschen-)Geld sehr wichtig.

Lesen in der Praxis:

Ohne Lesefähigkeit könnte man in unserer westeuropäischen Welt kaum überleben: Nicht nur, dass Lesenkönnen selbstverständliche Voraussetzung für jede Arbeitsstelle ist; man könnte heute nicht einmal mehr den Einkauf für das tägliche Leben bewältigen. Bei Tiefkühlpackungen ist noch abgebildet, was enthalten ist, aber schon bei den vielen Molkerei- und Fertigprodukten weiß man, ohne Lesen zu können, wirklich nicht mehr, was drin ist. Wobei es uns oft – meinen Zyniker – bei den vielen Farb-, Geschmacks- und Haltbarkeitszusätzen aus den chemischen Labors manchmal den Appetit verderben würde, wenn man das alles lesen und verstehen könnte. Und natürlich ist zum Erlernen einer Fremdsprache die Grundvoraussetzung, lesen zu können. So hatte zum Beispiel in Dänemark eine englische Touristin das Pech, immer wieder „sauer gewordene“ Milch zu erwischen, wenn sie ihrem Kind einen Kakao machen wollte. Erst nach späterer Rückfrage bei ihrer Zimmerwirtin klärte sich auf, dass sie die grüne Packung, in der Sauermilch war, für Frischmilch („grün = frisch?“) gehalten hatte.

Einer der Gründe, warum die jungen Menschen von heute ihre Sprache nur mehr rudimentär gebrauchen können (beherrschen wäre hier wohl das falsche Wort) ist der Umstand, dass ihr Sprachschatz eher klein geblieben ist – und damit auch ihr Sprachverständnis und die Orthographiekenntnisse. Warum? Weil sie viel zu wenig gelesen haben. Denn je mehr man liest (gute Literatur natürlich), desto mehr Wörter lernt man kennen – und damit auch deren Schreibweise und Bedeutung. Ganz ohne Schule!!! Hier eignen sich die oft als ebenso unmodern wie unnötig empfundenen „Klassiker“ wie Schiller, Goethe, Lessing und die deutschen „Romantiker“ sehr gut als Meister einer flüssigen, einprägsamen und eleganten Sprache. Und erst die Märchenbücher! Schon in der Volksschule sollte man hier ansetzen und auch der Lyrik ihren Platz einräumen – schließlich gehen Gedicht und Phantasie Hand in Hand.

Lyrik merkt man sich nämlich sehr gut, Übung macht auch hier den Meister – es muss ja nicht gerade Schillers „Glocke“ sein, die man früher so manchem unwilligen Schüler als Strafarbeit zum Auswendiglernen zugemutet hatte. Und wer in der Schule die bei uns ehedem üblichen Lieder (zum Beispiel: „Wenn alle Brünnlein fließen“, „In die Berg bin i gern“, „Das Wandern ist des Müllers Lust“ usw.) gelernt und gesungen hat, wird diese Texte (und deren Aussagen und Stimmungen) bis ins hohe Alter behalten.

Lese-Erfahrungen des Autors

Meine Mutter hat mich, seit ich laufen konnte, immer zum Einkaufen auf den Hannover-Markt in Wien-Brigittenau mitgenommen. Ich bin gerne dabei gewesen, weil es dort so viel zu sehen und zu riechen gab. Da waren das Fischgeschäft, der Kaffeeröster und der Sauerkräutler, und die vielen Obst- und Gemüsestandeln, wo es je nach Jahreszeit nach Erdbeeren, Pfirsichen, Äpfeln, Kohl oder Zwiebeln und Sellerie geduftet hat. Und natürlich auch nach Wurst, Selchfleisch und warmem Leberkäse beim Fleischhauer.

Aber eines hat mir immer gefehlt: Auf den Firmenschildern oben an den Kiosken waren Schriften in verschiedener Art und Farbe angebracht, die mich interessierten, welche ich aber nicht lesen/verstehen konnte. Oft und oft habe ich meine Mutter gefragt, welche Bedeutung denn diese Schilder hätten, aber sie hat mich immer auf die demnächst zu besuchende Schule vertröstet, und dass da nur der Name und Beruf der Geschäftsleute stünden. Nach zwei Klassen Volksschule stand endlich auch mir die Welt der (Druck-)Schrift offen – und einige der damaligen Kioskschilder sind mir ob der altmodischen Bezeichnungen bis heute in Erinnerung, wie zum Beispiel „Agrumen, Kolonialwaren, Grünwaren, Südfrüchte, Landesprodukte“ etc. Und etliche Namen der Händler spiegelten damals noch die Länder der K.- u.-k.-Monarchie wider.

Ich habe in meiner Nachkriegskindheit und -jugend, wo es die elektronische „Zerstreuung und passive Unterhaltung“, also den „Konsum“ geistloser Spiele, Shows und Werbung nicht gegeben hat, immer gerne und viel gelesen. Während meines „Seniorenstudiums“ habe ich besonders gerne halbe Tage in der National- und der Universitätsbibliothek verbracht. Einen Tisch, eine Leselampe und die ganze Welt der Bücher für sich zu haben, das hat schon was. Und rund um einen nur Ruhe und Menschen mit gutem Benehmen, welche diese geistvolle Umgebung ebenfalls schätzen. Man konnte förmlich hineinfallen in die Welt der Bücher. Ein angenehmer Nebeneffekt war auch, dass die Lesesäle der Nationalbibliothek und die der katholischen Fakultät unterirdisch angelegt, also in den heißen Sommern wohltuend kühl temperiert waren.

Warum Lesen?

Lesen ist nicht nur wichtig: Lesen ist schön, herrlich, interessant, phantastisch, ein Quell der Freude, ein angenehmer Zeitvertreib, ein gutes Werkzeug, ein Schlüssel zu vielen Türen, ein Fenster in fremde Welten, eine angenehme Art der Bildung, ein Zeichen von Würde und Menschlichkeit, ein Weg zum guten Leben und eine persönliche Stütze, wenn’s nicht so gut läuft. Oh ja, es gibt Bücher, die froh machen, Bücher, die Trost spenden, Bücher, die das Wissen erweitern und anregen u. v. m. Natürlich nur dann, wenn man sie auch liest! Und wenn sie „nur“ die trübsinnige Langeweile vertreiben, ist auch schon etwas gewonnen.

Wie schön, entspannend und gleichzeitig aufregend ist es doch, sich in einem schönen Wohnzimmer oder einer gut ausgestatteten Bibliothek mit einem dicken Buch in den Ohrenfauteuil zu setzen und beim Lesen die Zeit zu vergessen. Sich in die Geschichte hineinzuleben, die Gegend und Orte, die Personen der Handlung in der Phantasie auszumalen, ja zu erträumen, sich in die Gefühle und Denkmuster der Personen hineinzuversetzen, so quasi: „Was würde ich an deren Stelle tun“ oder so. Ein ganzer Nachmittag mit so einem Lese-Erlebnis ist ein Geschenk, ein die Phantasie bereicherndes und das Gefühl der Zufriedenheit hinterlassendes Abenteuer. Und ein erholsames Nervenbad obendrein. Der Autor hat einmal drei Wochen Spitalsaufenthalt mit Hilfe vieler schöner, interessanter Bücher sorglos und entspannt genossen. Endlich Zeit zum Lesen!

Sprachgefühl:

Wer viel (und sprachlich Gutes) liest, hat einen bedeutend größeren Wortschatz, kann sich „diplomatischer“ an verschiedene Gegebenheiten und Gesprächspartner anpassen und seine Ansichten und Wünsche besser, das heißt wirkungsvoller, präsentieren. Oder seine Verteidigung ohne Beleidigungen aufbauen, dem/den Anderen mit wirkungsvollen Argumenten und Einsichten eine bessere oder neue Sicht der Dinge ermöglichen. Und vor allem eine Prise Humor ins Gespräch einbauen, als immer willkommene Auflockerung im Dialog.

Gute Sprache ist auch ein Gleitmittel für ruppige Abläufe, ein Schlupfloch-Bohrer für ausweglose Situationen, ein Verbindungsseil zwischen auseinanderstrebenden Standpunkten, ein großer Pluspunkt bei Diskussionen und ein dicker Stein im Brett beim Kennenlernen/“Geneigt-machen“ des anderen Geschlechts, ein Türöffner und „Sympathisch-Macher“ beim noch unbekannten „Vis-à-vis“ u. v. a. An der Sprache seines Gegenübers erkennt/erfährt ein erfahrener, gebildeter Mensch auch viel über seinen Gesprächspartner, kann ihn besser einschätzen und mit ihm umgehen.

Was geschieht beim Lesen?

Ganz schön viel, und das nebeneinander, gleichzeitig, nacheinander und oft noch, nachdem man aufgehört hat zu lesen! So wie der Musiker beim Notenlesen den „chiffrierten“ Klang hört, sich im dafür vorgesehenen Teil des Gehirns die soeben „gelesenen“ Töne bilden, so wird das aus Buchstaben gebildete Wort, der ganze Satz, die Aussage im Gehirn als Bildfolge plastisch und färbig wahrgenommen – „Kino im Kopf“ nennt man es recht zutreffend. Lesen weckt – bei interessiertem Tun – sogar Gefühle im Menschen, er träumt, bekommt Sehnsucht, empfindet Hunger, Angst, Hass, liebevolle Gefühle, Wehmut, Einsamkeit, Hoffnung – die ganze Skala ist möglich. Konzentriertes Lesen kann blind und taub für die Umwelt machen, man hört nicht mehr, was im Raum los ist, was gesprochen wird, empfindet weder Hunger noch Müdigkeit, man ist gespannt, was weiter passiert, und nimmt intensiv Anteil daran, bis man „aufwacht“ wie aus einem Traum. Hoffentlich aus einem schönen.

Aber es ist auch „gedankenloses“ Lesen möglich und gebräuchlich; man sucht oft etwas Bestimmtes und überfliegt dann mehrere Seiten, ohne den Inhalt richtig wahrzunehmen, weil man auf eine ganz besondere „Botschaft“ programmiert ist. So zum Beispiel ein Jurist, der einen ganz bestimmten Paragraphen, ein uraltes oberstgerichtliches Urteil sucht o.Ä. Auch jagen besonders jüngere Leser in einem Buch nur der Handlung nach, ohne die Persönlichkeiten der Figuren, deren Umgebung und Ursachen für deren Handeln mitzunehmen. Ein älterer Leser nimmt auch die Zeit und Umgebung der Geschichte wahr, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wirtschaftliche Zusammenhänge und vieles andere.

Was auch bedacht werden sollte: Die „Rechtschreibung“, das rechte Schreiben also, lernt man ohne Mühe und wie von selbst durch das fleißige Lesen. Denn wenn man ein Wort zweihundertmal gelesen hat, dann weiß man ohne Regeln, wie das Wort zu schreiben ist. Auch das Gefühl für Satzzeichen entsteht beim Lesen (ein bibliophiler Freund von mir meint, überall dort, wo man beim Vorlesen Luft holt, gehört eines hin).

Wichtig und schön: Vorlesen

Bei Lesungen prominenter Autoren muss man sich schon rechtzeitig anmelden und Eintritt bezahlen, um den großen Schriftsteller original zu hören. Als Günter Grass aus seiner kompletten „Blechtrommel“ las, war das Theater tagelang ausverkauft.

Nicht nur Kinder lieben es, vorgelesen zu bekommen. Es war immer ein Festtag für Volksschulkinder und Lehrer/-innen, wenn vor den Ferien der Lesepate aus seinem großen Buch mit den schönen Bildern von der Mäusefamilie im Brombeerhag vorgelesen hat.

Vorlesen für Katzen:

Wissenschaftler in den USA fanden heraus, dass es Kindern mit Vorleseängsten und ähnlichen Problemen enorm helfen kann, wenn sie Katzen vorlesen. Dabei verspüren sie keinerlei Druck, und das macht das Lesen einfach und entspannt. Auch den Katzen bringt die Anwesenheit von Kindern im Tierheim viel. Dadurch, dass sie regelmäßig die menschliche Stimme in einem ruhigen, wohlwollenden Ton hören, lernen sie, dass von Menschen nicht zwangsläufig Gefahr ausgehen muss. Natürlich kommt auch das Kuscheln beim Lesen nicht zu kurz. Es gibt mittlerweile schon einige Tierheime, wo Volksschulkinder den dortigen Katzen vorlesen können.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 21123

 

 

Nachrufe

Anlässlich des Todes des / der Schriftstellers / Schriftstellerin x.

Textbaustein eins: Er / sie war ein / eine unermüdlicher / unermüdliche Mahner / Mahnerin gegen die autokratische Abnutzung der Gesellschaft.

Textbaustein zwei: Er / sie scheute sich niemals, seine / ihre Meinung kundzutun, obgleich er / sie damit ständig wirtschaftliche Nachteile in Kauf nahm.

Textbaustein drei: Bereits sein / ihr Frühwerk war durch eine hymnische Struktur gekennzeichnet. Er / sie war wahrhaft ein / eine Meister / Meisterin seines / ihres Fachs.

Textbaustein vier: „Sehenden Auges steige ich in den Abgrund“, schrieb er / sie einmal. „Und steige ich ihn wieder hinaus, schütte ich in zu.“ Mutige Worte eines / einer Staatsbürgers / Staatsbürgerin! Was ist dem anzufügen?

Textbaustein fünf: Wahrscheinlich dies, dass er / sie viel zu früh gestorben ist.

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Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 21082

 

Alphabet

Unterschreiben ging immer. Ging noch. Mit einem Schreibgerät auf Papier. Kein Problem. Aber das war nur eine schwungvolle Kritzelei, angedeutete Buchstaben, man konnte aus ihnen den Namen nicht erkennen: Heinrich Mirnig. Wenn Heinrich versuchte, aus den passenden Buchstaben seinen Namen zusammenzufügen, es funktionierte nicht. Gleich ob Schreibschrift, Druckschrift, Blockschrift, unmöglich. Ein aussichtsloses Unterfangen. Auch am Computer, wo er jetzt saß, im Büro, keine Chance. Buchstaben, Wörter, Sätze waren ihm fremd geworden, als ob er sie nie gelernt hätte. Auch Lesen klappte nicht mehr. Er starrte auf den Bildschirm und hatte keine Ahnung, was da stand.
Er musste krank sein. Ein übersehener Schlaganfall? Sind bestimmte Gehirnregionen verletzt, wusste Heinrich, kann man nicht mehr lesen. Nur schreiben kann man dann doch. War er etwa psychotisch? Er fühlte sich nicht anders als sonst.

Nein, er war normal. War er etwa Analphabet, hatte sich eine übliche Schullaufbahn bloß eingebildet? Auch das kam nicht infrage, welche Firma würde einen Lese- und Schreibunkundigen als Einkäufer für Lebensmittel beschäftigen? Das war der Punkt, kein derartiges Unternehmen würde ihn auf der Gehaltsliste führen. Er musste aktiv werden. Sein Unwissen durfte nicht bekannt werden, sonst würde die Firma ihm kündigen. Er betrat das Büro seines Chefs: „Herr Gollinger, ich fühle mich entsetzlich.“ Noch einige Sätze, wie leid es ihm täte, er würde sich augenblicklich in ärztliche Behandlung begeben, mit doppeltem Elan alles nach überstandener Krankheit aufarbeiten.
Er ging nach Hause, wartete, sah in der Zeitung das Fernsehprogramm an, verstand nicht, nahm Schlaftabletten, mehr Tod als Schlaf, stand am nächsten Morgen auf, holte die Zeitung, rätselte über ihren Inhalt. Es war unverändert. Lesen und Schreiben waren für Heinrich Vergangenheit.

Mit der Zeit fiel es auf. Bald war es nicht mehr zu übersehen. In den Lokalen las kaum jemand mehr eine Zeitung, dafür stapelten sich alte Ausgaben in den Läden, weil ganz selten jemand eine neue kaufte, auf Handys wurde fast nicht mehr getippt, sondern sie wurden so gut wie ausschließlich zum Telefonieren genutzt. Eine Seuche beginnt mit einigen wenigen Krankheitsfällen, Epidemie, Pandemie, sie kann jeden Einzelnen betreffen, gleich einem breiten Strom, der als Gebirgsbach beginnt. Bisher hatte es nur körperliche Seuchen gegeben. Das hier war die erste geistige. Die einem das Lese- und Schreibverständnis nimmt, die Fähigkeit, eine Schrift zu erkennen. Am Schluss hatte sie niemand mehr. Zumindest war keiner bekannt.

Es nutzte auch nicht, dass Alphabetisierungskurse mittels vorproduzierter Lehrvideos abgehalten wurden, die sehr gut besucht waren. Die Buchstaben fanden keinen Platz mehr in den Köpfen der Menschen. Die Schrift war Vergangenheit. Es machte auch keinen Unterschied, in welcher Sprache etwas geschrieben war. Es war überall unlesbar und unschreibbar. Es war ein weltweites Phänomen.

Die Auswirkungen waren gravierend. Es war eine totale Umwälzung der Wirtschaft. Nicht nur, dass die Zeitungen und die Verlagshäuser pleitegingen, es gab keinen Schriftverkehr mehr, niemand konnte somit noch eine Steuererklärung erstellen, Handel wurde mündlich betrieben, wodurch er auf dringend benötigte Produkte beschränkt wurde.

Aber es hatte auch etwas Gutes. Um Nachrichten zu übermitteln, wurde, sieht man vom Fernsehen ab, gesprochen. Es wurde darum viel mehr miteinander geredet. Auch wenn es nur aus Notwendigkeit war, die persönlichen Kontakte nahmen stark zu. Bei einer Frage gab keine Suchmaschine die Antwort, sondern ein Mensch. Es entstand ein lebendiger Austausch an Informationen, an Befindlichkeiten. Die Menschen machten sich ihre Angelegenheiten wieder persönlich aus. Eigentlich war das positiv.

Dann geschah Folgendes: zwei Frauen beim Kochen. „Hertha, gibst du mir bitte ein Stückchen Butter?“ „-.“ Hertha verstand nicht.

Das war das erste Anzeichen der neuen Seuche, Epidemie, Pandemie. Die Krankheit der Sprachlosigkeit.

Drehen & Verstehen – Buchstaben – 5 – 6 JAHRE

Drehen & Verstehen – Buchstaben – 5 – 6 JAHRE

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 21050

 

Der Eierschlauch auf der Autobahn

Es begab sich auf der Heimfahrt von einer einwöchigen Sommerfrische, die zu diesem Zeitpunkt bereits, anstatt der vom Navigationsgerät veranschlagten vier, sechseinhalb Stunden gedauert hatte. Dieser Zeitverlust hatte sich ergeben durch kurze Rauch- und WC-Pausen, einige Baustellen und nicht zuletzt einen fast zweistündigen Stau.
„In einer Stunde sind wir zu Hause“,  konnte ich den Kindern endlich freudig verkünden und brauste auf der leeren dreispurigen Autobahn ganz rechts dahin, den Tempomat wie immer knapp unter der Toleranzgrenze der Radarfallen eingestellt, bis ich auf einen fetten weißen Mercedes mit deutschem Kennzeichen traf, der gemächlich auf der mittleren Spur dahinzuckelte.
Vorschriftsmäßig wechselte ich auf die linke Spur, überholte den Deutschen und setzte mich ob des etwas dichter gewordenen Verkehres vor ihn.

Es war wohl eine zu große Schmach, als stolzer Deutscher im Mercedes von einem Ösi im Peugeot überholt zu werden, jedenfalls gab er sofort Gas, um wieder den Platz vor mir einzunehmen und anschließend das Tempo zu reduzieren, sodass ich abbremsen musste.
Verärgert wechselte ich erneut die Spur, um wieder nach vorne zu kommen. Auf solche Autobahn-Spielchen hatte ich überhaupt keine Lust. Diesmal gab er Gas, während ich überholte, sodass ich die Toleranzgrenze der Radarfallen empfindlich überschreiten musste, um vor ihn zu kommen.
Kaum war das Manöver geschafft und ich wieder in Führung, setzte er sich mit Vollgas vor mich,  drosselte erneut das Tempo und ich musste aufs Neue hinter dem Piefke nachschleichen.

Die ganze Fahrt über war ich gut gelaunt gewesen und erst der lange Stau hatte mein Urlaubslächeln etwas kleiner werden lassen. Doch nun platzte es aus mir heraus: „Schau dir das an: zuerst überholen, dann bremsen. So ein deppertes Oarschloch!“
Die Reaktion der Kinder folgte prompt.
„Haha!“, krähte es von der Rückbank.
„Die Mama hat Arschloch gesagt!“
Die gesamte Autofahrt hatte ich bis dahin mit Bravour gemeistert und es sogar inmitten des langen Staus geschafft, die Kinder so zu beschäftigen, dass sie friedlich geblieben waren, indem ich, nachdem der letzte Vorrat an Süßigkeiten verfüttert und weder Rätsel- noch Malbücher den Nachwuchs mehr bei Laune halten konnten, ein neues Stau-Spiel erfunden hatte, bei dem der Fahrer ein Buch vorliest. Sobald sich die Kolonne bewegt, brüllen die Kinder laut „FAHREN!“, woraufhin die geschätzten drei Meter bis zum Vordermann aufgeschlossen werden.

Ich war so gut gewesen.
Und jetzt passierte mir dieser pädagogische Super-GAU.
„Nein, ich habe nicht ‚Arschloch‘ gesagt“, ruderte ich deshalb schnell zurück. „Das hast du falsch verstanden.“
„Was hast du denn gesagt, Mama?“
Während die Kinder die Ohren spitzten, überlegte ich angestrengt, was ich denn gesagt haben könnte. Armleuchter? Nein, das glaubten sie mir nie. Vielleicht etwas mit „Loch“? Gab es denn anständige Worte, die mit „Loch“ endeten? Loch … Schloch … Schlauch?
„Ich habe gesagt, so ein Schlauch.“
„Was für ein Schlauch?“
„Na ein, äh … Schlauch halt.“
„Also ein Eierschlauch.“
„Genau, mein Kind“, lächelte ich und setzte ein letztes Mal zum Überholen an.
Während ich an dem Mercedes vorbeifuhr, bedachte ich den Fahrer, einen Mann unbestimmten Alters mit Brille und Glatze, mit einem wütenden Blick, den dieser schuldbewusst erwiderte. Es war also sogar eine dreifache Schande für ihn gewesen, als männlicher deutscher Mercedesfahrer von einem weiblichen österreichischen Peugeotfahrer geschnupft zu werden. Wahrscheinlich hätte ich ihn ebensogut mit einem Messer entmannen können.

Nachdem ich zur Sicherheit gleich noch ein paar Autos überholt hatte, begann ich über den eben mit den Kindern geführten Dialog zu philosophieren.
Bei näherer umgangssprachlicher Betrachtung war es nämlich ganz logisch: Eier (Oar) + Schlauch (Schloch) = Eierschlauch (Oarschloch).
Der Mercedes hatte mich übrigens nicht mehr einholen können.

Lydia Kellner

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 20106

Verfluchte Tage oder It’s war, baby!

„Dieses verwünschte Jahr ist zu Ende. Doch was weiter? Vielleicht kommt etwas noch Schrecklicheres. Wahrscheinlich sogar.“
Diese Sätze schrieb Ivan Bunin am 1. Jänner 1918 in sein Tagebuch, noch in Moskau, aber bald danach floh er vor der bolschewistischen Revolution über Odessa nach Paris und kehrte nie wieder zurück.
„Verfluchte Tage“ nannte der Nobelpreisträger von 1933 seine Aufzeichnungen über Revolution und Flucht vor 100 Jahren.
„… weil eines der auffälligsten Erkennungsmerkmale einer Revolution die ungezügelte Gier nach Spiel, Verstellung, Pose, Schaubude ist. Im Menschen erwacht der Affe.“
Odessa, 12. April 1919

Als mir im März 2020 beim Abstauben der Bücherregale dieses Buch in die Hände fiel, las ich es in einer schlaflosen Nacht in einem Zug durch und bemerkte, dass ich es schon mehrere Male durchgearbeitet hatte, wie ich an den unterschiedlichen Unterstreichungen und Anmerkungen feststellen konnte. Warum nur? Weil mich Umbrüche und Weggabelungen schon immer interessiert haben, sowohl bei mir, bei Menschen als auch in der Geschichte, vor allem, wenn sie zeitlich zusammenfallen. Und nun bin ich in einem von solchen Fällen Lebenszeitzeuge; da holte ich andere Exilliteratur aus dem Russenregal: „Teffy, Champagner aus Teetassen – Meine letzten Tage in Russland“ der Schauspielerin Nadeshda Lochwitzkaja; weiters die Autobiografie von Levon Aslanowitsch Tarassow, der sich im Pariser Exil Henry Troyat nannte und mehr als einhundert historische Romane schrieb; die Biografie von Olga Knipper-Tschechowa, und die von Lew Nussimbaum alias Kurban Said alias Essad Bey, der auf seiner Flucht mit seinem Vater ebenfalls in Konstantinopel hängengeblieben ist.
Dieses Warten, dieses Hängenbleiben und das Herausfallen aus der Zeit, ich glaube, es ging ihnen allen so wie dem Panther im Jardin des Plantes – und hinter tausend Stäben keine Welt. Die russische Psychoanalytikerin Sabina Spielrein erwischte der Kriegsausbruch in ihrem langjährigen Wohnort Berlin, und obwohl sie nicht ausgewiesen wurde, kehrte sie – aus übergroßer Heimatliebe? – nach Russland zurück. Dort geriet sie zuerst in die Stalin-Falle, die ihrer Karriere ein Ende setzte und später in die SS-Falle, die ihr Leben, das ihrer zwei Töchter, des Vaters und zweier Brüder auslöschte.

Als immer mehr Politiker, angefangen von Macron bis zu Trump, vom „Krieg“ gegen das Corona-Virus zu schwafeln begannen, kamen bei mir Erinnerungen auf an die vielen Emigranten, die auf der Flucht irgendwo strandeten oder sich bei Kriegsausbruch plötzlich in Feindesland wiederfanden. Sie wurden entweder expediert oder kehrten aus Patriotismus in ihre Heimatländer zurück. Das kann man in vielen Biografien aus den Zeiten vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg nachlesen. Nicht wie jetzt bei der Corona-Krise holten sie ihre Regierungen in Luftflotten nach Hause, 250 000 in Deutschland, 34 000 in Österreich, sondern sie haben ihr Leben lang dieses Gestrandetsein nicht mehr vergessen und verwinden können. Immer war es ein Wendepunkt in ihren Leben.

Tschechows Witwe Olga befand sich mit der Truppe des MCHAT, dem Moskauer Künstlertheater, gerade auf Gastspiel in Odessa, als die Oktoberrevolution ausbrach.
Nach verzweifelten und „verfluchten“ Wochen, wie Ivan Bunin diese Zeit bezeichnet, gelingt es der Truppe, ein Schiff zu kapern, das sie die Donau aufwärts bis nach Wien bringt, wo es im Theater an der Wien sogar zu einer Aufführung von „Kirschgarten“ kommt, mit der berühmten Olga Knipper in der Rolle der Ranewskaja. Meine Bibliothek steht mir gerade in meinem Corona- Exil nicht zur Verfügung, um zu überprüfen, ob es nicht das „Nachtasyl“ von Gorki war.

Bunin, der die Bolschewisten verachtete, glaubte noch einige Zeit lang an die Umkehrbarkeit der Revolution und arbeitete in Odessa an einer antibolschewistischen Zeitung mit.
Geschichten vom Hängenbleiben, von Schiffbrüchen und Rettungen hatten in den letzten Wochen auch die Medien zu bieten. Ein Segler vor der türkischen Küste, der nicht anlegen darf, andere mussten von der Karibik aus den Atlantik überqueren, Touristen in Neuseeland und Peru wollten nicht gerettet werden und blieben in Wellington und Medellin.
Besonders amüsant finde ich die Episode mit Kaiser Wilhelm II., der sich trotz der drohenden Kriegsgefahr im Juli 1914 nicht von seinem alljährlichen Urlaub auf seiner Segeljacht „Kiel“ abbringen ließ und um ein Haar zur eigenen Kriegserklärung zu spät nach Hause gekommen wäre. Oskar Potiorek, Oberbefehlshaber der k. u. k Balkanstreitkräfte und Verantwortlicher für das verhängnisvolle Manöver vom 27. Juni 1914, weilte gerade zur Kur in Karlsbad, als der Krieg ausbrach und musste eiligst in einem plombierten Zug an die Front gebracht werden.

Wissen diese Kriegserklärer von Macron (den ich bis dahin für ziemlich intelligent gehalten habe) bis Trump, wem die da gerade was erklären?
Krieg. Wo sind die Heere? Wo die Linien? In welchen Formationen? Mit welchen Waffen rücken sie an? Wie groß ist die jeweilige Truppenstärke? Wen haben sie gegenüber? Wie sieht der „Feind“ aus, den sie vernichtend schlagen wollen? Wie schön dagegen noch die Frontlinien in der Drei-Kaiser-Schlacht von Leipzig. Wie am Reißbrett. Oder die gedrechselte Epik des „An meine Völker“.

So unsichtbar war noch nie ein Feind seit der Pest, als man vor allem die Juden und Frauen/Hexen für die Epidemie verantwortlich machte und sie als Brunnenvergifter, als Milch- und Viehverhexer und Seuchenverbreiter und Wetterhexen verfolgte. So macht es auch Trump, wenn er – mit Augenbrille – vom chinesischen Virus oder Wuhan-Virus redet. Da man das Virus nicht zwischen die Finger kriegt, es nicht feuern und ihm nicht den Hals umdrehen kann, auch Kanonenkugeln und Grenzmauern nichts bringen, warum eigentlich nicht stellvertretend die Schuppentiere, Fledermäuse und Schlangen, die Zibethkatze und alle Hunde und wer weiß welche Tiere noch bestrafen, die auch Zwischenwirte sein könnten? Die Liste ist lang: Schleichkatzen, Marderhunde, Nerze, Frettchen für Operation Sündenbock. Besonders beliebt bei allen Verschwörungstheoretikern, Populisten, Nationalisten und Rassisten.
Aber ein Gutes hat die Corona-Krise auch: Sie zeigt überdeutlich, dass diese Leute, wenn sie in der Politik mitmischen, nichts drauf haben. Keine Lösungen, nur dumme Phrasen, vielfältiger Schwachsinn und Popanz. Wenn nicht das Gedächtnis der Menschen so kurz und lückenhaft wäre, könnten wir sie dank Corona endgültig loswerden. So ist es unwahrscheinlich, dass sich die Kurve der Dummheit schnell abflachen wird.

Mir kam einmal bei der Aufzählung all der möglichen Schuldigen die Erinnerung an das Lieblingsbuch meiner Kindheit, an Kästners „Konferenz der Tiere“ hoch, an den Löwen Alois, den Elefanten Oskar und die Giraffe Leopold: „Es geht um die Kinder!“ Die Tiere schlagen zurück. Ihr habt uns gefressen und ausgerottet, jetzt seid ihr dran!
Wahrscheinlich Corona-verseuchte, nächtliche Gehirngespinste. Wer wäre in unserer Gegenwart der erfolglose Sonderermittler Zornmüller, den die Tiere in die Flucht schlagen?
In der FAZ lese ich ein Interview mit dem Berliner Inselmakler (so was gibt’s) Farhad Vladi, der von seinem derzeit florierenden Geschäft schwärmt, und meine Buchhändlerin erzählt mir, als ich wieder ins Ladeninnere reindarf und nicht mehr durch den Türspalt die Bücher gereicht bekomme, dass ewige Ladenhüter wie Decamerone und Robinson Crusoe hoch im Kurs stünden.

So hat eine jede Krise punktuell auch ihre guten Seiten. „Always look on the bright side of life“. Wegen übergroßer Nachfrage geht Mexicos Brauereien das Corona-Bier aus, und das idyllische Dörfchen St. Corona am Wechsel schafft es sogar auf CNN mit einem Reporter-Bild vor der Ortstafel. Wie sie Wechsel wohl übersetzt haben?

Aber eines der größten Opfer in Kriegs-, Revolutions- und Corona-Zeiten ist die Sprache.
Karl Kraus lässt grüßen, hätte seine Freud gehabt und ganze Fackeln damit füllen können. In meinen Containment- und Social-Distancing-Wochen habe ich es mir zum Sport gemacht, bei den Nachrichten mitzuschreiben. Als Erstes bekamen wir english lessons: News, Topnews, Morning News, BREAKING NEWS schreit es in abscheulicher Dekoration mit dicken, alten, hässlichen Männern und dümmlichen, spärlich bekleideten, oft piefkinesisch mit piepsenden Stimmen sprechenden TV-Schnepfen in Lockenpracht. Echt sexy, trotz shutdown, lockdown, containment, social distancing, cluster, no kiss, no hug, no stop, just go and keep distance.
Oh Gott, wie sind die gebildet. Je mehr geredet, erklärt, kommentiert werden musste (Einschaltquoten!), desto mehr kommt die deutsche Sprache unter die Räder.

Die medialen Erklärer haben es zustande gebracht, die sehr, sehr wortreiche und variable deutsche Sprache – der Horror aller Deutsch-Lernenden – zu einem pigeon-german verkümmern zu lassen.
Bitte sehr, eine kleine Auswahl aus den sprachlichen Folterwerkzeugen, manche unfreiwillig lustig:
Man soll die Lanze nicht auf die Goldwaage legen.
Das Rennen um die Impfstoff läuft.
Corona kommt der Natur sehr zugegen.
Waren die Warnungen übergeschossen? Als Variante im Bericht gab’s noch:
Haben die Warnungen übergeschossen?
Eine Pandemie oder Hyperinflation gab es ebenfalls mit dem Wort: Zukunft.
Wir müssen die Zukunft neu ausrichten.
Die Zukunft wird neu.
Wir brauchen mehr Zukunft!
Meine Zukunft gehört mir!
Geht jetzt die Zukunft in den Ruhestand?
Wann kehrt meine Zukunft zu mir zurück?
Die Reparatur der Zukunft.
Den Enttäuschten schlägt es jetzt Hohn und Spott in die Augen.
Es hungert uns nach Haut.
Griechisch-orthodoxe Kirche verschiebt Ostern.
Afrika schottet sich von Europa ab.
Sommmersaison der Wiener Bäder fällt ins Wasser.
Die Intensivbetten gehen zur Neige.
Meine Brille (ein Pferd?) wird beschlagen.
Die Politiker sollen Zuversicht schüren.
Notre Dame (der Wiederaufbau) liegt auf Eis.
Obertilliach hegt auch das zweite Standbein Landwirtschaft.
Die K-Zeitung verrät am Ostersonntag in dicken Lettern am Titelblatt, warum „sich das Ostergeheimnis auch von schweren Zeiten nicht unterkriegen lässt“.

Unter einem mittelalterlichen Gemälde eines dornengekrönten Christus. Das nenn ich Pornographie, grenzt schon an Poesie, poetische Pornografie, überhaupt wenn man noch einmal hochschaut auf die Großbuchstaben mit AUFERSTEHUNG, die das ursprüngliche I.N.R.I. verdecken und erklären, „warum uns in diesen Zeiten unser Glaube besonders wichtig ist“. Welcher Glaube ist damit gemeint? Der des Pakistani? Des Trump an sich selbst?
Des Hofer Norbertl an die „leichte Grippe“?
Nachdem ich wahrscheinlich zum gefühlt 3000stenmal „Herausforderung“ und „herausfordernd“ gehört habe, in Zeiten wie diesen, das Hochfahren der Wirtschaft, eines Theaters oder sogar des ganzen Landes, hat mich das erste der vier Corona-Frühsyndrome erfasst – Brechdurchfall. Erst lief ich hin und her, dann stellte ich einen Kotzkübel neben meine Fernsehcouch und gesundete erst, als ich die Echtwörter für die Verschleierungs- i. e. Maskenwörter beisammenhatte. Hochfahren, das bringe ich seit circa 30 Jahren mit dem Computer in Verbindung, mit einem oder einigen wenigen Tastendrückern das Ding wieder zum Laufen zu bringen. Was für ein verblödetes Wortbild. Ein hochfahrender Mensch, ein altertümliches Wort aus Goethe, Theodor Fontane vielleicht, oder Jean Paul. Und da gibt’s noch das „zum Hochfahren bringen“, „das Hochfahren erleichtern und befördern“. Das erst bringt einen wirklich zum Hochfahren, überhaupt als unfreiwilliges Mitglied der Risikogruppe.

Probleme, verdammt viele Probleme, Schwierigkeiten an allen Ecken und Enden, koste es, was es wolle, niemand wird zurückgelassen. Warum reden sie nicht Klartext, es ist alles viel schlimmer, als es darzustellen ist. Und am Ende kriegen, wie in der Finanzkrise, wieder die Großen das ganz große Geld. Alles echte, tiefe Scheiße, in der wir alle bis über die Ohren sitzen, die keine Insel besitzen, keine atlantiktaugliche Jacht oder ein Landhaus in der Toskana. Russische Millionäre wollen sich im Permafrost von Sibirien einfrieren lassen, berichtet neuerdings die Ex-Außenministerin, die im Dirndl knicksende Karin K., auf dem ganz neutralen, objektiven TV-Sender RT. Das Tauen des Permafrosts samt Methan kommt früher, als ihr erstes Gehalt eintrifft. In welches Höllental uns der Kapitalismus hineingeritten hat. Ich kann nicht garantieren, ob ich beim nächsten Mal nicht einen Schreikrampf kriege und alle Blumentöpfe aus dem Fenster werfe. Das ist die eigentliche Qual der Quarantäne. Der Tsunami an schiefem und fauligem Wortmüll.

Besonders hübsche Ausreißer liefern die Corona-Maulhelden Trump, Lukashenko und Bolsonaro. Der erste rät mit Plexiglasbrille vor den Augen, Desinfektionsmittel einzunehmen und Haarbleichmittel zu injizieren (vielleicht spricht er aus eigener Erfahrung und macht das ja schon länger?); Luka empfiehlt Wodkatrinken, Feldpflügen und Fußballspielen. Bolsonaro meint, dass er als ehemaliger Militärathlet vom Virus nichts spüren würde, außerdem sei sein zweiter Vorname Messias (mit dem ersten hat’s aber kein gutes Ende genommen). B. leugnet, dass die Todesfälle etwas mit Corona zu tun hätten. Womit denn? Mit gepanschtem Schnaps? Erdogan wiederum singt ein Loblied auf den Raki. Also wieder eine Kriegserklärung: Raki gegen Wodka. „Behaltet euren Virus“ (ihr im kapitalistischen, imperialistischen, dekadenten Westen) schreit der kleine, dumme Luka unter seiner wagenradgroßen Militärmütze im vollbesetzten Fußballstadion von Minsk hervor, der in seinem früheren Leben nie Militär war, sondern Friedhofsverwalter. Idiotie kennt keine Grenzen, Nationen oder Religionen, wie mir ein aus Pakistan stammender Taxifahrer in der Waaggasse bewies, der sich am 13. April, einen Tag vor der Pflicht, weigerte, eine Maske aufzusetzen. Er braucht sie nicht, Allah schützt die Muslime. Ich bin nicht bei ihm eingestiegen, weil ich offenbar den falschen Glauben habe und trotz Corona nicht konvertieren werde.

Sogar die coolen Briten haben sich an der Kriegsrhetorik vergriffen, von Boris Johnson bis zur Queen haben sie zumindest an den Krieg erinnert mit dem very charming „Keep calm and carry on“, als es galt, einen sehr bösen, mächtigen und sichtbaren Feind zu besiegen.
Und Peng! Dann hat’s ausgerechnet Johnson und Prince Charles erwischt, der unsichtbare Feind hat hinterhältig zugeschlagen. „Prince Charles coronatet, finally“, titelte die Sun. Bösebös. Orban führt die Riege der Unmenschen an: Er schafft gleich das ganze Parlament ab, regiert per Dekret und lässt Kritiker von der Polizei abführen.
Wenn aus Brüssel wieder einmal eine halbwarme Mahnung kommt, lacht er sich eins, weil er weiß, dass Ungarn nicht aus der EU geworfen werden kann. Vielleicht sollte man ihn doch einmal mit der finanziellen Zange anfassen.
Was uns die Touristiker so gerne verkauften, die Bilder von der trauten Einsamkeit am Strand von Mont Saint Michel im Sonnenuntergang, in Hallstatt, vor dem Tadsch Mahal oder am Times Square – nun sind sie plötzlich Wirklichkeit geworden und für sie zum Albtraum. Denn die Touristiker leben auf Teufel komm raus nicht von der individuellen Einsamkeit, sondern von den Massen. Und schon fangen sie wieder an zu hyperventilieren und schwafeln von Luftbrücken an die kroatischen, griechischen und ballermännerischen Strände. Mit und ohne Gutscheine, mit und ohne Mittelplätze. Luftbrücken? Wie die Rosinenbomber, die Berlin halfen zu überleben, als Stalin es zu erwürgen drohte.

Fast demütig buhlt die Touristikministerin um österreichische Touristen, die lieben Landsleute – wenn die Piefkes ausbleiben, ohne deren Geld gar nichts geht –, doch in Österreich Urlaub zu machen. Die Heimat ist doch auch schön, nicht nur die Malediven, der Strand von Antalya und Luxor. Die unübersehbaren Reihen von Flugzeugen am Boden sprechen ihre eigene Sprache und strafen die munteren Lockangebote Lügen.
Wien macht das großartig, zuerst die Taxigutscheine für Risikogrüppler, jetzt bekommt jede Familie Gastrogutscheine. Es sind schließlich nicht nur Corona- sondern auch Vorwahlzeiten.
Neben dem realen, aber unsichtbaren Virus meine ich auch eine Seuche der Geistesverwirrung wahrzunehmen. Man kann auch political incorrect Schwachsinn sagen. In der Kindheit sangen wir gerne einen Reim: „Schwachsinn, oh Schwachsinn, du mein Vergnügen. Schwachsinn, Schwachsinn, du meine Lust!“ und lachten und brüllten dabei, bis wir heiser waren.
Angesichts der zunehmenden Anti-Corona -Demonstrationen habe ich mich schon gefragt, ob bei denen, die andere „Covidioten“ nennen, neben Bronchien und Lungen nicht auch ein höher liegendes Organ angegriffen ist. Haben die alle Trumps Treatments ein- und seine Taktik angenommen?
Und dazu Umarmen und Händeschütteln, was das Zeug hält.

Der schlimmste Angriff aller Zeiten, schlimmer als Pearl Harbour und 9/11 zusammen, nuschelt der Idiot im Weißen Haus. Aber die Botschaft ist klar: It’s war, baby.
Was ist drin für mich? Zum Teufel mit allen anderen. Egoismus und Feinddenken können auch eine Pandemie sein, konstatiert der immerkluge Ex-Präsident Obama.
Nachgelesen habe ich das in den letzten Wochen wieder einmal in Manzonis Großroman „Die Verlobten“, der die Pestzeiten in der Lombardei (!) vor etwa 400 Jahren so gut wie kein anderer beschreibt. Natürlich auch Decamerone in der Toskana.
Also: It’s war, baby!
Der neueste Gesundheitsschrei, habe ich gerade gelesen: eine Kurkuma-Kur mit Goji-Beeren.
Oje, ob das gut geht? Das eine kommt aus Persien, das andere aus China.
Zusammen mit Allah, Wodka/Raki und Bleichmittel. Alles Gute!

Nachsatz: Was ich hier mit meinem Corona-Tagebuch betreibe, ist Paläontologie, Urzeitforschung, vielleicht auch Archäologie.
Denn was gestern geschehen ist, entzieht sich uns schon heute, geht ein ins Geschichtliche, in eine Vorzeit. Das Vorgestern ist schon blasse Vorgeschichte, die vergangenen Wochen sind schon Mythologie.
„Ich muss mir auf der Spur bleiben. Ich merke es sogar schon im Jetzt, dieses Verrieseln, das Murmeln der Nornen und Schamanen, unaufhaltsam und unerbittlich.
Dass etwas gewesen ist, davon zeugt einzig, was sich davon erzählen lässt. Alles Gewesene ist gewesen wie die Saurier. Es war einmal.“ Gregor von Rezzori in „Mir auf der Spur“

13.5. 20
(Zufall? Am 13. Mai 1914 wurde Gregor von Rezzori in Czernowitz geboren.)

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 20090

Lass die Luft raus

Lange Zeit habe ich mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, dass man die Luft irgendwo rauslassen muss. Die Luft sieht man ja nicht und wenn sie weg ist, fällt es gar nicht auf. So dachte ich.
Ich glaube, zum ersten Mal bemerkte ich das Fehlen von Luft im Radlschlauch. Es ist ganz übel, weil man ja nicht mehr weiterfahren kann. Wenn man keine Pumpe zur Hand hat, muss man schieben und das ist ganz schön lästig.
Nach solchen Erfahrungen fing ich an, darüber zu räsonieren, wie es sich mit entwichener Luft verhält. Sie muss wohl oder übel erneut in das dafür vorgesehene Behältnis reingeblasen, -gepumpt oder -gepresst werden.

Ich erinnere mich, dass am Lebensende meiner Mutter einmal im Rollstuhlreifen die Luft ausgegangen war. Wir saßen bei Sonnenschein im Garten des Altenheims. Alles war gut: Die Blumen blühten, die Blätter raschelten ein wenig in der flirrenden Sommerhitze und die Vögel zwitscherten. Nur der Reifen war platt, weil sich die Luft still und heimlich aus dem Staub gemacht hatte. Es war beschwerlich, meine alte Mutter in den Schatten zu schieben. Die Sonne hat sie da schon nicht mehr leiden mögen.
Da ist ein netter junger Mann mit einer Luftpumpe gekommen und hat den laschen Reifen aufgepumpt. Wir waren glücklich und dankten überschwänglich. Meine Mutter suchte nach ihrem Portemonnaie, weil sie dem Zivildienstleistenden ein Geldstück geben wollte. Der aber sagte: „Die Luft kostet nichts.“

Dieser Satz ist mir geblieben. Die Luft kostet nichts, aber man ist froh, wenn man sie hat. Auffallen tut einem die Luft nur, wenn sie es geschafft hat, da, wo sie eingesperrt gewesen war, auszukommen. Und die Luft ist erfinderisch, sie verfügt über Mittel und Wege, ihrem Bedürfnis nach Grenzenlosigkeit Genüge zu tun. Sie liebt die Freiheit wie alles Lebendige und lässt sich nicht gern festbinden.

Der Luftballon ist so ein Gefängnis für die Luft. Wahrscheinlich kommt es nicht von ungefähr, dass von diesem Spielzeug für die Kinder eine solche Faszination ausgeht. Man muss den unscheinbaren Gummisack aufblasen, die Luft aus dem Körper rauspressen und in den Ballon hinein. Das geht schwer und besonders am Anfang erfordert es viel Kraft. Der Blaser muss sich total anstrengen und bekommt einen roten Kopf, bis das Teil endlich bereit ist, die fremde Luft in sich hineinzulassen. Dann bläst man energisch drauflos und freut sich, dass der Luftballon groß und größer wird.
Man will ihn so prall wie irgend möglich und es erfordert ein hohes Maß an Bescheidenheit und auch an Feingefühl, den kritischen Punkt nicht zu übersehen. Die Luft kann nämlich ihren Freiheitsdrang nicht verleugnen. Sie lässt sich nicht zusammenquetschen, bis sie nicht mehr kann. Irgendwann wird es ihr zu blöd, sie macht von der ihr innewohnenden Explosionskraft Gebrauch und lässt den Ballon platzen. Das gibt einen lauten Knall und dem Blaser fliegen die schlappen Gummifetzen um die Ohren. – So ist das, wenn einem das notwendige Einfühlungsvermögen fehlt.

Natürlich kann man sich den Luftdruck, die Pneumatik, für alle möglichen Maschinen zunutze machen. Sie erleichtert uns das Leben. Pneuma ist das griechische Wort für Hauch und Wind. In der abendländischen Religionsgeschichte spielt es eine große Rolle und füllt ganze Regalwände in Bibliotheken. Man spricht es durch die Nase. So spürt man, dass es etwas mit dem Atmen zu tun haben muss. Nach der ersten Silbe wird die Luftzufuhr gestoppt, und wäre hier das Wort zu Ende, müsste man sterben. Gott sei Dank ist man gezwungen, um die zweite Silbe sprechen zu können, wieder Luft zu holen, und wird so vor einem jähen Ende bewahrt. Das Zusammenspiel von Aus- und Einatmen wird einem bei diesem Wort bewusst.

Im Hebräischen heißt ruach Luft. Während man dieses Wort spricht, schiebt sich am gerollten r der Luftstrom vorbei aus der Mundöffnung, und das ch verschließt den Rachen. Sofort verspürt man das heftige Bedürfnis, wieder einzuatmen. Das Sprechen des Wortes ruach verlangt von einem, allen Atem, den man zur Verfügung hat, aus der Lunge rauszupressen. Man erfährt die Leere und weiß, dass man sich verausgabt hat. Man muss sofort wieder Luft holen, sonst wird einem schwindelig. Ruach ist ein Zauberwort. Es meint auch den Lebensatem, den Gott Adam eingehaucht hat.
Die aus Erde geformte leblose Hülle hat sich in einen Menschen verwandelt, in dessen Adern sauerstoffhaltiges Blut fließt. Ruach ist eines der verschlüsselten Wörter für Gott, dessen Gegenwart in jedem Luftzug genauso wie im Wind spürbar ist. Die mittelalterlichen Buchmaler haben diesen Gedanken gerne ganz dezent im Wehen eines Kleidungsstücks angedeutet.
In der Schule machen wahrscheinlich immer noch die Lehrer den Versuch mit der brennenden Kerze unter dem Glassturz. Nach wenigen Sekunden geht die Flamme aus, weil der Sauerstoff verbraucht ist und das Feuer keine Nahrung mehr aus der leblosen Luft ziehen kann. Man sieht es der Luft nicht an, ob sie tot ist, aber das eingesperrte Feuer merkt es gleich.

Das alles fällt mir zur Luft ein. Dabei geht es immer darum, sie irgendwo reinzublasen bzw. sie einzusagen. Der Spruch, der mich aber seit vielen Jahren beschäftigt, lautet: Lass die Luft raus!
Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr wurde mir bewusst, dass Ein- und Ausatmen zusammengehören. Eine Binsenweisheit, könnte man sagen, aber bekanntlich sind die einfachsten Dinge die schwersten. Atmen ist der Grundrhythmus jeglichen Lebens. Das vergessen wir häufig, wenn wir uns den Rhythmus von technischen oder elektronischen Geräten diktieren lassen.
Äußere Einflüsse wie einerseits die Verliebtheit oder andererseits der Kontakt mit Zwiderwurzen bewirken, dass unsere Atemfrequenz schneller oder noch schneller und sogar rasend wird. Manchmal ringen wir aber auch nach Luft.
Musikinstrumente bringen die Luft zum Vibrieren, wodurch Töne und Wohlklänge entstehen, die sich wiederum auf unser Befinden auswirken und unweigerlich auch unsere Atmung beeinflussen.

Zur Luftzirkulation im Körper ließe sich auch noch eine Menge sagen, soweit ich sie begriffen habe. Die Luft sucht sich alle möglichen unkonventionellen Wege, um an die schwesterliche Luft im Außen zu kommen und sich austauschen zu können.
Mir geht es aber jetzt vor allem darum, der Tiefe jenes denkwürdigen Satzes nachzuspüren, der vom Rauslassen der Luft spricht. Es ist nicht so einfach, dem banal klingenden Spruch auf den Grund zu gehen. Dazu muss ich noch etwas weiter ausholen.
Aus dem Hinduismus kenne ich Statuen vom tanzenden Shiva, der mit seinen Händen eine kleine Trommel schlägt. Es heißt, dass diese Gottheit so den Rhythmus der Welt vorgibt, nach dem alles Leben sich regt. Hört Shiva auf zu trommeln und zu tanzen, kommt die Welt zum Stillstand und wir mit ihr. – Zuerst erstarrt die Luft, es gibt kein Ein- und Ausatmen mehr, der Rhythmus kommt zum Erliegen und mit ihm jegliche Bewegung. Aus ist es mit dem anmutigen Tanz, dem grazilen Einherschreiten, aber natürlich auch mit dem Daher- watscheln und -trampeln und allem anderen. – Eine friedliche Vorstellung vom Ende der Welt, wie ich finde. Shiva hat es in der Hand. Er hält die Luft an, schlägt ein letztes Mal seine Trommel, und seine tanzenden Füße verharren für immer in Bewegung. Shiva hält die Luft an, es heißt nicht, dass er die Luft rauslässt. Er kann also jederzeit wieder anfangen zu atmen, und damit begännen auch erneut der Trommelrhythmus und das Tanzen und das bewegte Leben der Menschen und Tiere und Pflanzen. Das Rad des Lebens drehte sich weiter.

Jetzt bin ich dem Satz schon recht nahe gekommen. „Lass die Luft raus!“ ist etwas anderes, als die Luft anzuhalten. Ich habe es mit einer eindeutigen Aufforderung zu tun, mit einem hörbaren Ausrufezeichen. Wo soll ich die Luft rauslassen? Aus mir? Mich nicht so aufblähen, mich zurücknehmen, mich beruhigen? Auf den Boden der Tatsachen zurückkommen? Überflüssigen Dampf ablassen? Das könnte gemeint sein. Dampf ist aber etwas anderes als Luft. Es ist nicht so einfach, wie es scheint.
Der Satz ist mit einer bestimmten Geste verbunden, die ich bisher noch nicht angesprochen habe. Es handelt sich um eine erhobene Hand, wobei nach meiner Beobachtung vornehmlich die linke dafür hergenommen wird. Die Finger umklammern eine leere Bierflasche, die dem Angesprochenen in Kombination mit dem Spruch entgegengehalten wird. Lass doch mal die Luft raus! – Ratlos blickte ich auf die Flasche, als ich zum ersten Mal damit konfrontiert wurde, und hatte keine Ahnung.

So ist das mit den Handwerkersprüchen. Inzwischen ist dieser Satz in unserer Familie zum geflügelten Wort geworden und wird nicht mehr nur vom Papa gebraucht, wenn ihm jemand eine zweite Bierflasche bringen soll. Jeder Eingeweihte möchte gern den anderen auf diese Art und Weise zu seinem Bediensteten machen.

28.02.2020

Claudia Kellnhofer
www.bitterlemonverwunderung.de

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei |Inventarnummer: 20081