Zwei belanglose Geschichten

Eins

Manchmal denke ich noch an damals, es muss ein Sommertag gewesen sein, zu Beginn der 2010er Jahre. Ich stieg in Heiligenstadt in die U4 und sah, dass eine junge Frau links von mir Platz nahm. Von ihr ist mir in Erinnerung geblieben, dass sie sich gleich auf die erste freie Bank hinter der Tür setzte und dass ihre Wangen rot waren. Ob ich sie damals angesprochen habe, weiß ich nicht, und wenn ja, dann sicher nur etwas Belangloses. Ich könnte auch nicht mit Sicherheit sagen, ob es eine Touristin oder eine Wienerin gewesen ist. Sie wäre mir vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn nicht ihr Kleidungsstil dem einer guten Bekannten ähnlich gewesen wäre. Wohin sie fuhr, weiß ich leider nicht.

 

Zwei

An einem warmen Sommertag kam ich aus dem vierten Bezirk zurück. An einer Ampel sah ich eine junge Frau in Plateausandalen, die über die Straße ging. Dabei waren die Bässe aus einem vor der Ampel stehenden Auto zu hören. Die junge Frau schien im Rhythmus dieser Musik über die Straße zu gehen und stieg in die U4 in der Kettenbrückengasse ein. Ich weiß nicht, warum ich ein solches Glück hatte, aber sie stieg gemeinsam mit mir an der Haltestelle Friedensbrücke aus. Als sie die Station verließ, ging sie wieder bei einer Ampel über die Straße. Diesmal fehlte mir die Musik. Aber ich spürte ein kleines Glücksgefühl, sie in einem anderen Bezirk noch einmal sehen zu dürfen.

Ich bin mir bewusst, dass es so viele Menschen gibt, die nur an einem einzigen Tag die U4 benützen. Und ich weiß auch, wie flüchtig die Begegnungen der Menschen zueinander in der U-Bahn sind. Rückblickend hätte ich gerne den beiden Frauen etwas Nettes gesagt, aber ein ungeschriebenes Gesetz hält die Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln auf Distanz.

Natürlich weiß ich auch nicht, ob es den beiden Frauen gefallen hätte, angesprochen zu werden.

Gerne hätte ich ihnen aber die Wertschätzung zuteilwerden lassen, die sie verdient haben.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 25122

 

 

 

 

 

 




Alter Mann im Frühjahr

Die Felder durchwandere ich
noch in ihrem unfruchtbar wirkenden Februargewand.
Doch die Arbeit im Garten
beschenkt mich mit dem ersten Grün.
Die Pflanzen haben, wie ich, überlebt.
Sie verkünden Mensch und Tier:
Der Winterschlaf der Natur endet hier.

Die kalte Luft mischt sich
immer mehr mit milder.
Meine abgestandenen, winterdunklen Gedanken
werden durchlüftet mit frischen Erinnerungen
an den Frühling meines Lebens:
Neue kurze Hemden cool präsentierend
rennen alle Jungs der Nachbarschaft
in Lederhosen durch die alt-ehrwürdige Kleinstadt.
Ich lächle: In meiner Imagination
stehe ich wieder am Bordstein,
gleichzeitig schüchtern und bereit,
mich der wilden Jagd anzuschließen.

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 25083




Orte wechseln

Hand aufs Herz: Wann fuhrest du je zerzaust durch Haarschedel? Sage bloß nicht, du wärest nie in Witzling gewesen. Könnte denn einer behaupten, er kennte Hundshaupten nicht? Nach Kauflanden begibt ein jeder sich gern, bei dem das Geld locker sitzt. Zahl gleich, bereue später! Aus Oberhitzling ist es nur ein Satz nach Unterhitzling. Fügst du einen hinzu, schon bist du in Reitzinghitzling. Ich bin mir nicht gescheit genug, sagen viele in Gschaid. Und kratzen sich den Kopf. Was sucht einer aus dem Hausruck in Hausrucking? Alles tummelt sich, rechtzeitig nach Dummeldorf zu kommen. Aber Geduld, die Dult kommt auch nach Schlüpfing! Gemächlich geht es in Schnecking zu, hier kennt der Trott keine Eile. Will in Ernstling das Fröhlichsein erzwungen sein? Wer sich nicht vorsieht, gerät in Ledering in ein real existierendes Rendering. Von Fälsching ist nicht viel zu halten. In Stolzing tragen sie die Nase hoch. Man rätselt, welch Unding in Hunding vor sich ging. In Salzing braucht im Winter nicht gestreut zu werden. Unterscherm hinter sich lassend, finden nicht wenige nach Oberscherm, so sie ihn nicht sowieso schon aufhaben. In Ehegarten verbirgt sich die Idylle hinter Einfriedungen aus Thujen-Palisaden. In Klebing läufst du Gefahr picken zu bleiben. In Wurmannsquick hat so manchen schon das Glück verlassen. Auch darum machen sich Touristen rar. Finde heraus, von wie weit weg kann man gesehen werden, wenn man in Wachlkofen wachelt! In Oberviehhausen kommt nicht allein dem Schlachtvieh das Grausen. In Schaufl pflegen Ortskundige Verirrten so den Weg zu weisen, dass die sich hinterher besser verlaufen. Passt du nicht auf, tauchst du unter den Umstehenden in Georgenschwimmbach wieder auf. Und ehe du dich versiehst, zieht es dich nach Ulrichschwimmbach. Wundere dich nicht, wenn man dich in Johannisschwimmbach um Klärung deiner Verhältnisse angeht. In Obersprechtrain red nicht keck drein und sage, du kämest geradewegs aus Untersprechtrain. Man wird es dir in Handwerk nicht nachtragen, dass du weitere Verpflichtungen einzugehen unterlässt. Sei in Oberschnittenkofen gewarnt vor Gerede, das aus Unterschnittenkofen dir vorauseilt. Spätestens in Großbettenrain wäre man gern mit sich allein. Allein, man hat die Entourage aus Kleinbettenrain am Rocksaum hangen. Ist das das Kreuz, das man als Wallfahrer zu tragen hat? Durch Kuttenkofen schleppt sich der Verein, durch Ruhsam, ebenso durch Dittenkofen. Was möchte man in Wegnagl nicht alles an denselben hängen? In Dellendorf, da legt man eine Rast ein. Und erwägt zu bleiben. Wanderin, kommst du nach Schimpfhausen: Lass es!

[Kartengrundlage: Marco Polo Regionalkarte Deutschland 13,
Bayern Süd, Auflage 2014, MairDuMont]

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 25068




Der Sturm beginnt

Eine junge Frau
angeleint an zwei weiße Hunde
scheint an meinem Fenster
vorbei zu segeln.
Die Hunde, die Leine, die Frau,
das ganze Ensemble
könnte gleich abheben
im Mary-Poppins-Stil.

Die aufwärts treibenden Blätter
sehen aus, als wollten sie
in den Himmel fallen.
Der Himmel hat anscheinend
den ganzen Staub
von der heißen Sommererde gesammelt,
der jetzt nach oben gewirbelt wird,
während dunkle Unschuldsflecken
rasend schnell
den Boden betupfen.

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 25048




Aus stillen Phasen

Draußen. Hinter frostverzierten Fenstern. Windpfeifen.
Ein alter Sommer schläft unter weißer [kalt atmender] Decke.
Tabak verglimmt [durch die Spekulationen] in einem
Pfeifenkörper.
Feuer verzehrt Kaminholz [Trockenerbstücke] vergangener Zeiten.
Rauchzeugungen.
Dann und Wann: Gelegentlich ein Vogel [Seltenheitsfundstück] im
Garten.
Er schenkt uns, in unregelmäßigen Momenten, kurze Interaktionen
und erinnert daran, dass das Leben auch mal seine stilleren Phasen
ersehnt.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 24201




wien

stadt inhaliert herbst. ausstoßen von morgendunst in den straßen.
wild jault sich die straßenbahn an den alten häusergesichtern vorbei.
tuschelnd ist der putz. grauweiß ist die haut.
nacht hatte zuvor regen im leib.
blätterhände, mit brennen im herzen, auf den wegen liegend. schlaf singend.
fliegende gespräche durch die gassen.
vogelstimmen in den kahlkronen. nicht mehr grün atmend.
spürbar: der puls ruft in mir nun wahrlich „wien“.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 24184

 

 




Herbst 2024

Der Sommer war mit einem Schlag zu Ende,
als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
Erst gestern tobten wir noch durchs Gelände –
heut ist’s der Sturm, der durch die Landschaft fegt.

Leer sind die Felder, Strände und Terrassen,
bedeckt seh’n wir einander ins Gesicht.
Soll’n wir wirklich jetzt schon von einander lassen?
Wir müssen weiter, wärmer wird es nicht.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 24176




Wetterscheide

Verworfen ist der Boden,
ein Gebirge hat sich aufgetürmt,
wo vorhin flaches Land war.

Schnee liegt dort,
wo die Bäume aufhören.
Die dünne Luft macht müde.

Hier ist es Schnee, der fällt,
unten ist es Regen.
Die Feldfrüchte wachsen.

Der Blick aus dem 10. Stock des Rothauer Hochhauses auf den Heiligengeistplatz im Schneefall

Der Blick aus dem 10. Stock des Rothauer Hochhauses auf den Heiligengeistplatz im Schneefall

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 24174




nachtwanderung.

in dieser nacht [oktober]. der mond sitzt unruhiger auf seinem stuhl.
der himmel behält sein wasser für sich.
es beginnt ein wandern über stadtdächer und kahlgelebte gassen.
einsam platziert ist das nachttier zwischen den schatten
und den leuchtenden laternenköpfen.
die wege [straßennah] legen sich, noch mit ihren tagspuren auf der haut,
in die nacht hinein.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 24172




Fluss

Der Regenwaldfluss.
Vögel, Libellen, Frösche, Krokodile
leben in ihm.
Die Eingeborenen befahren ihn
mit dem Einbaum.
Folge ihnen,
und du findest das Meer.

Die Verlängerung des Bodengemäldes mit dem Boot im Fluss in Villach am 7. Juni 2023

Die Verlängerung des Bodengemäldes mit dem Boot im Fluss in Villach am 7. Juni 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 24136